von István Rudas
Auf nach Amerika
Alsdann
Die Flucht
Mein Freund Patroklos
Korsika
Die Boxmatura
Bretonische Klippen
Abenteuer im Roten Meer
Ein Jahr wie jedes andere
Chief Tecumseh
Irische Splitter
De Administrationibus
Frohe Weihnachten
Schweißtreibend
Nachtfahrt
Diamantenfieber
Die Sache mit dem Fasan
Nachwort
Anfang der 50er Jahre — ich war etwa 4 oder 5 Jahre alt — war jener Teil Budapests, in dem meine Familie wohnte, ein kleines, unschuldiges Dorf; vielleicht vergleichbar dem heutigen 19. Wiener Gemeindebezirk, in dem einzeln stehende Häuser mit großen Gärten und sonst viel Grün das Bild beherrschten. Für uns Kinder ein Paradies, in dem man Räuber und Gendarm, Indianer und Cowboy oder Russki und Partisan nach Herzenslust spielen konnte. Wenn das der große Stählerne (Wissawjoronowitsch Dschugaschwili, alias Stalin) gewußt hätte! Aber der saß im Kreml, rauchte seine grauslichen Machorkas und keuchte mühsam seinem letzten Jahr entgegen...
Meine Altersgenossen waren damals noch zu meinem Ärger alle weiblich und zu nichts zu gebrauchen — später sollte sich das erfreulicherweise ändern, aber darüber vielleicht ein andermal... Jedenfalls blieb mir nichts anderes übrig, als mich den rund 2-4 Jahre älteren Kumpanen meines älteren Bruders János (1945 — 1977) anzuschließen. Vielleicht sollte ich die Bande einmal kurz vorstellen.
János, etwa 8, schwarzhaarig und bärenstark. Später sollte man ihn nicht zu Unrecht "den russischen Tank" nennen. Dann war da der gleichaltrige Árpád, Sohn des im Nachbarhaus wohnenden Richters, der mehrmals jährlich ins Ausland zu Kongressen fuhr — was im damaligen Ungarn nicht die Norm war — und uns Kindern Cowboyhüte, Chicklets (Kaugummi) und Comic Strips mitbrachte. Er war mit Abstand der meistgeliebte alte Mann unseres Grätzels. Árpád lebt heute als Rechtsanwalt in den USA. Zoltán war der ernste, schweigsame Senior unserer Bande und schaute recht häufig fingernagelkauend zu den Nachbarmädels hinüber; heute ist er ebenfalls Rechtsanwalt und mehrfacher Großvater, was ich — vermutlich völlig zu Unrecht — dem Fingernagelkauen zuschreibe. Die Brüder András und Gábor waren Cousins, Söhne eines verwegenen Kriegshelden und auf dem besten Weg, ebenso verwegene Helden zu werden. Sie leben heute ebenfalls in den USA, haben Kinder, Frauen und sonstige Meriten; der eine erwartungsgemäß als Feuerwehrhauptmann, der andere als Sportlehrer u.a. All diese Lebenslinien nachzuzeichnen ergäbe Stoff für ein weiteres Buch.
Tja, und dann war da noch der kleine István, ich, der spätere Meisterspion unserer Bande. Damals noch ein blondgelocktes Engerl und durchaus fähig, mich mit babyhaftem Augenaufschlag realpolitisch durchzusetzen. Anfänglich war es natürlich schwer, mit den Großen Schritt zu halten und sich unentbehrlich zu machen. Doch allmählich erkannte die Bande, daß so ein kleines Engelsgesicht manchmal durchaus zu gebrauchen ist. Wohlwollend gnädig ließen sie mich überall — oder fast überall — mitmachen, wenngleich diese Schule sehr hart war; das Engerl mußte sich manchmal schon recht ordentlich anstrengen, um Schritt zu halten. Erwartungsgemäß wurde das Engerl dadurch aber erst recht zäh und wiederstandsfähig.
Tja, das mit Stalin war vorhin nicht so zufällig dahingeplaudert. Wir kümmerten uns nämlich nicht nur um unseren eigenen Kram, nein, wir trieben uns manchmal um die Erwachsenen herum, versuchten jenen Dingen auf die Spur zu kommen, die sie so sehr beschäftigten (oder die sie so geheim wie nur möglich hielten — aber auch hier greift die Selbstzensur). Und da stand der wachsende Druck aus dem Osten, der Pesthauch des Stählernen, der Ungarn, ja vielleicht ganz Europa mit Haut und Haar zu verschlingen suchte, im Mittelpunkt ihrer Debatten — man war ja bourgeois, katholisch und westlich orientiert.
Natürlich weiß ich heute nicht mehr, wer auf die Idee gekommen ist; mit Sicherheit kann ich nur sagen, daß es nicht ich war, ehrlich! Wie es auch gewesen sein mag, immer häufiger spielten wir "Auswandern" oder "Abhauen", natürlich nach Amerika. Wir hatten keine Ahnung von der Realität, aber daß Árpáds Vater die besten Kaugummis und Comic-Hefte und natürlich die tollsten Cowboyhüte mitbrachte, war ein unschlagbares Argument für Amerika. Dort liefen ja bekanntlich alle mit diesen Hüten cool herum, kauten Chicklets und lasen Comics. Also liefen wir cool dreinblickend mit den Cowboyhüten aus Papiermaché herum, kauten Chicklets, bis sie zu einer knirschenden, grauen Masse verkamen und lasen Comics, wo man ebenfalls Chicklets kaute, cool mit Cowboyhüten rumlief undsoweiter. Wham, Bang und Zoing gelangten früher in meinen Sprachschatz als "ho mee dareis anthropos", "jus primae noctis" oder "a digital error has occurred and your computer has to be shut down immediately; Cancel (C) or Continue (C)?"
Vielleicht könnte ich Ihnen noch von zwei Dingen berichten, die damals ebenfalls Einzug in meinen Sprachschatz hielten: "Atlantik" und "Operencia", was ein wenig erläutert werden muß. Es hinterließ einen bleibenden Eindruck auf mich kleinen Stöpsel, als mein Vater einmal die Meinung vertrat, daß die russische Walze des Stählernen, so sie einmal in Marsch gesetzt worden sei, ja nicht in Ungarn haltmachen, sondern schnurstracks bis zum Atlantik durchrollen würde. Da ich wußte, daß Walzen zwar bergab, aber nie bergauf rollten, war mir klar, daß dieser ominöse Atlantik tief unter dem Horizont liegen mußte. — Und das Kinderlied "Túl az Operencián ..." (Hinter der Ober-Enns, hinter dem großen Meer ...) pfiffen manchmal auch die Erwachsenen, z.B. wenn sie über das Auswandern debattieren wollten und den anderen signalisierten, daß man sich im hinteren Zimmer träfe. Da war sich der kleine István sicher, daß die Operencia ein gewaltiges Meer sein mußte, das ein Auswanderer erst mühsam überwinden müsse. Natürlich haben die Etymologen unter Ihnen sofort erkannt, daß die Operencia nichts anderes als die Ober-Enns ist und "das Meer" der Neusiedlersee... Vage vermutete ich schon etwas, Atlantik oder Operencia oder Amerika. Wegen der Cowboyhüte und so.
Ich erfuhr es natürlich als Letzter. Genauer gesagt habe ich es nur meiner ausgesprochen mißtrauischen Aufmerksamkeit zu verdanken, daß ich nicht einfach sitzengelassen wurde, sitzengelassen im rückständigen, dem Stählernen preisgegebenen Ungarn. Die Großen benahmen sich beinahe wie natürlich, aber nur beinahe. Irgendwann fiel mir auf, daß Kultgegenstände wie Árpáds ultimatives Taschenmesser made in USA eines Tages nicht mehr an seinem Platz war. Dann verschwand Andy's Pilotenlederjacke, die sein Vater im Krieg getragen hatte. Als János mir eines Nachmittags seine Comics schenkte, väterlich-ernst die Hand auf die Schulter legte und mit belegter Stimme murmelte, ich müsse jetzt sehr tapfer sein und auf unsere Schwestern aufpassen, da fiel der Groschen.
Natürlich ließ ich mir nix anmerken, aber es war etwas im Busch. Die Großen taten sehr geheimnisvoll, ich wiederum verstand nicht, was sie eigentlich vorhatten — ich war ja erst 5, oder so — und fragen konnte ich ja auch nicht gut. Also beobachtete ich weiter und schwieg. Mein Opfer war Gábor, bester Freund und nur wenig älter als ich. Ich heftete mich an seine Fersen und ließ nicht locker. Wo immer er hinging, war ich sein Schatten. Die Großen merkten nichts, aber ihm wurde es langsam unheimlich, daß sich der Kleine — wir sprechen von mir! — wie eine Klette an ihn gehängt hatte.
Dann, eines Nachmittags, wurde er unruhig. Versuchte, mich abzuhängen; mich, den angehenden zukünftigen Meisterspion! Ich gab ihm einige Sekunden Vorsprung und heftete mich an seine Fersen. Gábor überwand die kleine Mauer des Nachbargrundstücks, kroch durch eine Hecke zum nächsten und schlüpfte heimlich durch den Keller des letzten Nachbarn. Drüben, auf dem noch freien Baugrundstück, atmete er auf, erschrak aber beinahe zu Tode, als ich im finsteren, modrigen Gang nur wenige Meter hinter ihm niesen mußte. Sein verzweifelter Blick samt Flüchen, die er zum Himmel sandte, bleibt mir als immerwährende Erinnerung.
Nun tauchten Andy, Árpád und János auf der anderen Seite des Baugrundes auf. Zoli saß offenbar schon lange auf einer stumm vor sich hinrostenden Baumaschine und sah uns ernst an. Die Großen blieben stehen und beratschlagten. Ich stellte mich neben Gábor und wartete ab. Wenn sie schon etwas Abenteuerliches unternahmen, dann nicht ohne mich: ich wollte mit! (Angeblich, sagt heute meine Familie, sei mir aus dieser Zeit nur noch das Trotzige vom trotzigen Engerl geblieben; — ob das wohl sein kann?).
Die Katze der Nachbarin fangen und im Keller einsperren. Das Moped des Hausmeisters klauen und herumfahren, bis er schreiend und fluchend hinter uns herlief. Mit dem großen Ankleidespiegel aus dem elterlichen Schlafzimmer das Sonnenlicht auf die Autofahrer lenken und sie blenden, bis dann einer stehen blieb und den Spiegel wütend zertrümmerte, was erhebliche Argumentationsakrobatik nach sich zog. Das war in etwa das, was ich erwartete. Aber nichts kam dem nahe, was mir die Großen nun — eher zögernd und wiederwillig — eröffneten.
"Wir wandern aus", sagte Zoli und Árpád ergänzte, als ob ich begriffsstutzig wäre: " ...wir reißen aus!".
"Wir gehen nach Amerika", sagten Andy und János, wie aus einem Mund.
"Aber du bist zu klein", sagte Gábor, mein bester Freund, "so kleine Kinder können wir leider nicht mitnehmen!". Eine jahrelange Freundschaft konnte in Sekundenbruchteilen zerbrechen, vor allem, weil ich nun wirklich und wahrhaftig zu heulen begann. Nein, nicht vor Trauer, sondern vor Wut. Was heißt denn hier schon klein?!
Gábor richtete sich langsam wieder auf, hielt sich den schmerzenden Magen und unterdrückte die Tränen nur mühsam, denn meine damals noch kindliche Faust hatte doch schon etwas von ihrer späteren Schlagkraft. "Also, wenn er unbedingt will ..." begann er keuchend, und János, mein Bruder, fiel als erster um. "Nun, man könnte vielleicht ..." begann er, doch Andy trat ihm gegen's Schienbein. Zoli erhob sich von seiner Rostschüssel und schlenderte davon. Wie immer in solchen Situationen hatte er als großer Staatsmann und Weltenlenker nichts mit Heulsusen oder Weichlingen am Hut; er war zu Höherem bestimmt.
János ergriff sofort die Initiative. "In Ordnung, kannst mit, kleiner Bruder!" sagte er und nahm mich bei der Hand. Als wir an Gábor, meinem ehemals besten Freund, vorbeigingen, murmelte ich "Puh, du Schweinsbacke!" und schüttelte siegreich stolz meine Locken. Dem hatte ich's aber gegeben, bei Zeus!
Unauffällig folgten wir Zoli, dem Ältesten, der als Einziger wußte, wie man von einer Budapester Gartensiedlung nach Amerika kommt. Wir gingen natürlich nicht die Straße entlang, wo denken Sie hin! Wir schlichen selbstverständlich durch die Gärten und Felder des Bezirks, auf altbewährten Piraten- und Räuberschleichwegen. Als wir durch Großvaters großen Garten schlichen, zupfte ich János am Hemd, ob wir nicht doch lieber zur Oma hinaufgingen, die hatte meist heißen Kakao und Kuchen oder Kekse vorrätig. Amerika wäre vermutlich auch ganz interessant, aber Omas Kekse waren es sicher wert, daß man von diesem Abenteuer zurücktrat. Obwohl ich fast unhörbar gewispert hatte, brummte Zoli unwillig, sie — die Großen — hätten einen großen heiligen Eid geschworen, gemeinsam zu gehen und zu gewinnen oder gemeinsam unterzugehen. Und sollte man — wer immer, das wußte ich natürlich nicht — also sollten sie uns fassen, dann würden wir schweigen, wie das Grab.
Ich nickte eingeschüchtert, und János bekräftigte an meiner Statt nochmals den Großen Heiligen Schwur, bis zum "Schweigen wie das Grab". Dann schlichen wir weiter. Keinem Menschen fiel auf, daß da "Piraten" oder "Räuber" oder "Cowboys" durch die Gärten schlichen — wir taten es ja beinahe täglich. So überwanden wir alle Hürden, gingen unauffällig und leise durch die Gärten und kamen dann zu bewohnteren Gebieten.
Zoli ging zielstrebig voran, bald schon querten wir die hohen Mauern des Krankenhauskomplexes, die bis dahin als natürliche Barriere das Ende der Welt darstellten. Geschickter, als es sich die Großen vorgestellt hatten, benutzte ich deren Räuberleiter und kam staunend hinter dem Rand der Welt an. Zoli ging hurtig voran, wir querten einige Straßen, dann standen wir vor dem Budapester Südbahnhof, den Sie vielleicht als Déli Pu. (déli pályaudvar) kennen. Wir trödelten eine ganze Weile herum, bis Zoli und Andi, die als Späher vorausgegangen waren, winkten. Dann überquerten wir die Hauptstraße, betraten mit pochendem Herzen den schönen, alten Bahnhof, dessen Metalldesign die Handschrift von Gustave Eiffel trägt.
Für die jüngere Generation sollte ich vielleicht ein bißchen Zeitkolorit einstreuen, da die Dinge heute anders gehandhabt werden. Heutzutage gehen wir ja in den Bahnhof, steigen in den richtigen Waggon und fahren einfach ab. Die Fahrkarte haben wir entweder schon per SMS auf dem Handy gespeichert oder — etwas altmodischer — als Computerausdruck dabei. Ganz Eilige steigen einfach so ein und zahlen dann beim Schaffner, mit Kreditkarte, versteht sich. Damals ging es noch etwas langsamer zu. Fahrkarten wurden von eigens angefertigten Druckmaschinen, die es nur auf größeren Bahnhöfen gab, hergestellt: der Schalterbeamte nahm ein kleines, etwa zündholzschachtelgroßes Stück hellbraunen Karton aus der Schublade (und sollten Sie auch nicht wissen, was eine Zündholzschachtel ist, dann gehen Sie einfach am nächsten Sonntag ins Tabakmuseum, anstatt vor dem Bildschirm zu knotzen, okay!?). Dann suchte der Schalterbeamte auf einer großen Wandtafel, wo in kleinen Schlitzen die metallenen Druckplättchennegative alphabetisch geordnet steckten, das Richtige heraus und legte es zusammen mit dem Karton in einen Schlitz der Maschine ein. Ein kurzer, nervöser Kontrollgriff, ein Druck auf einen Federmechanismus, und das Metallplättchen samt Karton wurde durch die Maschine geschossen, kam unten auf einem Ausgabetellerchen wieder heraus. Das Metallplättchen mit dem Negativvordruck wurde wieder versorgt, der Fahrgast bekam die bedruckte Fahrkarte, so er das Geld parat hatte.
Ich hätte damals noch stundenlang stehenbleiben und diesem Wunderwerk abendländischer Ingenieurskunst zusehen mögen, aber die Großen zog es weiter. Wir hatten erstens kein Geld, und zweitens gehört es ja zum richtigen "Ausreißen", daß man ohne Fahrkarte, also schwarz fährt. Klar. Jedenfalls, raunte ich János beim Weitergehen zu, würde ich eines Tages Schalterbeamter werden, und diese tolle Fahrkartenmaschine würde mein sein, für immer mein, Ehrenwort!
Natürlich sind Sie, wohlriechende Leserin, fingernagelkauender Leser, sicher auch schon einmal zu spät zum Bahnhof gekommen, sind auch schon keuchend durch die Halle gerast, hinaus auf den Bahnsteig und sind mit letzter Kraft auf den möglicherweise schon anfahrenden Zug aufgesprungen. So, wie dies heute bei den ferngesteuerten, automatisch schließenden Pneumatiktüren auch nicht mehr geht, so wären Sie seinerzeit nicht einmal durch die Halle gekommen.
Dort stehen nämlich Polizisten. Im Zweifelsfall "richtige", im Glücksfall Bahnhofspolizisten. Glücksfall deshalb, weil ich in späteren Jahren deren einfältige Wichtigtuerei öfters zu meinen Gunsten ausgenutzt habe. Aber seinerzeit, als wir Knirpse durch den Budapester Südbahnhof schlichen, wurden wir zum Zweifelsfall.
Es waren richtige.
Zwei.
Zoli, Árpád und Andy kamen problemlos vorbei, sie hasteten ja offensichtlich "ihren Eltern" nach. János, Gábor und ich hatten unzweifelhaft Pech, einfach nur Pech. Die Polizisten hatten die Aufgabe, aufzupassen, daß sich kein Gesindel ohne Fahrkarte in den Zug schwindelte oder gar Schafe oder Ziegen mitschleppten — wobei dann doch ernsthaft zu hinterfragen ist, wer sich denn in einer Weltstadt wie Budapest Schafe oder Ziegen hält, aber bitteschön, der Balkan war ja nicht weit weg, er beginnt bekanntlich gleich südlich von Budapest.
Der eine Polizist stierte mit Röntgenaugen durch den Asphalt des Bahnsteigs und versuchte durch leichtes Schwingen des noch vom gestrigen Saufgelage mitgenommenen Körpers der Erdrotation entgegenzuwirken, der andere blickte unwirsch nach links und mieselsüchtig nach rechts und dann wieder unwirsch nach links. Natürlich unwirsch, denn da kamen drei Knirpse, kaum älter als Acht, und wollten zu den Zügen. Das geht aber nicht; nicht, so lange ich hier Wache schieben muß, ´dammich!
Wie öfters im Leben spielten sich nun mehrere Dinge parallel ab. Erstens begann die Lok mächtig tierisch zu dampfen und zu stampfen, mit unendlicher Langsamkeit setzten sich die Waggons in Bewegung. Zoli, Árpád und Andy standen bereits auf dem Trittbrett und flüsterten erregt miteinander, weil der wachsame Polizist uns festhielt und auszufragen versuchte. Dann sprangen sie wieder ab und kamen näher. János und Gábor machten einen verzweifelten Ausfallschritt nach vorne und kamen am Schutzmann vorbei. Mein Ausfallschritt kam einen Wimpernschlag zu spät und dann auch noch um 50 Prozent zu kurz.
Er hatte mich am Wickel, der Schutzmann, der!
Der Zug fuhr langsam aus dem Bahnhof. Auf dem völlig leeren Perron zwei amtshandelnde Beamte und sechs ertappte Knirpse. Sicher hätten mich die giftigen Blicke meiner Bandenmitglieder sofort tot umfallen lassen, hätte ich nicht das Bewußtsein kindlicher Unschuld gehabt. Und dabei hatte ich einen so grooooßen Ausfallschritt gemacht!
Wenig später betraten wir die Wachstube. Während die bösen Buben richtigerweise zerknirscht auf der Armensünderbank saßen, hockte ich bald auf dem Schoß einer Sekretärin und mampfte Süßigkeiten. — Habe ich das mit dem blondgelockten Engerl eigentlich schon erwähnt?
Szenenwechsel.
Mutter rennt in Panik von Haus zu Haus und sucht nach uns. Bald schließen sich die anderen Mütter an; sowohl was Panik, Suche als auch das Rennen anlangt. Noch heute kann ich aus Mutters Bericht vollständige medizinische Befunde herauslesen, wobei "drohender Kreislaufkollaps" noch das Gelindeste ist. Nach einer schwer zu definierenden Zeit blickten sich die verzweifelten Damen an und beschlossen, die jeweiligen Väter telefonisch zu alarmieren. Insgesamt trat hier eine improvisierte, aber um nichts weniger effektive Logistik zu Tage, die ich später in ähnlichen Paniksituationen — als meine Kinder verlorengingen — ebenfalls zu entwickeln vermochte. Ich glaube, daß selbst die Nachricht vom Weltmeisterschaftstor des legendären Puskás nicht schneller in allen Wachstuben Budapests verbreitet wurde als die vom Verschwinden einer ganzen Handvoll prächtiger Stammhalter. Mit schmutzigweißen Cowboyhüten.
Natürlich kam die Meldung auch in "unsere" Wachstube. Die Polizisten befragten nochmals einen nach dem anderen, aber wir schüttelten nur stumm den Kopf. Der große Heilige Eid, Sie wissen schon, das mit dem "Schweigen bis zum Grab", und so.
János, der in den Augen der Gesetzeshüter am ehesten wie der Bandenführer aussah, mußte sich zum Schreibtisch des Obermuftis setzen und Rede und Antwort stehen. Lange antwortete er nicht, erst als der Allgewaltige schon infarktverdächtig rot anlief und unkontrolliert zu brüllen begann, murmelte er, daß er Lacika heiße (Lacika ist die Verkleinerungsform für Laci, den Ladislaus. Ein damals recht häufiger Vorname und vielleicht dem amerikanischen John oder Jim vergleichbar).
Natürlich schrie der Fragesteller, daß er János Rudas heißen müsse, aber János schüttelte stur den Kopf und behauptete, Lacika zu heißen. Und sonst sage er nichts.
Nach einiger Zeit gibt selbst der böseste Bulle auf, scheint mir, denn ermattet wischte er sich den Schweiß von der Stirn und rief meine Mutter an, daß die Kinder, also vermutlich, gnädige Frau, vermutlich nur, auf seinem Revier seien und sie bitte zwecks Identifizierung vorbeikommen solle. Sie rief natürlich Vater an und der fuhr eilends durch die halbe Stadt, um ebenfalls hierher zu kommen.
Die Sekretärin schob mir noch ein Keks in den Mund und fragte beiläufig, wie denn ihr kleines süßes Engelchen heiße.
"Pityuka" sagte ich mampfend und schenkte ihr meinen treuherzigsten Augenaufschlag — denn kein Mensch nannte mich tatsächlich Pityuka, eine lächerliche Verkleinerung der Verkleinerungsform, nur für echte Winzlinge. Nicht für angehende Meisterspione. Jetzt konnten meine großen Kumpels auch sehen, daß ich ebenfalls einen Falschnamen angeben, bis zum Grab schweigen konnte. Selbst wenn man mir die Zunge herausgerissen hätte, ich hätte tropfdem behauptet, ich heife Pipfuka.
"Ja, schön, und wie heißen Deine Eltern?" fragte sie, denn Sekretärinnen gehen es immer schlauer an als der Chef.
"Mutti und Vati" sagte ich wahrheitsgemäß, denn das Keks hatte ich hinuntergeschluckt und schielte erneut nach ihrem Vorrat. Natürlich hatte ich meinen eigenen Namen samt Adresse und Telefonnummer auswendig lernen müssen für den Fall, daß ich verloren ginge. Aber ich war ja nicht verlorengegangen, nicht?
"Aber sie werden doch wohl auch andere Namen haben?" lockte sie gurrend und köderte mit einem weiteren Keks. Es ist mir heute unglaublich peinlich, aber ich wußte es damals tatsächlich nicht.
"Anyuka und Apuka" sagte ich und hoffe, Sie erkennen darin mein Mammilein und Pappilein. Die gute Frau fuchtelte mit einem weiteren Keks und fragte, wo sie denn wohnten. Ich schwieg und blickte auf den Köder. Als ich ihn endlich bekam, sagte ich denkrichtig, daß wir "daheim" wohnten. Alle Kinder wohnen daheim, ergänzte ich schulmeisternd, nur die Ilona nicht, die wohnt bei ihrer Oma, weil die Eltern Krach haben.
"Und, hast du keinen weiteren Namen, als nur Pityuka?" fragte sie, einen letzten, verzweifelten Anlauf nehmend. Triumphierend kassierte ich ihren letzten Keks, dann sagte ich mit vollem Mund, errötend: "Doch: mein Engelchen!"
Was soll ich sagen, die Zeit wurde knapp, um ihre weiteren Bestände aufzumampfen, denn nun stürmte Mutter samt Nachbarin herein, umarmte mich herzzerreißend weinend und wandte sich zu János. Der blickte finster drein und sah stur geradeaus.
"Aber Jánoska, kennst du mich denn nicht?" fragte sie bleich und sah verzweifelt in die Runde, wie jede Mutter verzweifelt blicken würde, deren Sohn entweder amnäsisch oder deppert geworden war. Der Polizist blickte wieder sehr finster, dann endlich gab János zu, daß er Lacika heiße und diese Frau nicht kenne. Überhaupt nicht. Dann sah János wieder stur auf den Fensterrahmen und dachte vermutlich an die 150 Krieger des Häuptlings Sitting Bull, die den selbstgewählten Schutzherrn unserer Bande tapfer bis in den Tod begleitet hatten.
Mutters Weinen half nichts. Die Auswanderungswilligen hatten Schweigen gelobt und hielten sich an ihren Eid. Der Jüngste hatte zwar keinen Eid geschworen, probierte sich aber mit kleinkindlichen Schmähs über die Zeit zu schwindeln. Die Nachbarin versuchte Árpád anzusprechen, immerhin war er ihr Sohn, aber er blickte durch sie hindurch und schüttelte energisch verneinend den Kopf, als sie frech behauptete, seine Mutter zu sein.
Selbst als Vater kam, bekamen die Kerle die Kiefer nicht auseinander. Stumm und verstockt saßen sie da und schwiegen beharrlich. Mein Vater hatte nicht nur einen klugen Kopf, er wußte ihn auch zu nutzen und hatte schnell von daheim noch eine Mappe voller Familienfotos mitgebracht. Es wurde dann fast richtig peinlich, als der eine und andere Polizist in die Jackentasche griff und nun seinerseits Bilder von Gattin, Kindern und Hund herzeigte — kulturbedingter Reflex, wenn einer seine Fotos herzeigt.
So löste sich alles in eitel Wonne und Wohlgefallen auf. Oder vielleicht nicht ganz, denn der getreue János kassierte noch eine fürchterliche Donnerwatschen und mußte ohne Abendessen zu Bett gehen, und das kam so:
Wir standen schon alle vor der Tür der Wachstube, als mein Vater sich nochmals umwandte und János streng aufforderte, er solle jetzt sofort seinen Namen sagen. János drehte sich um, blickte ernst in die Runde der Uniformierten und sagte:
"Lacika!"
Gelegentlich leiste ich mir ein bißchen Nostalgie, Romantik und Emotionen. So auch bei diesem Text, der auf den ersten Blick nicht viel mit den anderen Texten gemein hat.
Und trotzdem. Er war der erste bewußt inszenierte Text, den ich mit der Absicht, ihn einmal zu veröffentlichen, schrieb. Seither habe ich ihn natürlich überall veröffentlicht, wo es nur irgendwie ging. Manchmal auch zur Verzweiflung meiner Leserschaft, die sich sinnierend fragte, was denn das jetzt hier soll?! — Am schlimmsten erwischte es natürlich die Leser der "Euro Agrar", die mein Geschreibsel zwischen Maul- und Klauenseuche vorfanden. Die Redaktion war jedoch meinem Argument, der 30. Todestag des großen Künstlers stünde bevor, gefolgt.
Rückblickend nach rund 15 Jahren erkenne ich trotzdem einige Elemente, die so typisch für meine Art, zu Schreiben, sind: ein bißchen Erotik, aber nur in winzigen Andeutungen. Ein zerknautschter und doch liebenswürdiger Held. Ein Ereignis, das natürlich nur subjektiv betrachtet ein Ereignis ist. Willkürliche Namenswahl, kleine Sprachspielereien und eine wahre Kerngeschichte, umwoben von einer kargen Verpackung. Ein Hauch von Skurrilität. Und dazwischen blitzt ein wenig Humor auf.
Nicht zu auffällig, aber doch.
Argumentationsnot hatte ich allerdings, als mich ein wenig humorvoller Leser fragte, wer eigentlich der "Hollinger" sei und der zudem den ursprünglichen Untertitel "Nachruf auf K.F." harsch kritisierte — da war guter Rat gefragt, aber zu teuer. Ich konnte den Text ja nicht gut mit "Als ich K.F. das einzige Mal in meinem Leben traf" betiteln — ja, ich hatte ihn nur dieses eine Mal getroffen und war tief betroffen, als er wenige Monate später verstarb. Vielleicht kommt das der Wahrheit am nächsten: mein einziger Dialog mit dem Meister erscheint mir heute noch berichtenswert.
Begegnung mit Karl Farkas (* 28. 10. 1893 Wien, 16. 5. 1971)
"Sie saan a Depp, Hollinger," knurrt mein ergrauter Deutschprofessor, und seine Mischung aus Hochdeutsch und Dialekt steigt auf besorgniserregende 63:36, "der Karl Farkas ist doch schon eine ganze Weile tot, und ein eventueller runder Todestag ist weit und breit nicht in Sicht!"
An jener Stelle, wo heute erstklassiges italienisches Eis gereicht wird, stand früher das LUGECK, ein vornehmes und wohlfeiles Restaurant, das damals schon seine besten Tage hinter sich hatte. Dort speiste ich eines Abends samt Braut und Schwiegereltern in spe, die mit fliegenden Rockschößen aus der weitest entfernten Landeshauptstadt nach Wien geeilt waren, um nach dem Rechten zu sehen, nachdem die Lehrerin, bei der meine Braut Angelika, die ein wenig in sie verliebt war und ihr im Maturajahr nachgereist war, da jene nach Wien strafversetzt wurde, weil sie junge Mädchen liebte, was damals noch völlig unmöglich war in einer Provinzhauptstadt, anfänglich wohnte, den Eltern besorgt mitteilte, daß sie deren Tochter, weil sie einen M.a.n.n! bei sich nächtigen ließ und sie ihrerseits sich nun gezwungen sähe, unter Hinweis auf den Kuppeleiparagraphen delogieren mußte, so daß das arme Kind nun völlig schutzlos bei diesem fremden M.a.n.n!, der besagter Tochter wie ein verliebter Gockel nachgereist sei und zudem noch ein aus der Provinz stammender Gelegenheitsarbeiter ohne langfristige Perspektiven sei, wohne.
"Zur Sache, Hollinger, zu Sache!" murrt unwirsch mein ergrauter Deutschprofessor in reinstem Hochdeutsch, "und keine derart gewagten Satzkonstruktionen, bitte!" Er schüttelt müde den Kopf: "13 Kommas, 2 Rufzeichen, sieben Punkte!"
Das LUGECK war also der richtige Ausklang für dieses naßkalte Novemberwochenende, an dem nach dem Rechten gesehen wurde, wenngleich wir im Kellergewölbe die einzigen Gäste waren und die schleppende Bedienung durch den näselnden Kellner nur mäßig das mondäne Hauptstadtflair vermitteln konnte. Doch das junge Glück mit elterlichem Segen brauchte weder fröhliche Bedienung noch lustig schwatzende Gesellschaft, war sich selbst genug. Der später eintreffende einzige andere Gast setzte sich an den weitest entfernten Tisch und begann sofort, die wort- und grußlos servierte Leberknödelsuppe stumm in sich hineinzulöffeln.
Wir wechselten augenbrauendeutend Blicke untereinander aus und wisperten: "Ist das nicht der, na, wie heißt er gleich, der Karl Farkas?" "Aber nein, ja doch, glaubt mir, ich erkenne ihn!" Immer wieder huschten verstohlene Blicke zum Meister, während wir unser Mahl einnahmen und uns leise unterhielten, bis der Schwiegervater nach dem Dessert hin- und herdruckste und herausrückte, "es wäre schon toll, ein Autogramm von IHM zu haben!" Die Wirkung seines Wunsches auf den Gelegenheitsarbeiter ohne langfristige Perspektiven war elektrisierend. "Ich mach's!" "Nein, das war nur so dahingesagt," bremst der Schwiegervater halbherzig, vergebens. Ich bin schon halb aus dem Sessel, die Schwiegermutter zischelt mir nach: "Däs chaascht doch näd dua!?", was Alemannischkundige leicht mit "Das kannst du doch nicht machen!" übersetzen können. Aber ich bin schon unterwegs, überquere den Saal mit weichen Knien und flauem Magen. Hunderte Tische und Stühle, die mir vorher noch gar nicht aufgefallen waren und mir den Weg verstellen, füllen die Weite des Saales, und ich mittendrin, in gelenkigem Slalom, auf den Meister zu.
Steinern blickt er mich an, als ich endlich vor ihm stehe. Ich höre, wie jemand, der offensichtlich entweder Kehlkopfkrebs oder Stimmbruch hat, fragt: "Könnte ich bitte ein Autogramm für meinen Schwiegervater in spe haben, Herr Farkas?". Lange blickt er mich an, stumm und ausdruckslos. Das vor Furcht gelähmte Räderwerk in meinem Kopf beginnt sich langsam wieder knirschend in Gang zu setzen, ich folge seinem Blick und überzuckere nach Ewigkeiten, daß ich nichts zum Schreiben mitgebracht habe. "Einen Moment bitte, Herr Farkas!" Hektischer Slalom zurück zu unserem Tisch, "Habt's was zum Schreiben?" und hilfesuchender Blick in die Runde. Der Schwiegervater kramt in seinen Taschen, eine noch nicht geschriebene Ansichtskarte muß herhalten. Slalom zurück, die Stühle beiseite schiebend, auf halbem Weg drehe ich um, "und was zum Schreiben!" und dann mit Kugelschreiber bewaffnet zurück zu Herrn Farkas. An den nachstehenden Dialog werde ich mich noch mein ganzes Leben lang erinnern:
"Für?"
Sein prüfender Blick erinnert eher an einen Habicht als an einen Wolf. Farkas bedeutet eigentlich auf Ungarisch Wolf.
"Für Hans."
Der Meister wendet die Ansichtskarte um, betrachtet ausdruckslos den Lipizzaner, das Riesenrad und die Oper. Der Kugelschreiber kratzt tief, als er das schwungvolle Unleserliche hinkritzelt. Ich mutmaße, "Für Hans, K.F." Fasziniert sehe ich, daß er beim Schreiben nur auf seine riesige Nase schaut und nicht auf das zu Schreibende.
"Woher?"
"Bregenz, Herr Farkas."
"Lang da?"
"Drei Monate."
Pause. Er wendet die Ansichtskarte erneut, blickt vom Rathaus auf's Obere Belvedere und Schönbrunn.
"Gefällt's?"
Verlegen wechsle ich von einem Bein aufs andere. "Es war die Letzte, die sie noch hatten, Herr Farkas, und die mit der Kaiserin Elisab..."
"Gefällt's Euch in Wien?" unterbricht er mich.
"Ja, sehr gut, Herr Farkas." Ich bin perplex, das war der erste komplette deutsche Satz. Langes Schweigen.
"Simpel?"
Ich bin verletzt und blicke ihn trotzig an; ich mag ja vom Lande sein, und Doktor bin ich auch noch nicht, aber beleidigen lassen muß ich mich nicht, nicht mal vom Herrn Farkas.
"Wart's schon im Simpl?" wiederholt er seine Frage etwas ungeduldig.
Fieberhaft durchstöbere ich mein Hirnkastl, suche verzweifelt nach dem Stichwort für "Simpl". Was zum Henker meint er bloß? Ach ja, da ist was: "...eine Aufzeichnung aus dem Kabarett SIMPL. Mit Karl Farkas und Ernst Waldbrunn."
"Leider nein, Herr Farkas, die Schwiegereltern waren nur fürs Wochenende da." Eisiges Schweigen. Langes Schweigen. Von einem Bein aufs andere. "Meine Braut und ich, wir können uns das Ausgehen nicht leisten" murmelt der Gelegenheitsarbeiter ohne langfristige Perspektiven verlegen und blickt starr auf das Tischtuch. Pause, sehr lange Pause, ich warte ab.
"Alsdann."
Fieberhaft überlege ich, was das nun wieder heißen könnte. Ich schaue noch lange fragend, während sich der Meister ohne jegliche Gemütsregung wieder seiner Leberknödelsuppe zuwendet und sie — mich gänzlich ignorierend — weiterschlürft.
Alsdann. Ach so, ich verstehe. Er kann jetzt gehen.
"Auf Wiedersehen, und vielen Dank, Herr Farkas".
Er blickt nicht einmal auf, als ich mich umdrehe und hastig zu unserem Tisch zurückkehre. "Was hat er gesagt, was hat er gesagt?" fragen die Meinen durcheinander. Ich zittere vor Erleichterung, das nasse Hemd klebt kalt an meinem Rücken. "Nichts," sage ich, "er hat nur gefragt, wie es uns in Wien gefällt und ob wir schon mal im SIMPL waren." Meine Braut strahlt mich an, ihren Helden.
"Sie saan a Depp, Hollinger," knurrt mein ergrauter Deutschlehrer grimmig, und das Verhältnis in seinem Gemisch aus Hochdeutsch und Dialekt verschiebt sich auf milde 61:38, "seit der Matura vor dreißig Jahren brauchen'S mich nicht mal mehr zu kennen oder gar zu grüßen, und da kommen'S mit Ihrem Geschreibsel zu mir, damit ich's korrigier`!" Er schüttelt den Kopf und murmelt etwas vom Untergang des Abendlandes. "Ein Nachruf auf den Karl Farkas, na sowas! Der Hollinger! — Na, dann geben'S schon her, den Wisch!"
Meine Kinder haben mich immer wieder gedrängt, doch noch einmal die tolle Geschichte unserer Flucht (aus Ungarn, 1956) zu erzählen. Das Vorlesen war mir ja nie leicht gefallen, "und wieder kuckt kein Schwein" oder "Das Sprachbastelbuch" kannten sie schon auswendig, ganz zu schweigen von "Nachts sind alle Raben bunt"; so verfiel ich immer öfter der Verlockung, Geschichten (oder besser: Gschichtln) aus meinem Leben zu erzählen. Und da mußte immer wieder die Flucht aufs Neue erzählt werden, Ehrensache! Es kam natürlich, wie es kommen mußte. Anstatt einzuschlafen, setzt sich das Kind empört in seinem Bettchen auf und reklamiert, daß das letzte Mal das "..." aber ganz, ganz anders gewesen sei! Und warum jetzt keine bösen Polizisten mehr dabei seien?! Auch fehle die Stelle mit der Rakete...
Die ertappte väterliche Ignoranz bekommt rote Ohren, sucht nach Worten, Ausreden und rudert heftig mit den Armen. Kind, das verstehst du noch nicht, aber wir Älteren sind halt manchmal vergeßlich. Also gut, ich erzähle das mit dem "..." nochmals, versuche mich an Details wieder zu erinnern, [was - in drei Teufels Namen - habe ich das letzte Mal an dieser Stelle erzählt?!], das Kind nickt und lutscht weiter brav am Daumen, horcht genau zu und schüttelt energisch den Kopf, wenn das mit der Polizeikommissarin wieder an der falschen Stelle kommt. Stumm bewegen sich die kleinen Lippen und sprechen den Text lautlos mit, die kleinen Äuglein wollen schon längst zufallen, aber das Mißtrauen gegenüber der väterlichen Erzählkunst hält das arme Wurm wach . . .
Die Mutter steckt den Kopf vorsichtig zur Tür herein und mault unwirsch, daß das Kind sooo bitteschön sicher nicht einschlafen werde . . .
Aber das kennen Sie ja alle.
Vor einigen Jahren (1996, zum vierzigjährigen Jubiläum) beschloß ich, die Geschichte der Flucht ein für alle Mal aufzuschreiben und sie meinen Kindern zu Weihnachten zu schenken. Vielleicht (und ich sage vielleicht, weil ich - siehe oben - doch schon etwas vergeßlich bin) vielleicht also ging mir damals schon diese doofe Weihnachtsgeschenk - Einkauferei auf den Geist, vielleicht war ich von dem Ramsch und Gedudel in der Einkaufs-Straße schon damals abgestoßen und suchte nach Etwas, was von mir stammte und meinen Kindern vielleicht Freude machen konnte.
Vielleicht aber war es auch so, daß sich meine Kinder einmal über die "väterlichen" Geschichten unterhielten und dabei feststellten, daß das eine oder andere Detail nicht so ganz (bewußt sage ich: nicht so ganz) übereinstimmte. Ein Kind ist ja nicht wie das andere, also muß man seine Erfindungen anpassen, wäre meine Ausrede, wenn ich eine bräuchte. Jedenfalls, eines Tages konfrontierten mich die Kinder mit den "nicht so ganz" übereinstimmenden Details. (Jetzt kommt wieder das mit den roten Ohren . . .).
Sei es, wie ihm sei: ich setzte mich vor den PC und dachte nach. Konnte ich so trivial beginnen, wie "Eines Tages beschloß ich, zu fliehen..."? Nein, und abermals nein. Ich schreibe nicht so. Eher mußte ich die Geschichte (und die peinlichen kleinen Unterschiede) von mehreren Leuten erzählen lassen, DIE FLUCHT also als RASHOMON-Verschnitt anlegen. Ja, klar doch, die Beteiligten erzählten jeweils ein Stück ihrer subjektiven Wahrheit, bewußt nur ein Stück, und der Leser/das Kind/ muß die Teile selbst zusammensetzen.
Die Idee gefiel mir, also ließ ich Tante Elli (die Elisabeth heißt und von meinem Vater Elly gerufen wird) die ganze Sache erzählen - bewußt ist Elli bei mir nicht so hysterisch dargestellt, wie sie mein Vater erlebt haben mag, aber so war sie halt für mich. Dann ließ ich den einen und andern Soldaten, mit dem wir in Berührung kamen, zu Wort kommen - hier ist natürlich alles reine Erfindung, aber basierend auf dem, woran ich mich erinnern konnte. Was wird im Kopf eines solchen Typen vorgegangen sein, als er mit einer Flüchtlingsgruppe von 4 Erwachsenen und 8 Kindern konfrontiert war?
Da ich schon so schön am Schreiben war, verfaßte ich natürlich gleich auch eine fingierte Korrespondenz zwischen dem ungarischen und russischen Befehlshaber, ich frage Sie, warum denn auch nicht?!
Unser Verhalten gegenüber und unsere Einschätzung des russischen Soldaten, der vermutlich aus der Mongolei stammte, erschien mir im Nachhinein überheblich und präpotent. Also flugs einige Zeilen hingeschrieben: der Mongole schreibt über uns und fragt sich, warum wir ihn als Hinterwäldler einstufen: "... oder glaubt ihr Affen etwa, ich kann einen Geigenkasten nicht von einer Monstranz unterscheiden?!"
Onkel Ákos durfte ebenfalls "mitschreiben", er ist identisch mit jenem Feri, dessen Sohn Feri damals Vaters bester Freund war und der mit uns floh. Daß ich ihn Ákos getauft habe, liegt wohl daran, daß ich Feri für eine grausliche Teutonisierung halte und mir der eher seltene und alte Name Ákos (damals) gefiel. - Danach ließ ich den letzten Teil (die Verwechslung der Fläschchen) von meiner Schwester Juli erzählen; es gefiel mir einfach, sie ein wenig gegen die Erwachsenenwelt rotzen zu lassen - auch das war damals wahr.
Eine kleine Schwierigkeit ließ sich nicht immer und dauerhaft überwinden: die sprachliche Eigenart im Ungarischen, Vornamen in unterschiedlichen "Koseformen" zu verwenden. Wenn also von Bandi und Endre die Rede ist, dann ist es derselbe (wie Sie nun wissen), die beiden können also keinesfalls miteinander Tennis spielen. - Manche dieser Namen sind bereits sehr alt, oft lassen sich Herkunft und Zusammenhang nicht mehr klären (warum István zu Pityu werden kann, beispielsweise). - Lassen Sie mich einige Beispiele nennen:
leichter fallen einem Formen, wie sie fast überall bekannt sind:
Mein Werk hatte ich unter Bezugnahme auf das letzte Kapitel DAS BLAUE BAND getauft, vierfach mit unterschiedlichem Vor- und Nachwort für meine Kinder ausgedruckt und eigenhändig in Karton gebunden. (Nota bene, das Bedrucken der Kartons mit dem PC war ein eigenes Abenteuer und begründete eine langjährige Freundschaft mit einem Amerikaner namens Bill Gates, so heißt er, glaube ich). - Das dünne Bändchen verlor sich unter den anderen Geschenken, die unter dem Christbaum lagen; einige Tage vergingen, bis die Kinder es lasen. Voller Ungeduld wartete ich, ob es ihnen gefiele (denn jeder Autor brennt eigentlich darauf, ob es dem Leser gefallen hat), und ob sie wohl merkten, daß da schon wieder etwas "nicht so ganz" stimmte? Aber sie waren wohl schon zu erwachsen und feinfühlig; kein Piep, keine Reklamation. - Meine Geschwister lasen es später auch, lachten herzlich und fanden, ich sei ein richtiger Geschichtenerzähler geworden. Nein, man könne nicht behaupten, daß etwas daran unwahr wäre, aber schön herausgeputzt sei das Ganze halt, nichtwahr?
Mein Vater setzte sich hin und schrieb seine eigene Version.
Täuschte ich mich, oder murmelte er etwas von "geschmäcklerisch - unernst" vor sich hin, bevor er zu schreiben begann? - Wie dem auch sei, schließlich und endlich darf auch bei RUSHOMON der Weise das letzte Wort haben, darf der Zuschauer das Ganze auch erst dann verstehen, nachdem alle ihre Wahrheiten (und nichts als die reine Wahrheit) erzählt haben.
Neben den vielen wahren Teilen muß es auch so etwas wie eine ganze Wahrheit geben.
PS.: eine frühe und sehr tränenreiche Version der FLUCHT erhielt 1967 den 1. Preis des österreichischen Schülerwettbewerbs und wurde zum 50jährigen Jubiläum des Lions-Clubs vom Salzburger Lions-Club in der Zentrale in New York eingereicht.
(Die zweite Nacht, erzählt von Tante Elisabeth)
Nicht, daß ich eine sonderlich ängstliche Person wäre. Aber wenn ich jetzt noch daran denke, dann zittern mir die Knie, und ich weiß, daß es nicht nur zum Schmunzeln, sondern auch zum Fürchten ist. Jedenfalls, es ist jetzt doch schon vierzig Jahre her, und ich werde versuchen, die Dinge der Reihe nach zu erzählen. Also, in Österreich angekommen sind wir am 8. Dezember 1956, und der erste Ort, den wir betraten, war Deutschkreutz im Burgenland. Am 7. Dezember wurden wir vormittags von den Grenzern geschnappt, das heißt also, daß wir am Morgen des 6. Dezember Budapest verließen. Wir, das sind mein Mann Feri, unsere drei Kinder im Alter von 8 und 5 Jahren, unser wenige Monate altes Baby und ich, die Tante Erzsi, auf Deutsch Elisabeth. Ja, und da war noch Feri´s Arbeitskollege Endre (auch Bandi gerufen), seine Frau Maria und ihre 5 Kinder János, Juli, István, Johanna und der knapp anderthalb Jahre alte Tomi.
Nachdem wir am 5. Dezember mit Endre beraten haben, was es mit seiner Haftandrohung am 4. Dezember auf sich hatte, kamen wir zu dem Entschluß: jetzt oder nie. Auch Feri war gefährdet, und wir Frauen hatten nicht nur um sie, sondern vor allem um die Zukunft unserer Kinder Angst. Wir bereiteten alles vor, trainierten mit den größeren Kindern das Marschieren in Kolonne, das Befolgen der Kommandos der Männer, "Sprung — vorwärts - Deckung!" werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen.
Natürlich erzählten wir den Kindern eine Räuberpistole: daß wir zur Tante Anni nach Sopron, dem früher österreichischen Ödenburg, führen, weil sie wieder einmal eine Sau schlachten würde und wir endlich wieder Fleisch, richtiges Fleisch, bekämen. Und das mit den militärischen Vorbereitungen tarnten wir, indem wir von der augenblicklichen Lage und den auf der Strecke lauernden Gefahren erzählten. Die Kinder waren sehr gelehrig; stellten sich die Mädchen anfangs noch etwas dämlich an, so wurden sie bald vom Ehrgeiz, es den Burschen gleichzutun, angefeuert.
Die Männer übernahmen es, die Urkunden, Geld und andere wichtige Familiengüter zu handlichen Gepäckstücken zusammenzustellen. Wir Frauen mußten uns zunächst um die älteren Kinder und deren Ausrüstung kümmern, danach aber um uns selbst und die Babies. Ach, ich will jetzt gar nicht aufzählen, was das im Einzelnen bedeutete - auf jeden Fall war es im Vergleich dazu ein Klacks, eine Himalaya-Expedition auszustatten! Die Männer hatten aber nicht das bessere Los gezogen, denn während sie das Wenige packten, hatten sie viel mehr Zeit als wir Frauen, sich vor dem Unternehmen und seinen Konsequenzen zu fürchten und sich die Richtigkeit der Entscheidung tausendmal wieder und wieder zu überlegen...
Noch heute weiß ich, wie ich mit Feri und Endre besprach, was wir an Bestechungsgeldern in kleinen handlichen Bündeln (und jedes Einzelne war "wirklich, unser allerletztes Geld!") dabeihaben würden. Feri kam auf die blendende Idee, auch ein Fläschchen Schnaps mitzunehmen, damit wir die geglückte Flucht sofort hochleben lassen konnten. Er hätte zwar lieber Cognac oder sonstwas Edles mitgenommen, doch war in diesen schweren Zeiten nichts derartiges aufzutreiben; es war auch so schon ein hartes Stück Arbeit, an diesen billigen Fusel zu kommen. Ich nahm außerdem noch ein weiteres Fläschchen Schnaps mit, nur so, für alle Fälle, vielleicht ging unser Bestechungsgeld aus, und wir mußten vielleicht einen Grenzer mit einem guten Tropfen milde stimmen. Damit sich dieses von den Fläschchen mit dem Babytee unterschied, nahm ich ein blaues Bändchen und band es um den Flaschenhals: Juli, die Übereifrige, nestelte die ganze Zeit daran herum und maulte, daß das Mäschchen nicht hübsch genug aussähe, aber ich scheuchte sie weg, denn mir war im Augenblick nicht nach Spielchen zumute...
Am nächsten Morgen ging´s los, die Bahnfahrt dauerte eine ganze Ewigkeit; der Zug hielt immer wieder an, Revolutionsgardisten, Reguläre und Rotarmisten kontrollierten abwechselnd Fahrgäste, Gepäck und präsumptive Beute. Ich wurde jedesmal leicht hysterisch, wenn so eine Soldatenpranke mein Baby streichelte; erlöst atmete ich auf, wenn der Kerl wieder verschwand, und es war mir beinahe gleichgültig, wenn so manch dreiste Hand wie ganz zufällig meinen Körper streifte - was soll´s, Hauptsache, diese verlotterten Kerle ließen meine Kinder in Ruh´.
Wir kamen in Sopron an, bereiteten alles vor und gingen früh zu Bett. Die Führer, Freunde von Endre, weckten uns lange vor Sonnenaufgang, und mit einem uralten Lieferwagen ging es zur Grenze. Dort warteten unsere Führer mit uns bis zum Morgengrauen, beschrieben nochmals den Weg und huschten zurück ins Unterholz. Wir "12 Apostel" marschierten den Schienen entlang bis zu der Stelle, wo sie sich nach Süden und Westen teilten; hier hatten wir uns programmgemäß zu "verirren" und den Schienen nach Westen zu folgen. Während die beiden Männer versuchten, sich über die Himmelsrichtungen einig zu werden (bei dem Nebel, ohne Sonne und Kompaß war das sicher nicht einfach), sahen wir einen ungarischen Grenzer auf uns zukommen.
Wir erschraken zunächst, doch er sah friedlich aus, und als er bei uns anlangte, wollte er eigentlich nur seine Einsamkeit vertreiben und mit uns plaudern, eine Zigarette rauchen und wissen, wie die Kinder hießen usw. Alles in allem war es eine recht friedliche Situation, und als er die Unruhe bei uns Erwachsenen bemerkte, sagte er: "Jaja, ich weiß schon! Also, ich habe Euch nicht gesehen, ich geh´ jetzt mal ein Stückchen weiter, und nun seht zu, daß Ihr weiterkommt!" brummelte er freundlich und wandte sich zum Gehen.
Hätte das höhere Wesen, das manche von Euch verehren, vorgehabt, die Grenzen für Fluchtzwecke zu erschaffen, er hätte dort wahrscheinlich warme Wartesäle, gut beschilderte Wege "Hier geht´s nach Österreich!" und "In die Freiheit, bitte links halten", quietschende Rolltreppen und gelangweilte Beamte geschaffen.
Aber seine Großherrlichkeit weilte bekanntermaßen zu jener Zeit im Heiligen Land, um die Suezkrise von einer Wolkenbank aus live mitzuverfolgen, so daß wir mit unserem Schicksal allein fertigwerden mußten. Ja, natürlich glaubte ich damals noch an Schutzengel, aber die haben ja, als wir an der Schienenverzweigung angekommen waren, nur kurz mit den Flügerln geschlagen und fast unhörbar "wir fliegen schon mal vor" gewispert - und dann waren wir wirklich alleine.
So ganz alleine nun doch wieder nicht. Der Fuß des freundlichen Grenzers stockte. Eine kleine Gruppe verfroren und hungrig aussehender Rotarmisten kam uns entgegen. Unser Grenzer riß im Umdrehen seine Knarre von der Schulter und schrie uns an: "Halt! Stojeto! Gesindel! Sofort stehenbleiben!" und flüsterte zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor: "Tut mir leid, Leute, aber ich kenne die Brüder dort, und mit denen kann man nicht spaßen. Versteht mich, aber ich muß auch an mich denken, die werden Euch schon nichts tun, laßt Euch eine gute Ausrede einfallen, dann schicken sie Euch wieder nach Hause..."
Die Russkis nahmen uns mit, wir fuhren auf einem offenen LKW in die Kommandatura. Dort mußten wir den ganzen Tag von Verhör zu Verhör, aber das hatten wir schon im voraus geübt, und sie bekamen von uns nur die stur wiederholte Geschichte vom Sonntagsausflug und der Verirrung zu hören. Irgendwann hat aber auch so ein Kommandante Feierabend, und mißmutig warf er uns hinaus, drohte, wenn er uns noch mal erwischen würde, dann...; und wir huschten, so schnell uns unsere Füße trugen, erleichtert wieder in Tante Anni´s Haus und leckten unsere Wunden.
Unsere Führer, Vater und Sohn, kannten sich in ihrer Gegend bestens aus. Sie brüteten stundenlang mit Feri und Endre über den Generalstabskarten, dann hatten sie eine Route gefunden und die Männer prägten sie sich ein. Noch spät nachts brachen wir auf, die Führer brachten uns bis zum Todesstreifen, suchten die Wegzeichen für uns und deuteten dann flüsternd unseren Männern, wie es weiterginge. Dann umarmten sie uns nochmals, lehnten entschieden jegliche Entlohnung ab und verschwanden geräuschlos in der stockdunklen Nacht.
Bandi (so wurde Endre manchmal gerufen) ging voraus, auf seinen Schultern ruhte der schlafende jüngste Sohn, in seiner Hand hielt er einen Metallstreifen, mit dem er die Minen finden wollte, und wir alle folgten in tiefstem Schweigen. Den größeren Kindern war inzwischen klar geworden, wieviel Uhr es geschlagen hatte, so daß sie sich sehr konzentriert und ruhig verhielten. Alle paar hundert Meter mußten wir Haken schlagen, wenn Bandi wieder eine Mine fand oder auch nur vermutete. Er war sehr zuverlässig und in diesen technischen Dingen ein As. Mehrmals mußten wir uns flach auf den kalten, nassen Boden werfen, weil Leuchtraketen hochgingen und rings um uns wildes Geballer ertönte. Einmal lag ich neben Bandi und sah, wie sich seine schweißnasse Glatze im Licht der Leuchtraketen spiegelte. Ich flüsterte ihm zu, daß man ihn sicher hundert Meilen weit sehen könne, und er zog sich den kleinen Sohn, der selig schlummerte, über den Kopf. Ein anderes Mal schrie ich leise auf, weil ich beim "Deckung!"-Sich-Hinwerfen auf einem Toten zu liegen kam. Ich heulte und war minutenlang nicht zu beruhigen.
Nun, wir kamen dem Stacheldrahtverhau immer näher, und Bandi und Feri machten sich an ihm zu schaffen. Feri hatte seine dicken Chemikerhandschuhe zu diesem Zweck mitgebracht, Bandi irgendwelche Metalldrähte, die er geschickt auf den Zaun warf, der daraufhin bösartig blaue Funken versprühte und hundsgemein zischelte. Dann knipsten sie die Drähte durch und rissen ein kleines Loch in den elektrisch geladenen Zaun, Bandi brachte noch irgendwelche Isolatoren an, zog den Handschuh aus und griff - nach einem Moment des Zögerns - mit der bloßen Hand den Zaun an. Er drehte sich grinsend um und sagte: "Alles klar! Bleibt bloß innerhalb des Lochs, es wird Euch nichts geschehen!" und so krochen wir gesenkten Hauptes nach Österreich.
Daß heißt, ich dachte, es wäre schon Österreich. Aber kaum waren wir alle drüben, glomm keine zehn Schritte neben uns eine Zigarettenglut auf, und eine heisere, gedämpfte Männerstimme sagte: "Na, das habt ihr gut gemacht!". Feri, der wohlerzogene Stadtjunge, der auch die Flucht nicht ohne Krawatte und peinlich gebügelter Hose angetreten hatte, bedankte sich herzlich und sagte, daß wir jetzt endlich über die Grenze seien. Der andere lachte leise, und beim Näherkommen sah ich mit aufsteigendem Entsetzen, daß auf seinem Mantel Abzeichen und blitzende Knöpfe zu sehen waren, ja, als er ganz dicht bei uns stand, starrten wir ihn alle an: es war ein bewaffneter ungarischer Grenzer.
Unendlich lange Sekunden lang kostete er seinen Auftritt aus. Dann aber verzog sich sein faltiges Gesicht zu einem breiten Grinsen, und er sagte: "Na ja, ich bin ja kein Unmensch. Ich tue keinem was und helfe jedem bei diesem elenden Zaun, wenn er nicht weiterkommt. Vielleicht gebt Ihr mir etwas, wenn ihr könnt."
Feri nestelte ein kleines Bündel Banknoten aus seiner Jackentasche, und begann ihn umständlich aufzuteilen. Lächelnd nahm ihm der Grenzer alle Scheine aus der Hand und sagte: "Gevatter, damit kannst Du in Österreich sowieso nichts mehr anfangen!". Ich stand ganz nahe bei diesem unverschämten Kerl und roch seinen scharfen Atem. Mir fiel sofort das Schnapsfläschchen ein, und ich griff in meine Tasche, suchte die Flasche mit dem Bändchen und reichte sie ihm: "Auf Euer Wohl, Herr Offizier, und Gott wird es Euch danken, daß Ihr uns ziehen läßt!"
Vielleicht wurde dieser grobschlächtige Kerl nun etwas verlegen, denn mit Gott (dem höheren Wesen, das manche von Euch verehren) wollte er sich´s dann doch nicht verderben, oder es war ganz einfach der Durst der ewig Durstigen: er bedankte sich mit unverständlichem Gemurmel und trollte sich.
Jetzt erst bemerkte ich, wie sehr meine Knie zitterten; ich gab rasch mein Baby Feri und sagte: "ich muß, ich muß jetzt sofort, sonst passiert´s" und ging ein paar Schritte abseits. Das Kind erwachte in Feris Armen und begann sofort zu schreien. Ich rannte so schnell ich konnte zu ihm zurück und nahm ein Fläschchen mit Babytee aus der Tasche und gab ihm zu trinken. Das Kleine schluckte und schluckte und spie entrüstet den Tee heraus und brüllte wie am Spieß. Wir waren ratlos, hilflos versuchte Feri dem Kind den Mund zuzuhalten, ich schlug auf ihn ein und rief: "Du wirst es noch ersticken, du Ungeheuer!"
Bandi meinte, der Tee sei vielleicht zu kalt und kostete ihn. Sofort spie er wieder alles aus und keuchte: "Um Himmels willen, das ist ja Fusel!" Ich erstarrte zu Eis. Das Kind! Ich riß eine andere Flasche aus der Tasche, kostete erst (ja, es war lauwarmer Kindertee) und gab es dem immer noch schreienden Kind, das verdutzt zu schreien aufhörte und dann gierig-selig saugte.
Wir gingen noch eine halbe Meile weiter, bis wir die Häuser und Straßenlichter ganz genau ausmachen konnten, dann setzten wir uns nieder, aßen eine Kleinigkeit und sangen unsere alte Nationalhymne. Wir waren ergriffen, schämten uns unserer Tränen nicht, und abwechselnd sahen wir von der verlassenen zur neuen Heimat und zurück.
Wir waren inzwischen schon im Ort, die österreichischen Grenzer hatten uns freundlich zur Schule geführt, wo für die Flüchtlinge Schlaflager, heiße Suppe und warmes Essen bereitstanden. Wir hatten die Babies und die größeren Kinder versorgt und wollten uns gerade zu Bett legen, als Feri und Bandi, die bisher leise miteinander getuschelt haben, plötzlich in lautes Gelächter ausbrachen. Wie von Sinnen schlugen sie sich gegenseitig auf die Schulter, klatschten sich auf die Schenkel und lachten wie die Idioten, bis ihnen die Tränen die Wangen hinunterkullerten. Sie konnten sich kaum beruhigen, und Feri stammelte, während der Lachkrampf ihn zwischen jedem Wort auf´s neue schüttelte: "Stell dir das Gesicht des Grenzers vor, wie er einen tiefen Schluck aus deiner Flasche nimmt und dann merkt, daß es nur Babytee ist..."
Meine Kinder sind inzwischen erwachsen. Peter ist Ingenieur und Architekt, Paul erfolgreicher Zahnarzt, Feri und ich sind schon seit Jahren pensioniert. Feri hat eine großartige Karriere als Chemiker gemacht, er hat verschiedene Erfindungen gemacht und Patente weltweit angemeldet. Damit hat er sich einen Jugendtraum erfüllt, denn schon als Schüler sprach er immer davon, daß er eines Tages ein berühmter Erfinder werden wolle. In einem hat er sich nicht gebessert: noch heute, mit weit über Achtzig, muß er jeden Tag ein gebügeltes weißes Hemd und eine schöne Krawatte tragen. Das wird er wahrscheinlich sein ganzes Leben beibehalten, obwohl ich nicht mehr gut sehe und mir das Bügeln schon sehr schwer fällt. Hoffentlich gehe ich nicht vor ihm von dieser Welt, denn wer weiß, wer ihm dann seine Hemden bügeln wird?
(Die dritte Nacht, erzählt von Wachtmeister Béla)
Na, wenigstens habe ich noch meine eigenen Stiefel an. Diese Scheißrussen haben mir alles genommen, Koppel, Käppi und Wintermantel. Die dünne Uniformjacke ist noch das Wärmste, das ich auf dem Leib trage. Meine Geldbörse wollten sie auch zabralisieren, aber da sich außer dem Bild meiner Frau und meiner Kinder nichts darin befand, haben sie es mir gelassen.
Der feuchte Dezembernebel kriecht durch die Betonwände, die kleine vergitterte Fensterluke, ja selbst den Boden durchdringt sie. Einige emsig hin- und herhuschende Kakerlaken sind meine einzigen Zellengenossen. Wie gut wäre jetzt ein Schluck, ja selbst wenn´s bloß Wasser wär´! Meine aufgeplatzte Unterlippe brennt, ich glaube, nicht bloß von den Faustschlägen, nein, sie brennt, weil meine Eingeweide von oben bis unten brennen. Ich will einen Schluck, nur einen winzigkleinen Schluck!
Zu viert haben sie mich überwältigt, zu Boden geworfen und in die Kommandatura gebracht. Verhört, verprügelt, verhört und nochmals verprügelt. Der Kommandant hat mich lange ausgefragt. Ganz genau wollte er wissen, wer denn alles über die Grenze gegangen sei, natürlich habe ich ihm nicht gleich alles erzählt. Doch dann irgendwann, als ich schon vor Schmerzen halbtot dalag, habe ich ihm erzählt, wie diese Städter plötzlich vor mir standen, mit einem guten Dutzend Frauen und Kindern. Und daß ich halt dann an meine eigene Familie gedacht habe und sie ziehen ließ.
Ganz genau wollte er wissen, wie viele es waren, wie sie ausgesehen hätten, woher sie kamen. Ich versuchte mein Bestes, obwohl ich im Dunkeln wohl kaum mehr gesehen habe als diesen Stutzer oder den Stillen, der ein Kind auf seinen Schultern trug. Aber er schien mit einemmal ganz genau zu wissen, was und wen er suchte, und seine gezielten Fußtritte halfen mit, mich zu erinnern. Ja, da war auch eine kleine zarte Frau, die nichts als ihre Gören im Kopf hatte.
Von der Unterhaltung hatte ich nicht mehr viel behalten, vielleicht, daß sie etwas von den Schienen der Raab-Eisenstadt-Bahn erzählten, von einem Sonntagsausflug, bei dem sie sich verirrt hätten und dann geschnappt worden seien, und dann sah ich nur noch seine Faust auf mich zufliegen, begleitet von einem wüsten Fluch, "Job toi Matj!". Der Russki war ganz ausgerastet, sein Gesicht war dunkelrot angelaufen und die Äderchen schwollen bedenklich auf seiner Stirn an. Ich duckte mich, als er weiter auf mich einschlug, aber der gnadenlose erste Schlag hatte meine Unterlippe böse zerfetzt.
Wie durch Nebelschwaden kann ich mich erinnern, daß er irgendwann von mir abgelassen hat und mich in den Keller schleppen ließ. Seine Schergen griffen mich zwar hart an, als sie mich aus dem Verhörzimmer des Kommandanten brachten, auf dem Gang aber lockerten sie ihren Griff und brachten mich schweigend hinunter. Unten gab mir einer eine Kippe, wir rauchten erst schweigend, dann meinte der eine, der Alte sei heute wie von Sinnen gewesen. Es kann doch gar nicht sein, Freundchen, daß du ihn so verärgert hast, daß er derart fuchtig wird, bloß weil du besoffen herumgeballert hast. Was hat er denn gewollt?
Nun, ich begann erst vorsichtig, erzählte aber dann rasch und flüssig die ganze Geschichte mit den Städtern. Sie sahen sich an und prusteten gleichzeitig lachend los: "das waren die Budapester!" Gequält grinsend bat ich darum, mitlachen zu dürfen, und sie sagten, diese Städter seien schon gestern dagewesen, die Rote Patrouille habe sie geschnappt, wie sie fröhlich auf den Schienen Richtung Österreich dahinmarschierten, ein Liedchen trällernd. Die Rotarmisten hatten zwar sicher auch Mitleid mit ihnen, aber sie wußten, daß sie selbst erst wieder zu essen bekämen, wenn sie Flüchtlinge gefangen hatten, also brachten sie sie in die Kaserne und rannten dann gleich zum Küchenbullen. Der Alte habe zwar die Leute verhört, aber sie waren hartgesotten und nicht zu knacken. Sie gaben nichts zu, waren von ihren einfältigen Geschichtchen und Ausreden nicht wegzubringen und verwickelten sich auch nicht in Widersprüche. Sie mußten entweder raffiniert gut vorbereitet oder gänzlich plemplem sein. Abends war der Alte dann stinksauer, weil er sie heimschicken mußte, schon wegen der Kinder.
Die kleine schwarze Kakerlake versucht, auf meinem Stiefel hochzuklettern. Fasziniert beobachte ich ihre Anstrengungen. Ich sehe, wie sie ein Stückchen weit hochkommt, dann beginnt sie abzurutschen und landet dann wieder auf dem Boden.
Mir geht es eigentlich nicht anders. Sie haben mich einfach zum Dienst gepreßt, sie haben mich nicht gefragt, ob ich Grenzer werden will oder nicht; sie drückten mir ein Gewehr in die Hand und jagten mich hinaus in die Kälte. Meine Familie habe ich seit Wochen weder gesehen noch etwas von ihnen gehört.
Und dann diese Städter. Freundlich war ich zu ihnen, geradezu brüderlich! Na ja, ihr Geld habe ich genommen, aber was sollen sie damit im Westen, es ist dort für sie wertlos, und ich muß doch meine Familie auch später irgendwie weiterbringen. Nur, daß sie mir statt Schnaps eine Flasche mit lauwarmem Tee in die Hand gedrückt haben, das kann ich niemals verzeihen — "Wohl bekomm´s, Herr Offizier!" — diese falsche Schlange, diese!
Ich hatte seit Stunden nichts mehr Richtiges zu Trinken gehabt, und dann diese Verhöhnung, diese Enttäuschung! Ich habe die Flasche gierig aufgemacht und sie sofort angesetzt, einen tiefen, gierigen Schluck genommen und merkte erst nach dem zweiten oder dritten Zug, daß dies leicht gesüßter Tee war.
Die Wut stieg in mir hoch wie heiß siedende Lava, die in einem Vulkan hochsteigt. Ich habe dann plötzlich nur mehr rot gesehen, die Flasche gegen einen Baum geknallt und gebrüllt wie ein Stier. Habe mein Gewehr genommen und das ganze Magazin in die Luft gefeuert und gefeuert und gebrüllt, bis nichts mehr im Lauf war, und dann sind sie zu viert über mich hergefallen...
An den
Kommandanten der glorreichen Roten Armee
Oberst Wladimir J. Kniezewski
Feldmaschall Von-der-Trenck-Kaserne
SOPRON
Betreff: Wachtmeister Béla HANCSÁR Sopron, 9.12.56
Sehr geehrter Herr Oberst!
Wie ich erfahren mußte, wurde einer meiner Untergebenen, Wachtmeister Béla Hancsár, von Ihren tapferen Streitkräften in der vergangenen Nacht in Gewahrsam genommen.
Da ich nicht annehme, daß es sich um etwas Ernstes handelt, bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Oberst, den ansonsten untadeligen Wachtmeister aus dem Gewahrsam der ruhmreichen Roten Armee entlassen und in meinem Zuständigkeitsbereich überstellen zu wollen.
Nieder mit der Revolution!,
ergebenst Ihr Diener,
János BÁNFFY,
Major der Landesverteidigungstruppen
Prinz Eugen-von-Savoyen-Kaserne SOPRON
An
Reguläre Landesverteidigungstruppe
Abt. Grenzsicherung
Major J. Bánffy
Prinz Eugen-von-Savoyen-Kaserne
SOPRON
Betreff: Zl. 8934/56.01 Sopron, 10.12.56
Herr Major!
Hat Ihr sogenannter treuer Untergebener wertvolle Munition weil war sich stinkbesoffen wertlos in Gegend gefeuert und nichts getroffen Lenin sei dank. Hat sich erst eine Menge von imperialistischen Spionen und Landeshochverrätern über die Grenze schmuggelt und sich bestechen lassen mit viel wenig Geld was gar nicht mehr viel wert is.
Hat unser verehrter Herr Kommandant, Kommissar Oberst Wladimir J. Kniezewski, selbst und eigenhändig Spione verhört und unglaubliche Tatsachen an das Licht zur Welt gebracht. So unter anderem verschanzen sich kapitalistisch imperialistische Spione hinter Rücken von Kinder, aber täuschen auch Spaziergang mit Lied und Spazierstock vor, entlang von Grenze, nichtsahnend Idioten spielen, mit Pfeifen auf die Lippen. Das hat unser verehrter Herr Kommandant, Kommissar Oberst Wladimir J. Kniezewski, sofort mit Depeschenpost in Hauptkommissariat gemeldet.
Und hat mir der verehrte Herr Hauptkommissar Oberst W.J. Kniezewski mich beauftragt Ihnen zu sagen, die Pfeife soll nicht glauben, das es ist nix Ernstes nicht sei, weil er wird es ihm schon noch selbst sagen. Und daß der Soldat Béla natürlich wird weiter verhört, weil er Kollaborateur der imperialistischen Grenzspione seit schon immer ist und vielleicht noch mehr weiß, ganz sicher wahrscheinlich.
Am Ende sagt der Herr Kommissar Oberst Wladimir J. Kniezewski, daß man nach der Hinrichtung vielleicht noch eine gut Gulasch wird zusammenessen und trinken die eine und natürlich auch alle anderen Wodkas mit Herrn Major und dann ist alles erledigt.
Lang lebe die glorreiche sowjetische Revolution!
Jan Tschech, Übersetzer für
Herrn Oberst Kommissar W.J. Kniezewski,
Hauptkommandantur der siegreichen Roten Streitkräfte SOPRON
DRINGEND!!!! DIENSTPOST!!! PERSÖNLICH!!!
An den
Kommandanten der
glorreichen Roten Armee
Oberst Wladimir J. Kniezewski
Feldmaschall Von-der-Trenck-Kaserne
SOPRON
Betreff: Wachtmeister Béla HANCSÁR Sopron, 10.12.56
Zl. 8934/56.01
Aber mein lieber Herr Oberst!
Wir wollen doch nicht gleich von Hinrichtung reden, bloß weil der brave Béla sich mal auch ein Schlückchen gönnt oder herumballert! Es ist ja nichts passiert! Ich gebe ja zu, der Junge sollte sich etwas mehr zurückhalten, wenn er schon nichts verträgt, nicht wahr, Herr Oberst, wir beide haben da wohl schon einiges mehr gehoben und locker weggesteckt, hahaha!
Ich erinnere mich an jenen köstlichen Abend, als wir, lieber Herr Oberst, gemeinsam den Geburtstag Ihrer verehrten Frau Gemahlin feierten und ...
Ich will ja nicht die alten Sachen aufwärmen, aber ich brauche diesen Béla Hancsár, heute noch, lebend und nüchtern. Übersetzen Sie das wörtlich, Jan Tschechow, sonst reiße ich Ihnen Ihr verlogenes Maul bis über beiden Ohren auf! -— Und, verehrter Kommissar Oberst, ich habe meine Erkundigungen wegen der Spione eingeholt und versichere Ihnen, es waren wirklich nur ein paar Spinner, die haben sich sogar nach der illegalen Grenzüberschreitung niedergekniet und Kirchenlieder gesungen! Nichts für ungut, mein lieber Herr Oberst, aber Sie sollten diese dummen Leutchen ein für allemal vergessen.
Schicken Sie mir nur diesen Béla, ich werde mich um ihn kümmern, glauben Sie mir, er hat mir schon genug Scherereien bereitet und verdient eine Abreibung, aber Hinrichtung, nein, danke! Also, wenn das erledigt ist, dann kommen Sie doch mal rüber, und wir vergessen das Ganze bei einem Gläschen!
Es lebe die glorreiche sozialistische Revolution!,
Nieder mit der Revolution!
ergebenst, immer der Ihre,
János BÁNFFY,
Major der Landesverteidigungstruppen
Prinz Eugen-von-Savoyen-Kaserne SOPRON
An
Reguläre Landesverteidigungstruppe
Abt. Grenzsicherung
Major J. Bánffy
Prinz Eugen-von-Savoyen-Kaserne
SOPRON
Betreff: Zl. 8934/56.01 Soldat Béla H. Sopron, 11.12.56
Lieber Herr Major!
Wir haben noch mal energisch den Soldat Wachtmeister Béla verhört. Er hat alles gestanden, aber auch daß er ein ziemlich großer Dummkopf ist. Das zumindest rettet ihn vor dem Erschießungskommando. Aber die Spione hat er über die Grenze laufen gesehen, und daher er hat soviel geschießt.
Ich glaube, er hat daneben geschießt, weil gar keine Spione da waren, es waren einfach nur Wodka-Geister in seinem Kopf. Daher vergessen wir auf jeden Fall die Spione und auch die Kinderspione, ich habe bereits Depesche in Hauptstadt geschickt, Erklärung: Wodka und Dezembernebel, hahaha.
Und Sie machen mit Soldat Béla nochmals kräftige Exerzieren, damit der Dezembernebel verfliegt, denn sagt bei uns ein russisches Sprichwort: wenn du nix kannst vertragen Hörner von Stier, geh nicht in Arena hinein! Wenn er hat kleine Beule im Gesicht oder große, dann ist er vielleicht die Stiege hinuntergefallen. Wir haben ihn sicher nix geschlagen. Jan tschechisches hat nicht alles genau übersetzt, so habe ich ihn mit Ersatzdolmetscher ersetzt und jetzt putzt er Kartoffeln den ganzen großen Topf. Er hat ja übersetzt Dezembernebel mit imperialistische Spione daher putzt er Kartoffeln für ganze glorreiche Soldatenküche bis Dezembernebel ist weg.
Und wir treffen uns wieder Donnerstag abend zu Schachpartie, gut?
Nieder mit die Revolution!,
Lang lebe die glorreiche sowjetische Revolution!
Wojtech Czymielinek, Übersetzer für
Herrn Oberst Kommissar W.J. Kniezewski,
Hauptkommandantur der siegreichen Roten Streitkräfte SOPRON
(Die erste Nacht — erzählt von Onkel Ákos)
So, jetzt sind alle gut untergebracht, die Kinder sind oben im Großeltern-Schlafzimmer, die Erwachsenen überm Stall auf dem Heuboden. Bandi, Feri und ich haben noch alles besprochen, dann sind sie alle zu Bett gegangen.
Ich habe ihnen den Weg durch die letzten Äcker und dann durch die Holundersträucher zu den Schienen eingezeichnet, ihnen eingebleut, an welcher Stelle sie sich "verirren" müssen, und einige Orientierungshilfen wie die verfallene Mühle und den Einschnitt im Bahndamm auf der Karte markiert. Wenn sie etwas Glück haben, werden sie ungeschoren und ohne größere Komplikationen über die Grenze kommen. Ich werde sie frühmorgens zusammen mit meinem Sohn Antal zur Grenze bringen.
Ich habe mich noch vergewissert, daß sie kleine Banknotenbündel für etwaige Begegnungen mit Grenzern dabeihaben. Feri, dieser Stutzer, hat sich erst zwar etwas blöde angestellt (nein, natürlich bekommst du keine Quittung!), aber schließlich und endlich hat sogar er begriffen, daß hier nur Mut und Improvisation helfen werden. Ich bete zu Gott, daß sie glatt über die Grenze kommen, denn Feri´s Nervosität und Ungeschicklichkeit könnten noch alles verderben.
Bei meinem Rundgang habe ich noch nachgeschaut, ob alles in Ordnung ist. Unter der Treppe machte sich die kleine Juliska noch am Gepäck zu schaffen, ich glaube, sie hat die Trinkfläschchen für die Kleinkinder nachgesehen und verräumt. Sie erschrak zwar ein bißchen, als ich vorbeiging, aber ich habe ihr verschwörerisch zugezwinkert, und bin dann weitergegangen. Sie ist ein verträumtes, aber auch sehr eigensinniges Kind.
Hinter dem Schweinestall stutze ich plötzlich, ich höre jemanden wispern. Ich schleiche vorsichtig näher: es ist Bandi und Ildikó, meine einzige Tochter, die dort stehen und sich leise unterhalten.
Als Bandi noch in den letzten Kriegswochen nach Sopron verlegt wurde und bei uns einquartiert war, hat sich die kleine Ildikó wie wahnsinnig in den großen und feschen Soldaten verliebt.
Mit ihren 12 Jahren war sie plötzlich sehr still und scheu geworden und hat ihn nur angehimmelt; verdammt, wir hatten unsere liebe Mühe, ihr klarzumachen, daß er doch schon längst vergeben und überhaupt viel zu alt für sie sei. Bandi und ich tranken damals ein Gläschen miteinander, und als ich ihm die Lage erklärte, war er sehr betroffen. Ehrlich und nett wie er war, blieb er sehr freundlich zu Ildikó, hielt sich aber an alle Regeln und brach dann auch sehr bald wieder in die Hauptstadt auf.
Nun stehen sie da, und Ildikó, inzwischen gut zwanzig, spricht mit gesenktem Kopf mit ihm. Tränen laufen über ihr Gesicht, und mir zerreißt es beinahe das Herz. Ich brauche nicht zu verstehen, was sie reden, ich verstehe es auch so. Sie umarmt Bandi plötzlich mit aller Inbrunst, ihr Kopf ruht einen Moment an seiner Brust, die Zeit scheint stillzustehen. Er greift ihr unbeholfen ins Haar und gibt ihr einen sanften Kuß auf die Stirn. Dann löst er sich entschlossen und geht durch die Tür, hinauf.
Ildikó steht noch einige Sekunden wie erstarrt, dann sinken ihre Schultern herab, und sie geht durch den Hintereingang ins Haus. Ich bleibe noch eine Weile stehen, ahne, wie sehr ihr dieser Abschied für immer weh tun muß, und gehe dann selbst zu Bett.
Noch vor Sonnenaufgang wecke ich Antal und die Städter.
Mutter und Ildikó haben bereits ein gutes Frühstück hergerichtet, für die Erwachsenen und die größeren Kinder gibt es sogar eine echte Rindsbouillon. Als wir uns hinsetzen, ist Ildikó bereits wieder hinaufgegangen, und Mutter erwidert meinen fragenden Blick mit einem grimmigen Kopfschütteln. Nach dem Frühstück versammeln sich alle hinten im Hof und warten auf den alten Karcsi, der uns mit seinem uralten LKW zur Grenze fahren wird. Als er kommt, steigen sie in der Dunkelheit rasch auf die Ladefläche und wir ziehen die Planen zu.
Karcsi ist der lausigste Fahrer des Ortes, aber nicht davon abzubringen, die alte Schrottkiste immer noch selbst zu fahren. Jedesmal nach dem Schalten zuckt er zusammen, weil das Getriebe gotteserbärmlich kracht, dann grinst er dämlich und sagt: "Ah, die Kupplung!". Antal steht draußen auf dem Trittbrett, das Gesicht nach hinten gewandt, und sagt mir, wenn Autos kommen. Dann klopfe ich dreimal gegen das hintere Fenster, und die Städter wissen, daß sie sich mucksmäuschenstill verhalten müssen.
Wir kommen nach etwa einer halben Stunde unbehelligt bei den Äckern, die bis zu den Eisenbahnschienen gehen, an. Der LKW bleibt ruckelnd stehen, der Motor stirbt mit einem letzten verzweifelten Dieselknall ab, und Karcsi flucht laut und gotteslästerlich in die Stille hinein. Antal spurtet nach hinten, hebt die Plane und sagt: "Rasch, rasch, wir haben nur ein paar Sekunden Zeit zum Aussteigen!". Die Budapester kriechen mit matten Gliedern vom Wagen, ich gehe sofort ein wenig auf dem Weg vor und versammle sie um mich. Antal gibt Karcsi das Geld, und nach kurzem Wispern eilt er zu mir, murmelt, daß der Alte noch mehr haben will. Ich sage Bandi, daß wir noch Geld brauchen, und Antal gibt Karcsi noch etwas, bleibt aber dann energisch und schickt den maulenden alten Gierhals fort.
Ich gehe auf dem Schleichweg vor, und im Gänsemarsch kommen alle hinter mir. Antal macht den Schlußmann und hilft den Kindern bei den kleinen Hürden, die auftauchen. Die Kinder gehen paarweise, Peter mit Paulchen, János mit Hanni, István mit Juliska. Und Antal, mein Großer, geht hinter ihnen und achtet darauf, daß sie den Anschluß nicht verpassen. Es erfüllt mich mit Stolz, daß ich mich voll und ganz auf ihn verlassen kann.
Am Ende des letzten Ackers bleibe ich stehen, sage, daß wir eine Viertelstunde Rast machen, und gehe dann auf Rundgang, um sicherzugehen, daß wir keine unliebsamen Überraschungen erleben. Neben den Bahngleisen sind immer noch vereinzelt Minen, so daß ich Bandi und Feri nochmals in der beginnenden Morgendämmerung zeige, wo neben den Schienen kleine Krater zu sehen sind, die von explodierten Minen stammen. Ich sehe, wie sie die Zähne zusammenbeißen. "Auf den Schienen und zwischen ihnen gibt es keine Minen, bleibt nur vom Bahndamm weg!" sage ich und sie nicken.
Die Sonne geht bald auf, denke ich, und doch wird sie heute nicht durch den Nebel dringen. Ich zeige Bandi und Feri nochmals die kleine Erhebung, hinter der die Abzweigung ist, dann verabschieden wir uns. Ich drücke Bandi lange die Hand, und merke, daß er noch etwas sagen will, aber dann preßt er die Lippen zusammen. Ich sage: "Ich weiß, was du sagen willst, ich werde es ausrichten", und er sieht mich betroffen an. Ich klopfe ihm auf die Schulter, schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und umarme die anderen; dann gehe ich mit Antal rasch den Weg zurück.
Groß ist die Überraschung, als die Budapester am Abend wieder vor der Türe stehen. Sie erzählen aufgeregt ihr Abenteuer, und ich denke im Stillen, daß sie ein unverschämtes Glück gehabt haben.
Der russische Kommandant ist ein verbissener, grober Mensch, der zwischen Lasterhaftigkeit und Pflichterfüllung hin- und hergerissen wird. Nicht selten hat er Gefangene eigenhändig gefoltert, und gerüchteweise soll er mehrere auf dem Gewissen haben.
Antal geht mir nicht nur am Hof zur Hand, er studierte bis zum Ausbruch der Unruhen Technik und hat einen sehr scharfen Verstand. Er hat still zugehört, bis auch die letzten Details erzählt waren und sich die Städter zu wiederholen begannen. Dann sah er mich durchdringend an und sagt: "Wir können nicht bis morgen warten! Genau das wird der Russki denken, wegen der Kinder, die doch irgendwann schlafen müssen. Wir sollten sie jetzt gleich für ein paar Stunden ins Bett stecken, dann aber noch vor Mitternacht aufbrechen. Als Route sollten sie den Todesstreifen wählen, das erwartet der Russe nicht.".
Ich weiß sofort, daß er recht hat. Also setzen wir uns mit den beiden Männern zusammen und sehen uns die Karte ganz genau an. Bandi meint, er kennt sich mit Elektrozäunen aus, und wegen der Minen sollten wir uns auch keine Sorgen machen, er habe im Krieg damit zu tun gehabt. Antal bringt einige Minen, die er ausgegraben und entschärft hat, und Bandi und er studieren gemeinsam die Konstruktion. Ich mache inzwischen ein paar Detailskizzen, wie der Elektrozaun und der Todesstreifen genau beschaffen ist, und Bandi und Feri prägen sich alles ein. Es geht schon auf Mitternacht zu, als wir die Kinder wecken und uns zum Abmarsch bereitmachen. Antal kommt mit Karcsi herein und sagt, Karcsi würde uns nochmals ein Stück fahren. Karcsi brummt vor sich hin, daß er das sicher zum allerletzten Mal mache. Antal flüstert uns noch zu, daß es diesmal nichts koste, und ich frage mich insgeheim, wie er dieses Kunststück zuwege gebracht hat.
Die Fahrt verläuft wie die erste, und tagelang hören wir nichts. Nach etwa zehn Tagen kommt ein Anruf beim Bürgermeister: "Die Stadtwohnung ist frei", das vereinbarte Codewort, daß sie gut in Österreich eingetroffen sind. Innerlich muß ich heute noch grinsen, daß Bandi gerade dieses feiste Kommunistenschwein als Überbringer konspirativer Nachrichten benutzte. Immerhin konnte ich ja dem fragend dreinblickenden Fettsack kurz und knapp erklären, daß es sich um eine Studentenwohnung für Antal handelte.
Ildikó hat monatelang kein Wort gesprochen. Sie hat schweigend ihre Arbeit gemacht und sich dann in ihr Zimmer zurückgezogen. Ich sah sie nur einmal kurz weinen, als ich ihr ausrichtete, was Bandi nicht sagen konnte. Ihr fröhliches und leichtes Wesen war stumpf und traurig geworden. Für viele Tage wurde es in unserem Haus still und bedrückt.
Eines Tages fuhr sie kurzentschlossen in die Stadt, machte eine Lehrerausbildung und kehrte nach mehreren Jahren in der Stadt zurück. Seither unterrichtet sie an unserer Schule, Kinder und Eltern lieben sie wegen ihres sanften Wesens. Sie lebt immer noch bei Mutter und mir und hilft mit, Mutter zu pflegen, die nach ihrem Schlaganfall nicht mehr die alte ist.
Antal lebt jetzt in Budapest, arbeitet beim Rundfunk und ist ein richtiger Direktor geworden. Er hat es zu etwas gebracht, und trotzdem hat er auf seine alten Eltern nicht vergessen und besucht uns recht häufig. Seine Kinder sind inzwischen auch schon groß, einige Enkel haben studiert und sind unser ganzer Stolz.
Nein, von den Budapestern haben wir nie mehr etwas gehört.
Bandi trifft sich manchmal mit Antal, wenn er in Budapest ist, aber zu uns ist er nie mehr gekommen. Ich verstehe ihn.
Das war vor rund vierzig Jahren. Jetzt sitze ich manchmal vor dem Haus, atme den Duft der Akazien und Birken ein und denke, wie schön es doch ist, in der alten Heimat alt geworden zu sein. Und daß auch ich Glück gehabt habe, daß sie mich nie geschnappt haben: immerhin habe ich damals Hunderte über die Grenze geschmuggelt...
(Nachmittag des ersten Tages — erzählt von Soldat Juri)
Als wir die zwei Familien festgenommen haben, fühlte ich mich ziemlich elend. Ich sah im Geist die Kinder aus unserem Dorf vor mir und dachte: das ist nicht recht, was wir da machen. Ich bin vor Wochen aus meiner Heimat Tungusistan in dieses Land gebracht worden. Die Offiziere hatten uns erzählt, daß wir kapitalistische Schweine und imperialistische Spione bekämpfen müßten, denn sie würden den Fortbestand des ganzen sowjetischen Volkes gefährden. Als wir dann hier ankamen, sahen wir, daß wir in Wahrheit in einen Bürgerkrieg verwickelt, daß unsere Feinde Frauen und Kinder waren. Jeden Monat wurden die Grenztruppen ausgewechselt, weil sie ihre Moral innerhalb kürzester Zeit verloren.
Meine Kameraden hänselten mich, weil ich mongolisch aussah - nun, ich war mongolischer Abstammung, und je mehr sie mich hänselten, um so stolzer wurde ich. Als wir nun die Leute auf unseren LKW luden, merkte ich, wie die beiden Männer miteinander tuschelten und hörte ganz deutlich das Wort "mongol". Eines der kleinen Mädchen hatte ihren Geigenkasten dabei und drückte dieses ganz ängstlich an ihren Körper. Es schien zu befürchten, wir könnten der Geige etwas antun. Ja, natürlich, nach dem, was dieses Volk von der glorreichen Roten Armee bisher erfahren hatte, war diese Furcht gar nicht so abwegig.
Ich bot der Kleinen an, sich auf den Sitz zu setzen; ich wollte ihr die Angst nehmen und sie durch meine Freundlichkeit überzeugen, daß wir anders waren, als man über uns erzählte. Ich deutete immer wieder, sie solle sich doch auf den Sitz setzen, und versuchte meine russischen und tungusischen Worte mit der entsprechenden Gestik zu übersetzen.
Die Männer flüsterten mit der Kleinen, die ihren Geigenkasten nun noch fester an sich drückte und schon etwas weinerlich dreinsah. Besonders der Feingekleidete überschüttete die Kleine mit einem Wortschwall, und die Kleine sah mich aus ihren dunklen Augen stumm und trotzig an und preßte die Lippen fest aufeinander. Nach Freundschaft sah es nicht gerade aus.
Ich fragte Gregorij, der etwas von dieser Sprache verstand, was die Männer tuschelten. Er meinte, genau hätte er es nicht verstanden, aber vielleicht könnte es geheißen haben, daß du den Geigenkasten für eine Gottheit oder einen Hausaltar hältst, und du fordertest sie auf, sie solle den Gott bzw. Altar auf dem Sitz "aufbahren".... Gregorij schüttelte sich vor Lachen.
Ja, und dann füttert ihr uns noch mit Bananen, dachte ich grimmig und war wütend, weil Völkerverständigung heute offenbar nicht angesagt war. Dieser Stutzer teilte die Welt wohl in die zwei Kategorien Ungar und Menschenaffen ein, und das kleine Mädchen war verschüchtert und verängstigt, sicher auch, weil sie noch nie ein so dummes Wesen wie mich gesehen hatte.
Einige Minuten war ich sprachlos. Gregorij radebrechte mit den Männern und sein verschmitztes Grinsen, das kannte ich schon! Er band ihnen sicher das Märchen vom verwunschenen Mongolenprinz oder so ähnlich auf. Das machte mich erst richtig wütend.
Dann aber war die Reihe an Gregorij, mit offenem Maul blöde dazustehen, denn ich kniete nieder, nahm dem Mädchen sanft, aber energisch den Geigenkasten aus der Hand und stellte es vorsichtig auf den Sitz. Dann begann ich mich wie ein betender Muslim zu verbeugen und blöde Sprüche herunterzuleiern wie "Ihren Fahrschein bitte, jemand zugestiegen? Heute ist Mittwoch, der Nebel ist weiß, lang lebe Mütterchen Rußland" und so weiter, was mir eben so in den Sinn kam.
Gregorij kam aus dem Lachen nicht mehr heraus. Der Leutnant blickte unwirsch aus dem Fahrerhaus nach hinten und schimpfte mürrisch. Wir alle hatten noch nichts gegessen und waren gereizt. Meine Clownerie war auch nur mehr ein Zeichen völliger Übermüdung, Erschöpfung und unseres Hungers. Wir waren alle froh, als wir in der Kaserne angekommen waren.
Jahre später besuchte mich Gregorij, er hatte während der Kampfhandlungen ein Bein verloren und reiste nun durchs Land, von Kumpel zu Kumpel, und schnorrte sich gutmütig durchs Leben. Wir erzählten uns - neben anderen - auch diese Geschichte immer und immer wieder und lachten aus vollem Halse. Ich hatte damals einen guten Posten als leitender Ingenieur in der Ölraffinerie und konnte Gregorij für kurze Zeit beschäftigen, bis es ihn wieder weiterzog.
Was aus dem kleinen Mädchen mit den großen traurigen Augen und der Gottheit - pardon, dem Geigenkasten - wohl geworden ist?
(Der Abend des zweiten Tages — erzählt von Juliska)
Nein. Immer werde ich als eigensinnig hingestellt, nichts kann ich allein machen, und die Erwachsenen geben nie zu, wenn sie selbst etwas falsch machen. Wenn ich aber etwas sagen will, heißt es nur: sei still, du bist noch ein Kind.
Nein. Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich weiß sehr viel mehr, als die Erwachsenen meinen. Nur mein Papa, das ist der Einzige, der mich ernst nimmt. Mutter und die eklige Tante Erzsi oder ihr Lackaffe von Ehemann, die sind alle gegen mich, sie haben immer etwas an mir auszusetzen und herumzunörgeln.
Da erzählen sie uns etwas vom Sauschlachten und Ausflug nach Sopron zu Tante Anni. Als ob wir vollkommen blöde wären! Natürlich wissen wir schon alles, Pityu und ich sind die halbe Nacht am Boden gelegen und haben durch den Spalt unter der Tür spioniert und gelauscht, als sie sich alles zurechtgelegt haben. Natürlich wissen wir Bescheid, uns können sie nichts vormachen. Wir sind die St.Stephans-Ritter (so heißt unser Geheimbund). Pityu ist mein Erster Ritter, ich bin die Königin, natürlich. Wir sind dabei, noch mehr Ritter anzuwerben.
János haben wir auch eingeweiht, obwohl er kein St.Stephans-Ritter ist; er kommt sich wohl zu gut vor, obwohl fast alles an unserem Geheimbund einst von ihm erdacht wurde. Aber diese Sache ist doch von allergrößter Wichtigkeit, also weihen wir ihn halt ein. Er kratzt sich lange am Kopf und meint dann, daß wir dann aber wahrscheinlich nie, nie mehr zurückkommen würden, wenn wir über die Grenze gehen.
Ich habe auf einmal einen dicken Kloß im Hals. Die Spielgründe, die Schulkameraden, den Geheimbund, die beste und die zweitbeste Freundin, unsere liebe Amme Mányika: das alles sollen wir nie, nie, nie mehr wiedersehen? Ich fühle mich plötzlich ganz klein und schrumpelig. János meint dann, wir müßten eine Große Geheimversammlung einberufen. Ich weiß nicht, was das ist, aber dann erklärt er, daß alle Geheimbünde eine Große Geheimversammlung kennen würden, und daß alle kommen müßten, auch die verfeindeten Banden, und daß sie sich an einen allgemeinen Waffenstillstand halten müßten.
Am nächsten Vormittag heftigste diplomatische Aktivitäten. Ritter Pityu, Königin Julia und Sonderbotschafter János eilen von Haus zu Haus, grüßen mit dem jeweiligen zeremoniellen Gruß des lokalen Geheimbundes und flüstern die Botschaft in dreimal bespuckte Ohren. Alle sind erstaunt, keiner hat je etwas von einer Großen Geheimversammlung gehört, doch es ist ein weiteres neues Abenteuer, und alle werden kommen. Wir treffen uns im Königlichen Gerichtssaal (einem Keller der Wasserwerke) und nehmen feierlich Platz. János, Árpád und Zoli, die drei Ältesten, haben sich auf einer höhergelegenen Wasserleitung hingesetzt und tragen aus besonderem Anlaß ihre schmutzigweißen amerikanischen Cowboyhüte, die Árpáds Vater einmal aus Amerika mitgebracht hatte.
Nach der erneuten Verkündung, daß absoluter Waffenstillstand einzuhalten sei, gab Zoli das Wort an Árpád, der allen mit einem völlig neuartigen, aber todsicher wirkenden Schwur den Heiligen Eid abnahm, über das Weitere den Mund zu halten und keiner Menschen- oder Tierseele jemals etwas zu erzählen. Jetzt waren alle höchst gespannt und warteten, bis Árpád dann umständlich das Wort an János weitergab.
János stand dramatisch langsam auf, warf seinen Umhang noch einmal über und zeigte mit theatralisch ausgestreckter Hand in die Ferne: dahin würden wir gehen, weit weg, in ein fremdes fernes Land, und wir kämen nie nie nie mehr wieder. Die Alten hätten dies beschlossen, und danach herrschte tiefe Stille.
Einige meinten zwar abschätzig: aha, die gehen also auch über die Grenze, aber die anderen waren regelrecht ergriffen und machten pscht, pscht! Es folgten dann zeremonielle Treueschwüre, Schweigegelübde wurden mit allerlei Geheimzeichen besiegelt, ewige Freundschaften versprochen. Besonders von Zoli konnte ich mich nur unter Tränen verabschieden, waren wir doch so gut wie verlobt, was aber außer mir nur Pityu, mein Erster Ritter, wußte. Zolis Schwester Babu heulte jedenfalls laut, als sie sich von János verabschiedete, und Pityu verschenkte mit einer großartigen Geste seine Schätze, den schönen Langbogen und seine unfehlbare Steinschleuder, an die Kampfgefährten der Ersten Kriege. Auch er hatte tränenglänzende Augen.
Dann stieg noch ein allerallerletztes Mal der Heilige Nebel aus einem Feuer aus Zeitungsblättern auf, die Fürsten und Schamanen murmelten noch einmal ihre Zaubersprüche, und wir gingen in alle Windrichtungen auseinander.
Ach, dann wieder die Ermahnungen der lästigen Erwachsenen, sie wollten ja ganz sicher sein, daß kein Sterbenswörtchen verlautete, und wenn sie gewußt hätten, daß so an die dreißig Kinder der Nachbarschaft eingeweiht waren, dann hätte sie wohl der Schlag getroffen! Aber wir vertrauten auf die Großen Heiligen Schwüre, und wir sollten recht behalten: keiner hat uns je verraten. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Schätze, die ich ja nicht alle mitnehmen konnte, an meine Freundinnen verteilt hatte. Es gab Eifersüchteleien, Rangeleien und beleidigte Leberwürste. Aber für mein Ego war es gut, der Position einer Königin entsprechend zu handeln und behandelt zu werden. Einige meiner liebsten Schätze habe ich aber nicht hergegeben, sondern fein säuberlich in ein Tuch gewickelt und in meinem Geigenkasten versteckt. Es war ja klar, wenn die Erwachsenen von diesen Aktivitäten erführen, würden sie wissen, daß wir wußten, was sie wußten. Also lief alles unter strengster Geheimhaltung.
Mutter beim Packen zu helfen, das ging ja schon in Ordnung. Aber die Tante Erzsi, eine magere und bleiche Ziege, die immer nur Baby-hin und Baby-her im Kopf hatte - ach, sie ging mir wirklich auf den Geist! Während sie zum zigsten Mal die Babysachen ein- und wieder auspackte, half ich schweigend ihren Söhnen, Peter und Paul, ihre Sachen zu packen. Paulchen war still und schweigsam, aber Peter, der ältere, war ziemlich dreist. Einmal zupfte er mich am Zopf, dann schubste er mich hierhin oder dorthin, versuchte nach mir zu grabschen, - er war ziemlich lästig. Natürlich wußte ich, was diese freche Kröte wollte, doch würde es nie-nie-niemals geschehen, daß ich ihm auch nur irgend etwas zeigen würde, obwohl diese Neugierde auch in den Geheimbünden ganz wichtig war.
Tante Erzsi packte wieder einmal die Babysachen um. Dann flötete sie mit Feri, ihrem geschleckten Hübschling, daß man doch eine extra Pulle Schnaps für die Grenzer mitnehmen müsse. Onkel Feri hörte ihr wie immer nicht zu und murmelte nur Ja-ja über die Schulter. Erzsi-néni nahm dann eine Pulle und wickelte sehr ungeschickt ein blaues Bändchen um deren Hals, um es als "das" Fläschchen zu markieren. Ich hatte natürlich viel feinfühligere Finger als diese Quengelziege und versuchte, aus ihrem Gewurschtel eine richtige und hübsche Masche zu machen: aber das hättet ihr sehen müssen! Wie eine Furie fauchte sie mich an, ich solle mich davon scheren, sie habe so schon irrsinnig viel am Hals und könne sich nicht auch noch um mich "Göre" kümmern! Und ihre Masche sei perfekt, ich solle nur ja die Finger davon lassen!
Stolz erhobenen Hauptes schritt die Königin davon, doch in ihrem Herzen tobten Mord und Totschlag. Der Erste Ritter verarztete gerade Peter, der sich in den Finger geschnitten hatte, und da konnte ich auch ein wenig Rache an der elenden Ziege üben, indem ich beim Verbinden half und Peter mehr als notwendig leiden ließ. Der Blödmann glaubte ja einem alles, Blutvergiftung und Wundstarrkrampf mußten nur ganz zufällig eingestreut werden, und schon winselte der Feigling aus Angst vor Höllenqualen und Brandfieber, jammerte mit hervorquellenden Augen. Verzweifelt rannte er zu seiner Mutter, die wiederum einen Grund mehr sah, die elende Göre — mich — zu verwünschen.
Die ganze Reise und die Flucht habe ich noch gut in Erinnerung (aber das habt ihr ja schon alles gelesen). Vielleicht ist noch zu ergänzen, daß ich am Abend in Sopron, nachdem alle zu Bett gegangen waren, nochmals raus "auf die Toilette" mußte. Da standen sie, unsere Reisepakete, unter der Treppe.
Leise schlich ich mich dorthin, wartete einen Augenblick, ob denn auch keiner mich störte, und durchsuchte dann die Tasche von Tante Erzsi. Ich wollte einfach nur die Masche schön und richtig machen, und wenn sie mich nicht freiwillig ließ, dann nahm ich mir mein Recht selbst.
Ich hatte die Fläschchen ausgepackt und das Band gelöst. Mit der Hand streifte ich es glatt und begann eine schöne Schleife zu binden, als ich plötzlich Onkel Ákos kommen hörte. Rasch schob ich alle Fläschchen wieder in die Tasche zurück und hielt nur noch die Schleife in meiner Hand, aber es war keine Zeit mehr, um sie in die Tasche zu stecken, also knüllte ich sie zusammen und verbarg sie in meiner Hand. Onkel Ákos kam langsam herbei, ein Baum von einem Mann, und ich war etwas verängstigt, als ich ihn sah. Hatte doch Mutter einmal erzählt, daß Onkel Ákos im Krieg seine Gegner mit der bloßen Faust erschlagen, mit bloßer Hand erwürgt hätte, bevor sie ihn gefangennahmen. Stimmte das, dann konnte er mich - oder jemanden wie mich - leicht zwischen zwei Fingern zerquetschen. Ich sah wie gebannt auf seine Hände, die wirklich riesig waren, und fühlte meine Haut, wie wenn ich eine Gänsehaut bekäme, frösteln.
Aber er sah mich nur an und zwinkerte kumpelhaft. Hatte er was bemerkt? Warum sagte er nichts? Er mußte doch gemerkt haben, daß ich da unter dem Treppenabsatz kauerte, meine Hände in der Reisetasche hatte und vermutlich auch etwas trotzig dreinblickte. Ich sah zu ihm auf, gefaßt, ihm gleich eine perfide Ausrede anzudrehen, doch er kniff mich nur freundlich in die linke Wange und sagte: "Gute Nacht!", dann ging er weiter und verließ das Haus durch die Hoftüre.
Ich wartete einige Herzschläge lang und nahm dann das Fläschchen aus der Tasche. Es war doch dieses Fläschchen, oder etwa nicht? Ich blickte etwas ratlos, denn sie sahen alle gleich aus. Dann merkte ich, wie mir die Zeit davonlief. Ja, ich konnte es fast körperlich spüren, wie die Sekunden verrannen. Kurzentschlossen band ich das blaue Bändchen um den Hals des Fläschchens, machte eine schöne Schleife und verstaute es wieder in der Tasche. Keine Sekunde dachte ich darüber nach, was passieren könnte, wenn ich die Fläschchen nun doch verwechselt hätte.
Dann ging ich wieder zur Klotür, machte sie leise auf und lauter wieder zu, ging durch den Korridor und wieder ins Schlafzimmer.
Als dann später die Erwachsenen rätselten, wie das arme Baby an der Grenze Schnaps bekommen konnte, und was der Grenzer wohl zu seiner Flasche Babytee wohl gesagt haben mag, war mir zwar sehr mulmig, aber keiner beachtete mich.
Und Pityu, dem ich mich anvertraute, mußte hundert Heilige Eide schwören, daß er es nie nie niemals jemandem erzählen würde.
. . . auf ein Wort, mein Kind!
Natürlich wird jeder, der dabeigewesen ist, sofort merken, daß diese Geschichten so nicht ganz wahr sind. Na ja, die Geschichte von Erzsi ist - bis auf winzige Details - wirklich so passiert. Der elektrische Zaun war an diesem Tag nicht geladen, wahrscheinlich gab es während dieser Wirren nicht immer Strom. Dies, um ein kleines Beispiel dafür zu geben, wo eine Geschichte gefahrlos aufgewertet werden kann, ohne daß man gleich von Lug und Trug reden muß!
Die anderen Geschichten wie auch die Namen aller Personen sind erfunden, wenngleich jeder, der dabeigewesen ist, spüren wird, daß sich alles fast so abgespielt hat. Aber, wie soll ich eine Stimmung, eine Zeit und Erlebnisse von Menschen zu einer Zeit anders darstellen als in Phantasiegeschichten, die in irgendeiner magischen Weise doch wahr sind?
Am schlimmsten hat´s dabei Juli erwischt. Natürlich gab es nie ein blaues Bändchen, und daher hat sie sich auch nie nachts hinausgeschlichen und hat auch nie die Flaschen verwechselt. Es ist keine Infamie in meinem Herzen, wenn ich ihr diese Rolle andichte, ich wollte nur eine halbwegs plausible Erklärung für die Verwechslung der Fläschchen entwickeln. Und, so scheint´s mir, man kann sie lesen und genießen. Juli wird´s mir schon verzeihen....
Mein Vater (Bandi) kam ebenfalls mit Ildikó (die nicht so hieß) unverdientermaßen zum Handkuß. Andrerseits, wie soll ich als Achtjähriger Dinge, die ich sah und nicht verstand, in meiner Phantasie einordnen? Das hübsche junge Mädchen, das diensteifrig und auffallen-wollend um den Vater herumscharwenzelt? Natürlich war sie im Krieg noch nicht einmal geboren, und mein Vater hatte sein Lebtag lang andere Sorgen als scharwenzelnde Jungweiberröcke. Aber, so ungerecht ist unsere Dichterwelt halt, und Ildikó wird für mich weiterhin die einsam älter werdende Altjungfer bleiben, wenngleich die Tatsächliche wahrscheinlich mehrfache Großmutter, herzhaft lachfältig und sonstwie auch runzelig geworden ist.
Vielleicht hat Dir diese Geschichte doch gefallen, selbst wenn sich jetzt herausstellt, daß schon wieder nicht alles so stimmt, wie Du Dir es wünschst. Ich kann nur sagen: mir gefällt sie so. Und nächstes Jahr würde ich sie aufs Neue und wieder ganz anders und doch irgendwie wieder gleich schreiben.
Sie ist so passiert, genauso, jedes Jota, ich schwör´s!
Ho me dareis anthropos u paideuetai
Ein Mensch, den man nicht schindet, wird nicht erzogen!
Erst in späteren Jahren verstand ich obigen Sinnspruch, den der Stadtpfarrer von Troja, Laokoon, seinem König Priamos so locker und flockig dahinsagte. Nein, nicht einfach so dahinsagte: Laokoon war ein Verfechter der "gsunden Watschn", und daher tut er mir gar nicht leid, daß ihn die Seeschlangen schlingelingeling verschlangen. A gsunde Watschn war immer schon ung'sund Sie, Herr, Sie!
Davon abgesehen hatte Laokoon schon recht, denn der bekrittelte Prinz Paris war ein rotzfrecher Halbstarker, der aufmüpfig gegen die Götter anmotzte und sich furchtbar viel auf sein zukünftiges Königtum einbildete. Obwohl er, bei genauer Betrachtung, in Troja mit seinen kaum zweitausend Einwohnern höchstens den Bürgermeister mimen konnte. Paris, der an den Stränden Hellas und Trojas den Töchtern der Griechen und der Trojaner wollüstig nachstellte ...
Ich wollte aber ganz was anderes erzählen. Mein Vater vertrat die löbliche und ehrsame Meinung, seine Kinder müßten in Eliteschulen gehen, um die besten Startbedingungen für's Leben zu haben. Mein älterer und jüngerer Bruder besuchten eine weithin bekannte Schule im oberösterreichischen Ried, meine Schwestern gingen in ein Damenstift, das von hochgewachsenen Pinguinen geleitet wurde, und ich war prädestiniert für die STELLA MATUTINA, die überdrüber-Jesuitenschule Vorarlbergs.
Gottseidank waren die Jesuiten diesbezüglich klüger als mein Vater, erkannten meine Schwererziehbarkeit — ohne mich je gesehen zu haben — schon von weitem und ließen keinen Penny vom horrend hohen Schulgeld nach, Flüchtling hin oder her. Verständiger war da die Klosterschule am Bodenseeufer; die Fehde mit den Jesuiten von der STELLA glomm seit Jahrhunderten, und außerdem hat man ein Herz für Flüchtlinge. Ich freute mich auf den Bodensee, die tolle Sportanlage und die Pferde, die im angrenzenden Gehege von Schülern betreut wurden.
Nun, soweit die Theorie. Die Praxis war Pauken bis zum Abwinken, Sport im Hochleistungsbereich und abendlicher Hosenspanner (=Rohrstockschläge auf den nackten Hintern) für die kleinen oder großen Sünden des Alltags; Pferde sahen nur die Besten, Angepaßtesten und Fleißigsten. Das war man dem Klosteransehen schuldig, man war ja nur mehr Tausendstelsekunden hinter der STELLA. Wie diese war auch jene ein humanistisches Gymnasium, also Latein, Altgriechisch und breite, klassische Allgemeinbildung. Ich gestehe, daß ich manchmal vor Wut und Enttäuschung nachts in mein Kissen geheult habe, und das sehr, sehr leise, denn wir waren 40 Buben in einem Schlafsaal. Aber rückblickend bin ich für die profunde und durchaus moderne Ausbildung dankbar.
Mir sind nicht mehr alle Patres in Erinnerung, einige Namen werde ich jedoch nie vergessen. Paulus, der für Hosenspanner zuständige alte Haudegen; Ambrosius, der uns spielerisch Latein und Griechisch beibrachte; Kassian (der jetzige Abt), der als junger Turnlehrer einmal mit hochgesteckter Soutane die eingerüstete Kirchenfassade bestieg, um einen sturzbetrunkenen, liebeskummerkranken Maturanten vom stümperhaft geplanten Selbstmord wegen der Zurückweisung einer Kneipenkellnerin abzuhalten und über das Gerüst herunterzubekommen; Anselm, der für die Sängerknaben in der Frühmesse und das Theatergeschehen verantwortlich zeichnete. Es wird Sie, lieber Leser, nicht verwundern, daß ich mich nicht nur beim Fußball als gefürchteter Knöchelkiller hervortat, sondern mich auch unvorsichtigerweise — angespornt von Pater Anselms leeren Versprechungen — beim Vorsingen vordrängelte.
Und gewann.
Sechs Knaben mit glockenhellem Sopran begleiteten allmorgendlich als Chor den um zwei oder drei Jahre älteren Theo, der ein Wunderkind war und vermutlich ein neuer Benjamino Gigli geworden wäre, wenn er nicht Jahre später eines Morgens, mitten im gregorianischen Gesang, vom Herrgott abberufen worden wäre. Also das mit dem Chor will ernsthaft erklärt werden. Natürlich hüpfte mir das Herz bis zum Hals, als Pater Anselm nach dem Vorsingen die 6 Namen verlas, zuletzt "den kleinen István aus Ungarn". Einen Tag später hüpfte nix mehr, denn es ging um 5 (fünf!) Uhr morgens ohne Frühstück los, Chorgewand überstreifen und bei der Frühmesse glockenhell singen, gregorianische Choräle im Wechselgesang zu den Bässen der Patres, die schon um 4 mit ihrem stillen Gebet angefangen hatten. Wenn Theo sang, schloß ich die Augen und war zu Tränen gerührt: so will ich auch einmal singen, dachte ich immer wieder, ohne zu ahnen, daß der Stimmbruch mir einen Strich durch die Rechnung machen würde.
Gottes Lohn kam um halb sieben: während die anderen noch schliefen oder um die besten Waschplätze rauften, saßen wir Chorknaben bei den Patres im großen Refektorium, bekamen ein herzhaftes Frühstück und hörten wie sie schweigend dem Vorleser zu. So, wie es halt in einem ordentlichen Kloster zugeht.
Leider war ich nicht nur der glockenhelle Sopran, sondern auch der Knöchelkiller. Wann immer es uns erlaubt war, tobten wir auf dem Fußballplatz, schossen Tore und ich killte Knöchel, reihenweise. Eines Tages trieb ich es zu weit, wurde von wütenden Mitspielern umringt und mit dem Lynchen bedroht. Der Ravensburger kniff die Augen vor Schmerz zusammen und zischte, er würde mich herschlagen, und wie, denn ich sei eine Wildsau! Die Zwillinge aus dem Bregenzerwald machten dem Ravensburger alles nach und zischelten ebenfalls, obwohl sie aus meiner Sicht Winzlinge und Kröten waren. Diesmal aber war auch der Schweizer Roger S. sauer, und der war nicht ohne. Der Einzige, dessen Faust ich schon einmal gespürt hatte und der mich besiegen konnte. Mit dem war nicht zu spaßen, er war stärker als alle. Ich hielt meine blutende Nase nach seinem ersten Schlag und überlegte, ob ich dem Zwilling, den ich im Schwitzkasten hatte, die Luft komplett abdrehen sollte, während der Ravensburger, ein feiger Bodenseepirat mit Hakennase, sich oben auf das Knäuel warf und auf alles unter sich eindrosch.
Mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen taumelte Roger zurück, als ihn eine noch mächtigere Faust von hinten packte und zurückriß. Ich bekam wieder Luft, trat dem feigen Ravensburger kräftig in den Unterleib und taumelte los, weg vom Kampfplatz. Es war Klaus H., ein Liechtensteiner aus der Maturaklasse, der meinen Untergang nicht mit ansehen konnte und mich vor dem Gelynchtwerden errettet hatte. Der enttäuschte Mob trollte sich, Klaus verarztete meine blutende Nase und es entwickelte sich eine kurze Freundschaft, die damit begann, daß er mir die Grundbegriffe des fachgerechten Killens von hinterhältigen Ravensburgern, Bregenzerwäldern und Schweizern beibrachte. Oft besuchte ich ihn in seinem Einzelzimmer, wir lernten gemeinsam und als ich einmal seinen Atlas bewunderte, schenkte er ihn mir ohne Nachzudenken.
Ich war nicht undankbar. Doch was konnte ich 11jähriger einem (sagen wir) 18jährigen schon großartig bieten? Ich bekam zum ersten Mal die Lebensweisheit hautnah mit, daß auch ein unvermögender, aber kluger Kopf jemanden beschenken kann. Klaus war nämlich ein begabter Mensch, wohlerzogen und aus gutem Hause. Er war in Mathematik und den naturwissen schaftlichen Fächern ausgezeichnet, in den Sprachen allerdings war er ein Genie. Er sprach seinen Liechtensteiner Dialekt, perfekt sogar, aber alle anderen Sprachen blieben seinem Genie verborgen.
Er litt sehr darunter, und nach einiger Zeit gab er zu, daß er trotz fleißigem Pauken ein "geht-gerade-noch" schaffte, sowohl in Latein als auch in Griechisch. Ich konnte bereits griechisch Lesen und hockte oft bei ihm, paukte mit ihm und prüfte Vokabeln. Natürlich wußte ich schon seit Schulbeginn, daß am Jahresende eine Theateraufführung stattfindet, die Maturanten würden wie jedes Jahr Szenen aus der Ilias des Homeros nachstellen. Klaus war wie alle Maturanten eingeteilt und mußte zu seinem Leidwesen Achilles lernen, eine der geschwätzigsten Hauptfiguren bei der Belagerung Trojas.
Tolle Rüstung (vom Theater am Kornmarkt ausgeborgt), tolle Kampfszenen (mit echten Theaterschwertern) und ganz toll viel Text! Bei letzterem wirkte Klaus immer sehr bekümmert. Wenn er den Text vortrug, klang er nicht wie Achilles, der frivol die Götter beim Saufgelage lästert, herausfordert und dann auch noch dröhnend lacht, sondern wie Klaus, der abgehackt bellend mit ernster, beinahe sauerer Miene den Text stakkatiert, die Götter mit gebetsmühlenhaft heruntergeleierten Hexametern langweilt und von dröhnendem Gelächter natürlich auch keine Spur. Zudem hatte Achilles einen Freund, einen besten Freund, der hieß bekanntlich Patroklos, ein besonnener alter Krieger, der in königlichem Auftrag auf den ungestümen jungen Krieger aufzupassen hatte; darauf bestand König Agamemnon höchstpersönlich. Der Patroklos dieses Jahrgangs war jedoch in Wahrheit ein dem Wein, Weib und Gesang ergebener Schüler des Bacchus, schlief öfter in den Stadtkneipen als im Internat und versprach listig, "morgen", dann aber wirklich, mit Klaus die Dialoge der Freunde zu üben. Natürlich war "morgen" dann "heute", und Patroklos berief sich beleidigt darauf, so sei es doch abgemacht, "morgen", also nicht heute!
Tun Sie, lieber Leser, was immer Sie tun müssen, aber tun Sie eines nie: fordern Sie niemals die alten griechischen Götter heraus! Die gibt es nämlich - im Gegensatz zu UFOs - tatsächlich, und sie können furchtbar strafen. Etwa drei oder vier Tage vor der Aufführung, auf die sich Achilles sehr gewissenhaft vorbereitete und ich für Patroklos einspringend assistierte, hatte Gottvater Zeus genug von Patroklos, dem Saufbold. Er ließ den tapferen Helden, der zur Sperrstunde die angebetete Kellnerin und die geliebte Kneipe verlassen mußte, im Schanigarten einschlafen, obwohl es leicht regnete. Patroklos bekam eine Wahnsinnsnierenentzündung und lag bis über den Aufführungstermin hinaus im Spital. Zeus nickte grimmig und wandte sich wieder befriedigt seinen irdischen Gespielinnen zu; sein Ärger hielt wochenlang an, und so überließ er es auch Apollo, in Gestalt des Turnlehrers Pater K. den Sturzbetrunkenen vom Gerüst der Kirchenfassade zu pflücken . . . — Pater Anselm, seine Maturaklasse und Klaus waren tief betroffen; nein, nicht wegen der Nierenentzündung, sondern wegen des Problems, das innerhalb weniger Tage gelöst werden mußte. Man überlegte hin und her, Pater Anselm überlegte bereits laut, die Aufführung wegen höherer Fügung abzusagen oder selbst den Text zu sprechen, als Klaus halblaut vorschlug, ich (der kleine István aus Ungarn) könnte doch den Patroklos mimen.
Ohne dabeigewesen zu sein weiß ich, daß man in dieser Sekunde eine Stecknadel hätte fallen hören können, so still war es. Ein 11jähriger!? Den Patroklos!? Unmöglich! Nach einigem Hin und Her kam Klaus in den großen Studiersaal gerannt und flüsterte mit dem wachhabenden Pater, dann schlängelte er sich durch die Bankreihen und zupfte mich wortlos am Arm: "Mitkommen!" Ich hatte das Einverständnis signalisierende Kopfneigen des Wachhabenden abgewartet, dann flutschte ich wie ein Wiesel aus der Bank und lief hinter Klaus hinaus.
Lange wehrte sich Pater Anselm, meinte, meine Stimme sei viel zu hoch für einen älteren griechischen Helden, die anderen bemängelten, daß ich in der bronzefarbenen Brustwehr des Helden unterginge wie ein Bauernkind im Wintermantel seines Vaters, aber eins war nicht abzustreiten: ich kannte den Text beinahe fehlerlos auswendig, wußte aus den Regieanweisungen von Klaus, wann Patroklos wo sitzen oder stehen sollte und wann er das Schwert mutig zu zücken hatte, um Achilles klarzumachen, er, Patroklos, würde ihn, Achilles, notfalls mit Waffengewalt von seinem Vorhaben (nämlich den Helden Paris zu massakrieren) abhalten.
Laune des Schicksals oder Gunst der Götter, um die ich inständigst gebetet hatte? Beim dritten Probegalopp gab sich Pater Anselm einen Ruck und sein Einverständnis. Die Maturanten johlten und klopften mir auf die Schulter. Patroklos, laß uns Freunde sein! Ich kam mir plötzlich sehr klein und verletzlich vor zwischen all den großen, starken Helden Griechenlands und Trojas. Helena (die eigentlich Peter hieß) lispelte grinsend, Patroklos würde die Lacher auf sich ziehen und von ihr/ihm ablenken. Gottseidank, fügte die Schöne der Nacht mit einem heidnischen Wahnsinnsaugenaufschlag hinzu. Pater Anselm ging kopfschüttelnd ins hintere Theaterzimmer und suchte für mich eine möglichst kleine Brustwehr, den kleinsten Helm und einen Hanfbart aus. Der Helm blieb später weg, ich bekam so eine Art purpurroten Turban und mein Milchgesicht wurde mit einer dunklen Paste gebräunt.
Ich hatte ordentlich Schiß und Lampenfieber und verhaspelte den Text in der Generalprobe, so daß ich vor Wut fast in Tränen ausbrach. Pater Anselm war ein guter Mensch, er umarmte mich mütterlich und sagte, es würde alles gut, ich könne bei der Aufführung den Text mitnehmen und ablesen, man würde das schon verstehen.
Freund Patroklos, sagte er dann bei der Ansage vor der Aufführung, habe leider einen Unfall gehabt und liege im Spital (tja, nun war ich aufgeklärt: auch Geistliche schwindeln). Aber, setzte Pater Anselm fort, ich habe ein junges Griechischtalent in der Unterstufe entdeckt (korrigiere: lügen schamlos), der den Patroklos wie die Großen sprechen könne; also bitte er um wohlwollendes Verständnis für meine hohe Kinderstimme und den Kleinwuchs, der aber den echten Patroklos sicher nicht daran gehindert hätte, den Tod seines Schützlings Achilles zu rächen. Dermaßen vorbereitet wartete das Publikum gespannt auf die "Szenen aus der Belagerung Trojas".
Sie müssen sich das so vorstellen: die Requisiten, also Kulissenbilder, Bewaffnung und Bekleidung der Sagenhelden, wurden vom Theater am Kornmarkt ausgeliehen. Das Hintergrundbild war ein Renaissancegemälde, eine englische Parklandschaft mit einem englischen Castle: das also wäre Troja. Grobe Kartoffelsäcke mimten den Sandstrand davor, mit Fetzen abgedeckte Holzstühle mußten als Sitzgelegenheit herhalten. Das Lagerfeuer, um das sich die Helden scharten und ihre Dialoge hinausschmetterten, war als Holzstoß zwar da, durfte aber feuerpolizeilicherseits nicht angezündet werden, wodurch das Ganze irgendwie irritierend unecht aussah. Daß die Helden römische Legionärsrüstungen und römische Kurzschwerter trugen, konnte nur einen pedantischen Kleingeist stören. Der kunstliebhabende Zuschauer konnte die Augen schließen und sich direkt vor das alte Troja versetzt fühlen. - Alsdann!
Ich hatte nur einen ganz kurzen Auftritt, im vierten Schaubild. Vor Nervosität legte ich mein Manuskript verkehrt hin, der Turban rutschte mir über die Stirn und über die Augen, als ich beim Hereinkommen den viel zu großen Helm absetzte. Das Publikum sah ich wegen der starken Scheinwerfer nicht, aber daß hinter den Lampen ein großes, atmendes und hüstelndes Ungeheuer lauerte, das spürte ich sofort. Hastig drehte ich das Manuskript zurecht und memorierte die ersten Verse, bis ich merkte, daß ich sie eh konnte.
Achilles kam umständlich herein und gab mir damit - wie ausgemacht - ein wenig Zeit. Dann legten wir los. Wie schon bei der Generalprobe irritierte mich das Dazwischenreden von Odysseus und Herakles, die das zwar völlig zu Recht taten, aber beim Training mit Klaus hatten wir ihren Part natürlich unterschlagen. Nun mußte ich vorsichtig abwarten, bis ich von Klaus das Zeichen zum Lossprudeln bekam. Griechisch verstand ich natürlich noch recht wenig, aber ich las schnell und versuchte, den Rhythmus der Dichtung zu finden. Klaus zog die Brauen düster zusammen, um mich auf meine völlig deplazierten, italienisch anmutenden Gesten und Handbewegungen aufmerksam zu machen.
Pater Anselm nickte dem Abt und dem Bürgermeisterstellvertreter anerkennend zu, nickte gerade dann besonders anmutig und aufrichtig heuchelnd in die Runde, wenn ein Held sich unrühmlich verstolperte und verhaspelte.
Das Finale nahte. Patroklos konnte Achilles besänftigen, indem er selbst dessen Rüstung nahm und auf Herakles eindrosch. Der bullige Halbgott ließ sich das nicht gefallen und so mußte ich - theatralisch weiterdeklamierend - in den Sand beißen. Der tote Patroklos beobachtete aus den Augenwinkeln das rasante Ringelum-Töten; Menelaos endlich rettete meinen Leichnam und Achilles' güldne Rüstung: er riß mich am Ellenbogen hoch, schleifte mich um das immer noch nicht angezündete Lagerfeuer und ließ mich dahinter krachend auf die Bretter, die die Welt bedeuten, fallen. Klaus, den das schmerzverzerrte Gesicht seines Freundes Patroklos zum Lachen traurig stimmte, schmetterte grimmig seinen Text auf Bürgermeisterstellvertreter, Festspieldirektionsassistent und P. Anselm herab, bis seine Göttermutter Thetis (Mehrfach Transvestit Helena, in einen schwarzen Umhang gehüllt) ihm Schild, Helm und Lanze aus der Tiefsee brachte. Damit unbesiegbar geworden erschlug er Herakles, dann wurden Fackeln angezündet, und während der Chor der verbliebenen Helden einen letzten Totengesang singsangmurmelte, fiel der Vorhang, verlöschte das grelle Licht.
Cäsars Triumphe konnten nicht größer sein, als der Vorhang nach dem letzten Schaubild fiel und das Publikum, angeführt von Pater Anselm, frenetisch zu applaudieren begann. Ja, nicht wir verdienten den Applaus, sondern Pater Anselm, der aufs richtige Pferd gesetzt hatte und den Mut hatte, ein Milchgesicht in die Truppe aufzunehmen; Pater Anselm war es, der eine Horde Halbstarker gezähmt und im Theater triumphal vorgeführt hatte. Während sich die Helden im Umkleideraum pathetisch umarmten und wie verrückt taten (wie alle, denen eine ungeheure Last von den Schultern genommen wird), reichte mir Klaus einfach die Hand und blickte mir in die Augen. Danke, mein Freund Patroklos, sagte er und das war's dann.
Knöchelkiller!? Nein, fortan riefen sie mich Patroklos, der Ravensburger hieb mir jovial auf die Schulter und meinte, er habe es ja allen gesagt, ich würde es bringen, aber voll! Die Zwillinge schauten sich an und wisperten, daß sie das auch immer schon gesagt haben und so weiter. Roger blieb ehrlich, bekam die Hände nicht aus der Hosentasche und murmelte trotzig über seine Schulter zurück, daß ich nur großes Glück gehabt habe, einfach nur Glück!
Dann räumten wir das Theater auf und die Großen gingen zum Festessen, das in den Privatgemächern des Abtes stattfand, denn das war so Tradition. Klaus zupfte Pater Anselm am Ellenbogen und dann verkündete Pater Anselm, ich müsse natürlich auch mitkommen, zum Abt. Ich versank fast im Boden, als der Hohe Herr meinen Kopf tätschelte und meinte, ich hätte Pater Anselm und dem Kloster einen guten Dienst erwiesen, als ich für den Erkrankten eingesprungen sei. Er wechselte noch ein paar belanglose Worte über das Sein und Nichtsein von Flüchtlingskindern und den Großmut des Herrn, mich mit einer schönen Stimme und einem guten Gefühl für griechische Tragödien ausgestattet zu haben (obwohl ich nur ein Flüchtlingskind sei, nota bene!), dann verlor sich sein hochwohlgeborenes Interesse.
Eigentlich sollte ich über das Gelage der sagenhaften Helden nicht berichten. Soviel sei verraten, daß Bruder Josef ganz schön ins Schwitzen kam, als der Abt anordnete, Patroklos bekäme Milch, frische Milch! Die Helden von Troja johlten, Bruder Josef verdrehte die Augen und wisperte, daß es frische Milch aus agrartechnischen Gründen erst wieder am Morgen gäbe, aber nix da, winkte der Abt, der Junge bekommt keinen Wein! Dann wandte er sich dem Herrn Bürgermeisterstellvertreter und dem Herrn Festspieldirektorsassistenten zu und interessierte sich nicht mehr dafür, was der Junge wirklich bekam. So kam es, daß Patroklos zum ersten Mal in seinem Leben Bekanntschaft mit der weißen Schorle machte.
Bruder Josef brachte das Glas mit leicht zitternder Hand und Klaus murmelte trocken, zur Not ginge das als Milch gerade noch durch. Ego te absolvo, raunte er dem verunsicherten Bruder verschwörerisch zwinkernd zu, der hastig ein Kreuz schlug und machte, daß er fortkam.
Natürlich gab es kein Happy End. Nach dem langen Essen und Trinken entsann sich der Hohe Herr Abt wieder des kleinen Ungarnflüchtlings und forderte diesen auf, er solle ein ungarisches Kirchenlied vorsingen. Der Knabe wurde knallrot und wisperte mit versagender Stimme, er könne jetzt nicht, aber der strenge Blick Pater Anselms ließ keine Ausflüchte zu. Selbst die Tatsache, daß der Knabe kein ungarisches Kirchenlied kannte, hätte nichts geholfen, und sein stummes Flehen verhallte ungehört im Prunksaal. "István wird uns jetzt ein ungarisches Kirchenlied vorsingen" verkündete Pater Anselm mit seiner weichen Eunuchenstimme und faltete seine Hände wie zum Gebet. Schwarze Nebel verlegten das leere Kirchenlied-Repertoire des Knaben. Klaus, der die Not des Knaben blitzartig erkannte, trat mir ins Schienbein, ich solle einfach lossingen, egal, was. So kam es, daß der Herr Abt, die Honoratioren und die Helden von Troja mit gefalteten Händen und gottesfürchtig aufs Tischtuch blickend einem vermeintlichen ungarischen Kirchenlied lauschten, das quietschend und reichlich mäßig aus der Knabenkehle erscholl und in der Übersetzung leicht als Kinderlied erkannt werden kann:
"Hinter der Oberenns, hinterm Meer, lebte einst ein kleiner Maikäfer, ..."
Im Spätsommer 1967 unternahmen mein Bruder János (1945 — 1977) und ich eine Korsika-Fahrt mit dem Moped, die mich - damals 18jährigen - bis an meine Grenzen führte. Da später fast alle Dokumente und Fotos bei dem Brand unseres Elternhauses zerstört wurden, muß ich dieses Abenteuer größtenteils aus dem Gedächtnis rekonstruieren. Trotzdem ist alles so geschehen, wie ich es beschreibe; es kann allerdings sein, daß der eine oder andere Hai, dem wir begegneten, heute in meiner Erinnerung etwas größer und bedrohlicher erscheint . . .
Der rege Briefkontakt zu meinem in Rom studierenden Bruder führte immer wieder zu gemeinsamen Abenteuern. So war es auch 1966: während ich zwischen meiner Heimatstadt Bregenz und der Schule in Salzburg pendelte, stuckte mein 3 Jahre älterer Bruder János Kirchenrecht und Dogmatik am Institut Germanicum et Hungaricum, las täglich stumm sein Brevier und schielte manchmal verstohlen auf den kleinen Kartenausschnitt, den er in den Innenumschlag des Breviers geheftet hatte:
Korsika.
Meine zwei- bis dreiwöchentlichen Besuche im Elternhaus liefen oftmals nach dem gleichen Schema ab: herzliche Umarmung des Vaters, der Mutter und der Geschwister; danach einige Minuten Bericht über meine Erfolge (das "andere" berichtete ich meist erst kurz vor der Abfahrt, klar!). Dann eilte ich in den Garten und machte mich über Vaters Moped her. Jener ging inzwischen auf die 50 zu und leistete sich ein erstes Auto; sein Moped wurde von allen verwendet, die damit umgehen konnten. Also von mir, da meine Schwestern ja Mädchen waren (!) und mein jüngerer Bruder noch zu jung.
Unbemerkt vom Alten Herrn verwandelte ich mich im Garten in einen genialen Mechaniker, widmete mich dem Aufmöbeln und Frisieren des guten Stückes. Hätte Vater jemals geahnt, was wir Jungs da wirklich trieben, er hätte uns wohl ordentlich versohlt. So aber war er glücklich, daß ich mich mit Feuereifer einer konstruktiven Tätigkeit - dem Mopedputzen, wie ihm schien - widmete und nicht mit einer Horde biertrinkender Rowdys herumzog. In Wahrheit zerlegte ich das Ding blitzschnell und ging mit den Werkstücken zum Nachbarjungen, der ein begnadeter Mechanikerlehrling war und mich großzügigerweise zum (Moped-)Friseurmeister ausbildete. Kurzum, aus einem Puch 50 wurde ein Geschoß, das einen aufgebohrten Vergaser und geweitete, glattpolierte Spritkanäle hatte, ebenso einen ausgeräumten und mit einem kleinen Fußhebel ausrastbaren zweiten Auspuff-Schalldämpfer (den ich wohlweislich bei meinem Lehrmeister lagerte). Inoffizielle Messungen ergaben Spitzenwerte von an die 100km/h bei Rückenwind.
Im fernen Rom beugte sich János über die Karte, tüftelte an Varianten der Streckenführung, erfragte Preise für die Fähren und beobachtete argwöhnisch das Steigen und Fallen der Benzinpreise, kaute verzweifelt am Rechenstift und schüttelte wohl das eine oder andere Mal den Kopf: unsere gemeinsamen Finanzen würden uns kläglich mitten in den korsischen Bergen hängen lassen. Ich feilte und bohrte indessen unverdrossen am Auslaßventil und polierte es stundenlang, dann schrieb ich János, er solle sich keine grauen Haare wachsen lassen, denn ich hätte für drei Wochen noch einen Job angenommen, der unsere Kassa auffetten würde.
Dieser Job hatte es in sich und würde ein eigenes Kapitel füllen; vielleicht nur soviel, daß wir Haushaltsgeräte in Eisenbahnwaggons verluden und dafür Geld bekamen. Die zusätzliche Nachtschicht brachte mir nochmals eine Menge Zaster, doch geriet ich an einem der letzten Tage mit einem Bein zwischen Bahnsteig und Waggon, das Knie schwoll unförmig an und beendete mein Gastspiel. Zum Arzt konnte ich nicht gut gehen, da bei diesem Job wahrscheinlich die geschnorrten Zigaretten das einzig Legale waren (genauer gesagt bezweifle ich heute selbst das, denn auch die dürften Schmuggelgut gewesen sein...). Der Partieführer, ein ehemaliger Fremdenlegionär, zahlte mich unwirsch dreinblickend aus und jagte mich zum Teufel, nachdem er mir nochmals eingeprägt hatte, daß es hier keine Elektrogeräte und auch keine Waggons gäbe und er mich überhaupt nicht kenne.
Der Plan für die Korsikafahrt war genial einfach: ich fahre mit dem Moped von Bregenz nach Rom, dort steigt János zu und wir fahren mit der Fähre nach Sardinien und von dort weiter nach Korsika. Am Ende würden wir mit einer dritten Fähre nach La Spezia übersetzen, wo ich János am soundsovielten zum Zug nach Florenz bringen müßte. Von Florenz würde ich wieder allein mit dem Moped nach Bregenz fahren. Wir würden etwa 2.800 km auf der Straße zurücklegen, im Freien oder in Heuschobern übernachten und überhaupt sehr, sehr sparsam sein.
Um sich ein Bild zu machen: ein Puch 50 Moped (nicht zwei), mit zwei Jungs plus einem großen Rucksack oben drauf, kein Zelt, keine Schlafsäcke und kein Gramm zu viel. Und natürlich mit Auspuff N°2. Vater borgte mir seinen Lederhelm, den riesigen Gummimantel lehnte ich dankend ab, wegen Gewicht und "in Korsika scheint immer die Sonne". Außerdem - das hätte Vater wissen müssen - trägt James Dean keinen Gummimantel à la Gestapo.
Die Bekleidung war so eine Sache, die erwähnt werden muß. Ich muß offenbar zu viel James Dean oder Humphrey Bogart gesehen haben, auf jeden Fall hatte ich vom Roten Kreuz einen weißen Hut, besser gesagt, einen ehemals weißen, breitkrempigen Hut und eine schäbige, abgetragene Lederjacke geschnorrt. Außerdem kaufte ich mir (schweren Herzens und ohne János zu vorher zu informieren) eine weiße Jeanshose. Ja, weiße Jeans! - Es darf gegrinst werden: da saß ich auf dem weißen Moped, mit braunem Lederhelm, schwarzschäbiger Lederjacke, weißem Schal und weißer Hose: das Outfit eines Abenteurers! — James Humphrey Rudas.
Dann rasselte mein Wecker um drei Uhr früh, ich packte den Rucksack auf das Moped, umarmte Mutter und fuhr mit klopfendem Herzen los. Gegen Morgen erreichte ich Chur und fuhr zum kleinen San Bernardino-Paß hinauf (den Tunnel gab es entweder noch nicht oder ich wollte nicht unten durch). Je höher ich mit meinem Mopperl kletterte, desto kälter wurde es; langsam verdunkelte sich der Himmel und ich erreichte das Grenzerhäuschen im Schneetreiben. Die Grenzer staunten nicht schlecht, und während der eine mit meinen Papieren im Büro verschwand, stieg ich ab und turnte ein bißchen herum, um mich aufzuwärmen. Grinsend ließ mich der andere unter die Tür treten und meinte dann, ich könne mir einen Tee aus seiner Thermoskanne nehmen. Ich wurde langsam wieder warm und schüttelte den Schnee von meiner nassen, weißen Jeanshose.
Am späten Nachmittag erkletterte ich den Giove-Paß nördlich von Genua (ich mußte natürlich nicht über Genua, aber weil ich gehört hatte, daß dort der Hafen besonders toll sei, mußte ich doch). Das Moped keuchte und spuckte und ich stieg immer öfter ab, um die Kerze zu putzen und nach der Ursache zu forschen. Bei der Stadteinfahrt von Genua war es dann soweit, daß ich nur mehr einige hundert Meter weit kam, dann erstarb der Motor. Ich suchte nach einer Werkstatt und fand nach langem Suchen eine, die gerade schließen wollte. Mein Strebern in der Schule (oder sollte man besser: das nicht zu häufige Schwänzen sagen?) zeigte erste Früchte: italienisch radebrechend zeigte ich auf "il Vergasero" und "nix funziona maladetto Scheißdreck!". Der Meister schob mich zur Seite, schüttelte den Kopf beim Anblick meiner Auspuffskonstruktion und meinte dann, der "carburatore" sei hinüber. Er deutete mir kopfschüttelnd, daß man da zu viel herumgefeilt habe. Meinetwegen, soll der Vergaser ab jetzt carburatore heißen, was machen wir?
Was ich mit meinem Vergaser machen konnte, merkte ich, als er es kurzerhand über die Schulter in den Eimer warf. Dann ging er hinten hinaus, ich zockelte hinterdrein und strahlte: er hatte da Dutzende Mopedwracks liegen, machte eine einladende Handbewegung und reichte mir seinen Schraubenschlüssel. Ich nickte, ging von Wrack zu Wrack und hatte nach einiger Zeit zwei Vergaser, die passen müßten. Der Meister nickte, nahm mir einen aus der Hand und schüttelte den Kopf: ab in den Eimer! Den zweiten wog er in der Hand, dann sagte er eine Zahl, die meine Kehle zuschnürte. Ich kramte in meiner Hosentasche und begann herumzuzählen; er lachte und sagte: okay! Er gab sich mit einem Geldschein zufrieden, dann sagte er, daß ich vorn im Hof werken könne. Ich solle danach nur mehr das Werkzeug wieder in die Kiste legen, dann sperrte er die Werkstatt zu und verschwand.
Ich brauchte etwa 2 Stunden, um den Vergaser einzubauen, der ein wenig größer als der Ursprüngliche war und auch mehr leistete; allerdings auch, was den Spritverbrauch betraf. In der Dunkelheit machte ich eine Probefahrt zum Hafen, wo naturgemäß schon alle Schiffer in der Koje lagen und ich außer Stille und Dunkelheit nichts Besonderes entdecken konnte. Na ja, Stille eigentlich auch nicht, da plötzlich einige Schiffer wild herumbrüllten, ich solle mit meinem carburatore schauen, daß ich weiterkäme! Ich fuhr einige Kilometer nach Süden weiter und schlief am Ortsrand eines Dorfes, dessen Name ein "Mamma" enthielt, im Gras.
Im Morgengrauen fuhr ich weiter, sah mir immer wieder meine weißgefleckte Jeanshose an und trauerte. Sie war nicht mehr weiß, nicht ganz. Dafür war der Vergaser perfekt und die Maschine hatte wieder Biß, und wie ich meinte, sogar mehr als zuvor. Irgendwo auf der Landstraße nach Grosseto testete ich die Geschwindigkeit und kam auf ca. 90 km/h. Dann probierte ich auch, was ich bei anderen italienischen Mopedfahrern gesehen hatte: ich hielt mich mit einer Hand an der Ladebordwand eines LKWs fest, ließ mich mitziehen und stellte den Motor ab, um Sprit zu sparen. (Kinder: bitte nicht nachahmen!) Am Abend des nächsten Tages fuhr ich in Rom vor dem Collegium Germanicum et Hungaricum vor. Verschwitzt, verschmutzt und in meiner schwarzweißen Jeanshose.
Der Bruder Pförtner wollte mich eigentlich unwirsch wegschicken (Betteln und Hausieren verboten!), aber mein Bruder holte mich an der Pforte ab. Ich mußte noch einige Tage in Rom warten, bis János mit seinen Prüfungen fertig war und wir endlich losfahren konnten. Tagsüber durchstreifte ich planlos die Ewige Stadt, besah mir alles und jede und kehrte am Abend - zumeist hungrig - ins Priesterseminar zurück. Schlafen durfte ich dort nicht, aber János hatte mir einige Häuserblocks weiter ein billiges, einfaches Zimmer besorgt. Er begleitete mich allabendlich bis dorthin, da der Weg durch das Hurenviertel führte und er sich Sorgen um mein Seelenheil machte, wie er grinsend eingestand. Aber die Signora Zimmerwirtin (wie sie hieß, habe ich vergessen), eine tagtäglich mit den Unbilden der Kosmetik kämpfende Fregatte mittleren Alters, geleitete den Padre (das war János in seiner roten Soutane, dem Priestergewand der Seminaristen) und den Signore (das war ich) geduldig ins Zimmer und mußte dem Padre Abend für Abend versprechen, auf meine Tugend zu achten. Und kaum war er weg, kam sie mit einer großen Flasche Birra Forst wieder und meinte augenzwinkernd, die ginge aufs Haus.
Wir hatten ein großes Problem. Am letzten Tag durften wir zu einer "privaten" Papstaudienz, wobei das "privat" sich darauf bezog, daß lediglich ein paar Hundert (und nicht Tausende) Gläubige anwesend waren. Das Problem war, daß ich nichts zum Anziehen hatte. Die schwarzweiß gefleckte Jeanshose war schlichtweg nicht papabel. - János hatte manchmal geniale Ideen. So auch jetzt: er brachte mir seine "Zweit-Soutane" und ich schlüpfte hinein; nun gut, János war einige Zentimeter größer als ich und auch einige Kilo schwerer, aber es würde schon gehen. Doch der Zimmernachbar Wolfgang (später mein Trauzeuge und danach Bischof in Deutschland) schüttelte den Kopf und meinte, das könnten wir nicht tun. Ein anderer Freund, Gyuri (später Erzbischof in Alba Julia, Rumänien) meinte, wir müßten halt die Hose reinigen. Also knieten wir zwei Mann hoch vor der Badewanne, rieben das gute Stück mit einer Handbürste und noch einer Bürste, deren Herkunft ungewiß war, und verbrauchten Seife um Seife, die Flecken wurden blasser und blasser, bis sie hellgrau wurden. - Auf die Idee, in eine Reinigung zu gehen, kamen wir nicht. Als mir Gyuri, der etwa meine Größe hat, auch noch ein schneeweißes Hemd borgte, stand dem Besuch im Vatikan nichts mehr im Wege. Salopp würde ich heute formulieren, daß ich zwar nicht in den Schuhen des Fischers gestanden, aber die Socken eines deutschen Bischofs und das Hemd eines rumänischen Erzbischofs getragen habe.
Die Papstaudienz verlief unspektakulär. Es wurden Urkunden und Medaillen überreicht, irgendein Prinz bzw. sonstige Lordschaft durfte als Einziger vor dem Thron kurz niederknien und den Ring des Petrus küssen. Am Schluß defilierten die Gläubigen aus den Sitzreihen in einer langen Schlange vor dem Heiligen Thron vorbei, durften kurz dem Papst aus einigen Metern Entfernung zunicken und hatten gleich weiterzugehen. Der päpstliche Ohrflüsterer stand neben Seiner Heiligkeit und flüsterte Namen, Rang und Bedeutung des Vorbeidefilierenden ins Heilige Ohr. Man wird es nicht für möglich halten, aber ich habe ganz genau verstanden, was da geflüstert wurde, denn ich konnte (damals zumindest) Lippenlesen:
"Der Conte die Prensa ..."
"Gott segne Dich, mein Sohn!"
"... und seine Tochter, die Contessa!"
"Gott segne Dich, meine Tochter!"
"Lord Greenbawm und Gattin Sara!"
"Gottes Segen!"
"Seminaristen aus dem Priesterseminar Germanicum & Hungaricum!"
"Gott segne Euch, meine Söhne!"
"Familie Pongratz aus .. "
"Benedetto, Du hast einen ausgelassen!" sagt seine Heiligkeit tadelnd. Benedetto blickt mich nochmals kurz an, dann flüstert er: "Eure Heiligkeit, die roten sind aus dem Priesterseminar, dann kommt die Familie Pongratz aus ..."
"Nein, der da dazwischen, der in der weißgefleckten Uniform!" und es schwingt schon ein wenig Unmut in der Heiligen Stimme mit.
Die Augen des päpstlichen Ohrflüsterers ätzen ein tiefes Loch in mein Hemd: "Ein Seminarist, der offenbar keine Soutane trägt, Eure Heiligkeit!"
"Benedetto, Benedetto!" Der Ton wird etwas schärfer, die Heiligen Nüstern beben: "... und, sag, riechst Du es nicht, es riecht hier plötzlich so streng nach billiger Seife ...?"
"Ein Irrer aus Vorarlberg, der in der weißen Hose sein Moped zu reparieren pflegt und daher dementsprechend aussieht, auf dem Weg nach Korsika, und die Familie Pon......"
"Gott segne Dich, mein Sohn!" fällt ihm der Ur-ur-enkel Petri ins Wort, dann senkt Seine Heiligkeit die Stimme und zwinkert: "... und versuch's vielleicht mal mit Rei!"
Familie Pongratz schob und drängelte, also ging ich weiter, hörte aber noch, wie Seine Heiligkeit vor sich hin murmelte: "Als ich jung war, da habe ich auch...." den Rest konnte ich leider nicht hören.
Na ja, war vielleicht nicht ganz so, aber im Wesentlichen. Inmitten all dieser wie Pfingstochsen herausgeputzten Schnösel kam ich mir sehr klein und nichtswürdig vor, versteckte mich hinter meinem Vordermann und bereute alle meine Sünden multipel, besonders jene des unerlaubten Vergaserfrisierens, und die sogar dreifach, gelobte Besserung und daß ich nie nie nie mehr das Bier der Frau Signora trinken werde. Ehrlich.
Am nächsten Morgen, d.h., am Morgen, nach dem ich obiges Biergelübde doch noch gebrochen hatte, und lange, bevor die römischen Spatzen erwachten, knieten wir beide vor dem Pater Spiritus (der nicht wegen seiner Trinkgewohnheiten so hieß, sondern weil er der Gute Geist des Hauses war) und empfingen seinen väterlichen Segen für unser Vorhaben. Dann fuhren wir fröhlich auf dem blankgeputzten Moped nach Südwesten, zur Fähre nach Civitavecchia, die uns über Nacht nach Sardinien brachte.
Olbia auf Sardinien empfing uns in aller Herrgottsfrühe mit strahlendem Sonnenschein und einem unfreundlichen Beamten, der unsere Papiere mindestens eine Stunde zurückhielt, aber wir blieben standhaft und rückten kein Bakschisch heraus. Irgendwann wurde es János zu viel und er holte seinen Seminarausweis, lateinisch und mit päpstlichem Wappen, heraus. Im selben Augenblick waren die Papiere o.k., und wir blickten uns an: das nächste Mal wird der Ausweis gleich gezückt!
Wir verbrachten den ganzen Tag damit, langsam und gemächlich nach Norden zu fahren. Die Entfernung betrug nur eine Fahrstunde, also badeten wir in einer Bucht, grillten eine Scheibe Schwarzbrot zum Dosenthunfisch. Die Fähre nach Korsika ging erst gegen Abend, also trödelten wir den ganzen lieben Tag herum und machten uns am Spätnachmittag auf den Weg nach Santa Teresa di Gallura, dem nördlichsten Punkt Sardiniens, nur wenige Zentimeter vor Korsika (schauen Sie im Atlas nach, wenn Sie's nicht glauben!).
Dieses Santa Teresa, falls Sie noch nie dort gewesen sein sollten, war damals ein Nest mit nicht mal 10 Häusern, einem Lagerschuppen samt Polizeiwachstube (zugleich Hafenmeisteramt und Grenzstation) und einer von den Alliierten hinterlassenen Betonmauer, die zur Not (allerdings: nur dann) als Hafenanlage durchgehen konnte.
Die Fähre war noch nicht da, aber ich war vom Vortag schon gewitzt und wußte, daß ich in der ersten Reihe stehen mußte, um rasch dranzukommen. Wir stehen also da mit dem Moped, richten das Gepäck und rascheln mit den Tickets, ohne zu bemerken, daß sich der Dorfpolizist und zwei weitere Zivilisten mit Schrotflinten hinter uns gestellt hatten.
Auf einmal werden wir angerufen: "Hände hoch!" Zum ersten Mal in meinem Leben blicke ich in Pistolen- bzw. Gewehrläufe und mir wird ganz anders. János blickt mehr erstaunt als ängstlich auf und will auf die drei zugehen, um zu fragen, was denn, wie denn; aber da schreit der Polizist, daß er ja stehen bleiben soll, Du Schurke, sonst kracht's! Also stehen wir da, mit halb erhobenen Händen, lächerlich, mit (ganz) zitternden Knien und schauen vermutlich wenig intelligent drein.
Getuschel der Drei, wer uns denn entwaffnen soll, Giovanni, geh Du vor, nein, ich habe zwei Kinder, mach's doch selbst! Der kleine dicke Polizist kommt vorsichtig näher und meint, wir sollen unsere Jacken öffnen, aber langsam. Wir folgen in Zeitlupe seiner Anweisung, er geht rundherum, schaut und guckt, dann tastet er uns vorsichtig ab und ruft den anderen beiden zu: "Sie haben keine Waffen!" - János will fragen, was denn los sei, aber der nervöse Polizist schreit, daß er das Maul halten soll. Also schweigen wir, die Männer und der Polizist stehen unbeweglich und alle warten. Dann sagt der Polizist, wir sollen vorgehen, in die Wachstube.
Einer der Männer geht vor und sperrt auf, János und ich stolpern hinterdrein und dann sitzen wir in einer kleinen, dreckigen Zelle. Draußen ist inzwischen ein Volksauflauf, alle johlen und schreien durcheinander: "Jetzt haben wir sie!". János und ich blicken uns ratlos an, wir hören ein Tuten und unsere Fähre legt an. Nach einigen Minuten, die uns wie eine Ewigkeit vorkommt, kommt der Polizist in die Wachstube und telefoniert hektisch. János lauscht und übersetzt mir, daß wir die gefürchteten Bankräuber seien, die im Ort Palma heute Vormittag die Bank ausgeraubt und einen Wachmann angeschossen haben. Dann sagt er ganz trocken: ich wußte gar nicht, wie gefährlich wir eigentlich sind.
Unsere Fähre, die sich im Verlauf der letzten halben Stunde mit Menschen, Autos und Ziegen gefüllt hat, tutet dreimal kläglich und legt dann ab. Im Geist zerreiße ich unsere Tickets und überlege, was wir die zwei Tage tun sollen, bis wieder eine Fähre dieser Gesellschaft fährt. Und wie wir dieses Riesenloch in der Reisekassa je wieder stopfen können.
Der Sheriff ruft einen Kollegen nach dem anderen an, erzählt in immer länger werdenden Varianten, wie er und Giovanni und Guido, also - eigentlich nur er und Giovanni, nein, eigentlich er allein die gefährlichen Mordbuben festgesetzt habe.
Das Telefon klingelt schon wieder, das Gesetz hebt ab. Offenbar ist ein General am Rohr, denn er springt auf und salutiert vor dem Unsichtbaren. Ja, es seien zwei. Ein Kleiner und ein Großer, ja, mit Glatze. Ich atme auf, denn ich habe buschiges, dichtes Haar, James-Dean-Verschnitt. Nein, der Große hat die Glatze. Ich sinke wieder in mich zusammen. Ja, eine Lederjacke. Weiße Hose, ja, aber sehr dreckig. Nein, die Gewehre haben sie weggeworfen. Ich fühle in meinem Hals ein Würgen, ich frage János, ob das Garrottieren nur in Spanien oder auch auf Sardinien noch in Mode ist. Er sagt, pscht, und die Garrotte gibt's zur Zeit gar nirgends mehr.
Der Sheriff nickt am Telefon. Sie haben alles dabei, sie sind es, sicher! Nein, die Gewehre nicht, und das Geld auch nicht, aber einen Riesenrucksack, den habe er schon untersucht. Nur Touristenkram. Und ein weißes Motorrad, ja, das habe er beschlagnahmt. Steht vor'm Haus, Brigadiere.
Nein, weiß, nicht schwarz. Mit ausländischem Kennzeichen, den müssen sie geklaut haben. Nein, ein schwarzes Motorrad, ach so.
Ich horche auf. Die Kotflügel sind aus weißem Plastik, das kann nicht überpinseltes Schwarz sein, das kann ich beweisen.
Der dicke, schwitzende Polizist kramt in unseren Papieren und liest unsere Daten vor. Dann meint er, es kann nicht stimmen, der Kleine ist sicher nicht 17, sicher älter. Auf einmal stutzt er. Druckst herum, dann sagt er: Brigadiere, der Große mit der Glatze hat einen komischen Ausweis dabei, Colleggio undsoweiter, päpstliches Wappen. Eine sehr schöne Fälschung. Sein italienisch vorgelesenes Latein bringt mich fast zum Lachen.
János sagt durch die Gitterstäbe, rufen Sie doch dort an, Signore, ich sage Ihnen die Nummer! Der Polizist winkt, er solle still sein, horcht dann in die Muschel und murrt unwirsch: also gut, wie ist die Nummer? János schließt die Augen und ruft die gespeicherten Dateikarte ab: geduldig wiederholt er Zahl für Zahl, die dann der Dicke seinerseits wiederholt und der Unsichtbare offenbar mitschreibt. János ruft noch, man solle den Padre Spirito verlangen, aber das Gespräch ist schon beendet.
Der Polizist kommt näher und fragt, etwas unsicher: also, stimmt das alles? János erklärt ihm alles, erzählt detailliert die Vorbereitungen zu unserer Reise, und mir scheint, daß der Dicke nun eher geneigt ist, uns zu glauben. Dann sagt János, er könne nachschauen, unser Ticket von der Fähre nach Olbia sei auch noch da. Der Polizist nimmt das Ticket, ruft im Hafen Olbia an und wird wieder ernst, als er zu uns herübersieht.
Ihr seid bereits heute früh angekommen, sagt er, das ist nur eine halbe Stunde von hier. Wo wart Ihr den ganzen Tag? Nein, sagt es nicht, ich weiß es: von Olbia ist man in 2 Stunden in Palma. Da habt ihr die Bank beraubt und den Wachmann niedergeschossen, seid 2 oder 3 Stunden in den Bergen gewesen, um die Beute und die Gewehre zu vergraben. Von dort wieder in 2-3 Stunden hierher gefahren, um nach Korsika zu fliehen.
Er greift zum Telefon, um seinem Brigadiere neuerlich Zund zu geben. Verharrt, als János sagt: mein Ausweis ist echt, Sie werden es sehen! Es reißt unseren Sheriff hin und her, er geht auf und ab, murmelt vor sich hin. Dann geht er hinaus und läßt uns allein.
János und ich versuchen, ruhig zu werden und diskutieren die Sachlage, die eigentlich gar nicht so rosig ist. Er sagt, daß zu dieser Zeit keiner mehr im Seminar ans Telefon geht, es ist schon nach Dienstschluß, und alle sind wahrscheinlich schon im Wohntrakt.
Die Stunden rinnen dahin, ich bin verzweifelt, weil ich die Dorfkinder draußen an meinem Moped herumhantieren höre und mir ausmale, daß morgen früh nur noch ein nacktes Skelett davon übrig sein wird. Alle paar Stunden kommt der Sheriff wieder, bringt gegen Mitternacht Wasser und einige Streifen Pizzetta, verschwindet wieder, um sich im Dorfgasthaus weiterfeiern zu lassen.
János und ich sitzen auf dem kalten Boden, dösen im Halbdunkel und manchmal murmle ich etwas von Chateau d'If und Abbé Faria, bis er mir sagt, ich solle doch mit dem Spinnen aufhören, es würde sich früher oder später alles klären...
Irgendwann wird dann die Wachstube von außen versperrt und wir unserem Schicksal überlassen.
Am Morgen schrillt das Telefon unaufhörlich, aber es ist keiner da, um abzuheben. János grinst mich an und scherzt: "Pronto! Pronto!" - was den Italienern das Hallo ersetzt. Es dauert mindestens eine Viertelstunde, bis der Polizist kommt. Wir sagen ganz aufgeregt, daß das Telefon schon mehrmals geklingelt habe.
Er ruft seine Dienststelle an, aber die waren es nicht. Endlich, endlich klingelt es. Es ist der Brigadiere. Der kleine dicke Polizist salutiert, lauscht, wird immer kleiner und kleiner. Si, Brigadiere, Si. - Si, Si.
Nach dem Auflegen kommt er langsam zu unserem Gitter.
Pflanzt sich in seiner ganzen kleinen Breite vor uns auf, schaut ernst wie der Räuberhauptmann Hotzenplotz drein und wippt auf seinen Zehen. Dann nimmt er die Schlüssel zur Hand und sperrt das Gitter auf, macht die Gittertüre weit auf und deutet ins Freie: "Ihr seid frei!"
Unsicher gehen wir ins Freie, ich schaue in die strahlende Morgensonne und denke, wie schön dieses Sardinien ist. Er kommt hinter uns heraus und sprudelt los: daß man die Kerle in der Nacht gefaßt habe, daß der Brigadiere in Rom angerufen und den Padre Spirito mit einer Funkstreife hat aus dem Bett holen lassen, weil niemand ans Telefon gegangen sei, daß man auch das schwarze Motorrad, die Gewehre und die gesamte Beute gefunden habe und daß er uns jetzt glaube, daß wir österreichische Touristen seien.
Dann fordert er uns auf, uns an den Tisch vor dem Wachzimmer zu setzen, es gäbe Kaffee und ein Brötchen. Wir kauen und hören seiner dramatischen Schilderung, wie die echten Räuber gefangengenommen wurden, zu - eine wilde Schießerei, bei meiner Seel'!
János unterbricht ihn irgendwann und sagt, daß wir bis morgen Abend keine Fähre mehr hätten und daß unsere Tickets verfallen seien. Ich unterbreche János und sage, daß unser Rucksack weg ist und offenbar die Seitenspiegel auch. Nach kurzer Untersuchung stelle ich erleichtert fest, daß sonst alles noch dran ist. Der Polizist (ich habe seinen Namen vergessen, aber er hat sich beim Kaffee vorgestellt) steht auf und ruft einen Namen über die Straße. Dann setzt er sich wieder zu uns und sagt, das werden wir schon noch hinbekommen.
Ein kleiner, zerzauster Junge kommt langsam die Straße entlang, grüßt und schaut ernst. Der Polizist plappert rasend schnell in einer mir unbekannten Sprache, der Junge schaut erst bockig, dann nickt er und läuft davon. Wir unterhalten uns weiter, der Polizist sagt, es kommt alles in Ordnung und will von uns wissen, ob wir Rapid kennen. János schüttelt den Kopf, ich rate, daß das eine Fußballmannschaft sei, unser Polizist lacht und meint, ja, aber die haben ordentlich was draufbekommen und ich nicke, ohne zu wissen, wovon der Dulli spricht. Die Zeit verstreicht, unser Schiff ist weg, die Tickets auch, das Moped ist ruiniert und er redet über Fußball.
Es raschelt hinter ihm, und zwei kleine Zwerglein schleppen unseren Rucksack herbei. Ich will aufspringen, aber das Gesetz heißt mich, wieder nieder zu sitzen. Die Zwerglein hauen ab, so schnell sie rennen können. Dann raschelt es wieder, und hinter dem Gesetzeshüter erscheint ein Bursche in meinem Alter, legt zwei Spiegel auf den Boden und verschwindet wieder, ohne uns anzusehen. Ich strahle, denn das ist echte Zauberei. - Während ich die Spiegel wieder montiere, gehen János und das Gesetz ins Gasthaus, kommen nach einer Weile wieder, freudestrahlend. Der Tag ist gerettet. Ein Lastenkahn wird gegen Mittag nach Korsika übersetzen und uns gratis mitnehmen. Da wir kaum Geld haben, hat der Polizist angeboten, er werde dem "Capitano" einen großen Drink spendieren, das paßt dann schon.
Stunden später hieven wir das Moped auf eine kleines, robust aussehendes Lastenschiff, wobei der immer stärker werdende Schwell das Schiff auf und ab tanzen läßt und ich hundertmal das Moped in den Fluten versinken sehe. Nach einigen Mühen ist alles verstaut, der Käpt'n bekommt noch seinen Drink im Dorfgasthaus, János und ich warten auf dem Schiff, ungeduldig. Der Wind nimmt zu, die Wellen auch und János ist schon reichlich blaß um die Nase. Ich binde die Maschine auf dem wild bockenden Kahn mit dem inzwischen 27. Knoten an und überlege fieberhaft, ob ich nur den Hunger verspüre oder ob ich seekrank werde. Aus dem Wirtshaus klingt fröhlich das dröhnende Lachen des Kapitäns, dann hören wir sein "un altro!" (noch einen).
Das schrille Gepfeife des Kapitäns schmerzte in meinen Ohren beinahe mehr als das Krachen des rostigen Getriebes, als er kurz hin- und her manövrierte, um uns aus dem Hafen von Santa Teresa di Gallura herauszubringen. "The Pipers of Tralee" oder vielleicht auch nur ein korsisches Freiheitslied, wer hätte das schon sagen können?
Der tapfere kleine Lastenkahn pflügte dieseltuckernd durch die Meerenge zwischen Sardinien und Korsika, die etwa 14 km - oder weniger, wenn Sie in Seemeilen rechnen - breit ist. Der Käpt'n war guter Dinge, er hatte den Fahrpreis tapfer geschluckt und schien nun die fehlenden Bordlautsprecher durch gar lustig gepfiffene Shanties aus dem sardischen Bergland ersetzen zu wollen - wir sind ja schließlich um das Wohl unserer Gäste bemüht, nichwa? Wir verstanden sein sardisch nicht, er unser Schulbuch-Italienisch auch nicht, also widmete er sich dem Motor und der Musik, János und ich verzogen uns zum Bug, weit weg von unserem musikalischen Dampfchauffeur.
János war schlimm anzusehen, er war bleich und blaß um die Nase, hielt sich mit einer Hand krampfhaft an der Holzreling fest und sah angestrengt würgend in die Ferne. Ich horchte in meine Physis hinein, war erstaunt, daß das nun die sagenhafte Seekrankheit sein sollte und dachte angestrengt nach. Was, wenn es doch nicht die Seekrankheit ist? Wenn ich schlicht und einfach nur Hunger hatte - immerhin, richtig, mein Frühstück war ja den Arbeiten am Moped zum Opfer gefallen. János, mein guter János, hatte noch vor dem Aufbruch einen Doppeldecker aus Weißbrot und sardischem Käse für mich angefertigt und in meine Jacke gesteckt; während ich am Moped hantierte. Ich überlegte lange, dann befand ich, daß es nur der Hunger sein könne - ich werde doch nicht seekrank, nicht ich!
Die Ohren János' zuckten nervös, als ich in meine Jackentasche griff und es dabei raschelte, aber er unterdrückte tapfer seine Neugier, blickte nicht herüber. Langsam und vorsichtig wickelte ich das Brot aus, es schaukelte ja so verdammt und manchmal spritzte ein wenig Seewasser herauf, also Vorsicht walten lassen, damit's nicht salzig wird! Der beißende Geruch des sardischen Käse (der im Gegensatz zum korsischen nie als Sprengmittel eingesetzt wurde) stach mir im ersten Augenblick unangenehm in die Nase, um sich dann in einer kako-olfaktorischen Wolke aus allen Düften und Gerüchen des Hochlandes zu entfalten. Die Geruchswolke muß János wie ein Keulenschlag getroffen haben, denn er zuckte und zog den Kopf zwischen den Schultern ein. Während ich mein Maul weit, ganz weit aufriß, um meine Zähne in den saftigen Doppeldecker zu schlagen, riß der arme János sein Maul ebenfalls weit auf, um in hohem Bogen dem Meeresgott Neptun und dem Windgott Rasmus zu opfern.
Natürlich blieb ich hungrig, denn der anklagende Lämmchenblick János' stoppte meine Jause abrupt. Die Stulle verschwand wieder raschelnd in meiner Jackentasche und blieb dort, bis wir Korsika anliefen, beim südlichsten Ort, Bonifacio. Korsika, here we come!
Bonifacio ist ein auf mehreren hohen Kreidefelsen gelegenes Nest, im Einschnitt zwischen den Felsen liegt der Hafen. Soweit nichts Besonderes, ein Adlernest auf Felsen, dem Himmel sehr nahe, wunderschön halt. Und Festland, vor allem. Das elende Geschaukel hört auf, ein Tau wird zur Mole geworfen, festgemacht; man freut sich wieder, Land unter den Füßen zu haben, wenn auch karges, felsiges. Die Freude hört dann aber wieder sehr rasch auf, als die wie aus dem Nichts auftauchenden Soldaten mit dem Kapitän zu diskutieren anfangen. Schulterzuckend deutet er immer wieder auf uns und plappert kippekauend, kopfnickend, ins Hafenbecken spuckend.
Klarer Fall. Ein Lastenkahn mit zwei blinden Passagieren; Ihre Papiere, bitte! Nun bin ich mit meinen 3 Jahren Schulfranzösisch an der Reihe, zu übersetzen, und ich wundere mich als erstes, wie schlampig diese Legionäre ihre eigene Sprache sprechen, und vor allem, wie schnell! Das hat aber in der Schule ganz anders geklungen, Frau Professor! - Es wird sicher nicht an meiner Übersetzung gelegen haben, aber mit einem Mal sitzen wir auf der Ladefläche eines größeren Jeeps, hilfreiche Hände hieven das Moped herauf, dann geht's die steile Straße hinauf, zur Kaserne in der Festung. Wir gehen zum Zenturio, sagt der Dekurio, da muß er entscheiden, schließlich ist er Zenturio und ich nur Dekurio! Dummerweise denke ich an gestern und versuche tastend stammelnd herauszufinden, ob vielleicht wieder Bankräuber gesucht würden (ich sage: Räuber einer Bank, in Ermangelung des Fachterminus). Na ja, das hätte ich vielleicht doch besser lassen sollen. Der Dekurio zischelt wieder in sein Funkgerät, während wir an einigen eselreitenden Korsen vorbei bergauf fahren. "Ich ahne schon, wo wir heute übernachten werden" murmelt János resigniert und vergräbt sein Gesicht gottergeben auf seinen gekreuzten Unterarmen, ich wispere zurück: "...aber ein Gutes hat's doch, bei dieser Steigung hätte einer von uns auf jeden Fall absteigen und schieben müssen!"
Vermutlich ist die Festung Bonifacio eine wunderschöne Touristenattraktion. Vermutlich. Wir fahren in den Kasernenhof der Festung, der wie alle Kasernenhöfe dieser Welt aussieht. Sonst sehen wir nichts von Bonifacio. Ach ja, vielleicht doch, die große Uhr in dem langen, kargen Korridor, wo wir auf einer Holzbank sitzen und warten, warten, warten. Der Dekurio, während der langen Wartezeit wahrscheinlich zum Zenturio befördert, geht oft an uns vorbei und nickt uns jedes Mal ernst zu; die Legionäre, inzwischen vielleicht schon zum Dekurio befördert, marschieren einmal durch den Gang und würdigen uns keines Blickes; dann endlich erscheint der Zenturio, der vermutlich nur gewartet hat, bis er zum General oder mindestens Konteradmiral befördert wurde.
"Quatsch!", sagt János, "er hat nur seine Siesta beendet und danach zu Abend gegessen."
Kurzum, ein gut ausgeschlafener und verköstigter General hat auch seine Vorteile: wir hören ihn bis auf den Gang heraus lachen, als er mit seinem uns bestens bekannten Amtsbruder in Santa Teresa di Gallura telefoniert. [Vielleicht etwa so: "Servus, gschampster Diener, kannst die Fahndung einstellen, ich habe Eure Bankräuber!" - "Nein, die haben wir!" - "Wieso? Sie sitzen doch bei mir, ein Dicker mit Glatze und ein langer Dünner, wir haben sie von einem Lastkahn heruntergefischt..." - "Nein, wir haben die Richtigen, die bei Dir sind zwei harmlose österreichische Irre auf einem Moped..." - "Ach was, erzähl doch mal ..."]. Dann kommt er auf den Gang heraus, gibt uns grinsend die Pässe wieder und meint, daß das mit unserem Abenteuer bei den Sarden seeehr lustig sei, das müsse er gleich seiner Frau erzählen und winkt uns, daß wir nun gehen könnten.
Der Dekurio von vorhin empfängt uns im Hof und meint, zum Weiterfahren sei es doch wohl schon zu spät; wenn wir wollten, könnten wir in den ehemaligen - jetzt leeren - Stallungen übernachten. Nachdem wir kurz in die gähnende, dunkle Leere samt den unausweichlichen Gitterstäben hineingeblickt hatten, sehen wir uns nur kurz an und lehnen dankend ab. Nein, danke, da schlafen wir lieber im Freien! - Der Soldat wundert sich, zuckt die Schultern und erlaubt uns, im Hof zu übernachten, als ihn János fragt.
Eine Nacht in Sardinien in der Zelle, eine Nacht im Kasernenhof in Korsika; diese Statistik kann sich sehen lassen. Wir sitzen dick eingemummt mit dem Rücken ans Moped gelehnt und dösen dem Morgen entgegen. Mehrmals in der Nacht schallen Rufe, knallen Stiefelabsätze: Wachwechsel!
Falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte: wir wollten natürlich die Strecke der "Rallye des Mille Virages" - die Rallye der tausend Kurven - befahren, von Bonifacio bis Bastia, linksherum, im Uhrzeigersinn, wie einstmals Juan Fangio. Am nächsten Tag geht's also los, nach einer kurzen Ehrenrunde durch die steilen Gassen des Bergstädtchens fahren wir nach Nordwesten Richtung Propriano, das auf halbem Weg zur Hauptstadt Ajaccio liegt. Zwei Dinge wollen wir hier sehen: das Naturschutzgebiet bei den Bruzzi-Inseln und die Calanques von Roccapina. Was Inseln sind, werden Sie sicher wissen, aber die Calanques wollen erklärt sein: das sind bizarre Felsformationen, Felsklippen, die senkrecht über dem Meer aufragen. (Na ja, also gut: manche bezeichnen mit Calanque auch jene Fjorde, die sich zwischen den eigentlichen Calanques bis tief ins Festland hineingefressen haben . . .). Die bekannteste Calanque ist jene an Frankreichs Südküste, 13 km vor Marseille, bei der Ortschaft Cassis - dort türmt sich Europas höchste Felsensteilküste, die Calanque du Cap Canaille, auf über 500 Meter über dem Meer auf (sie ist heute ein Paradies für free climber). Platz zwei nimmt die Calanque von Piana auf Korsika ein (dort wollen wir ja später noch hin); sie ist nicht ganz so gewaltig, aber an die 400 Meter geht's schon hinauf, aber auch runter...
In den sechziger Jahren gab es noch kein free climbing, zumindest war uns diese Sportart nicht bekannt. Jedoch hatten János und ich (meist zu zweit) die Bergwelt Vorarlbergs unsicher gemacht; manch echter Hochalpinist konnte nur stumm und/oder verzweifelt den Kopf schütteln, wenn er uns Stadtkinder, mit Mutters Hanfseil bewaffnet (jawohl, jenem für das Wäsche aufhängen!) in den Bergen herumturnen sah. Vom wirklichen Klettern hatten wir natürlich keine Ahnung, wir waren einfache Bergwanderer, die manchmal die eine oder andere leichte Felswand bekraxelten, zumal, wenn die Eltern nicht zukuckten. Unsere letzte climbing action war die Besteigung des Tschengla genannten Felsens genau unterhalb der Pfänder-Seilbahn in Bregenz, dann war Mutters Hanfseil wie auch ihre Geduld am Ende. - [Wenn ich später mit der Seilbahn dort hinauffuhr, schauderte ich jedes Mal, denn jetzt bin ich selbst Vater und mein Magen dreht sich um, wenn ich mir meine Kinder dort vorstelle . . .]
Okay, wo waren wir: bei den Calanques. Die dritten, die von Roccapina, kennt kaum ein Mensch. Für free climber, die was auf sich halten, viel zu unspektakulär, sind sie nicht 500, nicht 400, nein, vielleicht nicht einmal 40 Meter hoch, und dann auch nicht einmal senkrecht abfallend. Aber für uns Amateure genau das Richtige. Und, wie János treuherzig anmerkte, "...wenn'st abstürzt, dann bloß ja weg vom Felsen, abstoßen! Und sieh zu, daß du ins Wasser fällst..."
[Hier müßte - rein filmakademisch gesehen - folgender Dialog nachträglich eingeschoben werden:
"Haben Sie das jemals ausprobiert?" - "Nein."
"Haben Sie damals geglaubt, daß das funktionieren kann?" - "Ja."
"Glauben Sie heute, daß das funktionieren kann?" - "Nein."]
Wir verbrachten den ganzen Tag in der Gegend von Bruzzi, waren etwas enttäuscht, weil die berühmten Inseln nur kleine Inselchen waren - und weit und breit keine Schiffswracks! Aber gerade dafür waren sie doch berühmt: die schlauen Korsen früherer Jahrhunderte lockten mit Hilfe falscher Leuchtfeuer die Schiffe auf die Bruzzis. - Ob sie wohl zu Bill Gates' Vorfahren zählten? - Nun, wir ließen uns nicht entmutigen, denn das Naturschutzgebiet ist wunderschön, auch entdeckten wir, daß man direkt neben den "Baden verboten" -Schildern am besten schwimmen und tauchen kann. Diese schlauen Korsen!
Das Abendessen: kalt - wir getrauen uns nicht, im Naturschutzgebiet ein Feuer zu machen. Die Übernachtung im Kiefergestrüpp: ein Traum! Wir sehen Sterne, Tausende Abermillionen Megaviele Sterne! Wir wetteifern, ob das sich Bewegende ein Satellit oder ein Komet ist, nur um ernüchtert festzustellen, daß sich offenbar ein Flughafen in der Nähe befinden mußte. Allerdings auch die erste richtig durchgeschlafene Nacht, ganz ohne Gitterstäbe. Mein Bruder, ich liebe dich, schlaf gut, du auch!
Am Morgen fahren wir einige Kilometer auf einem winzigen Trippelpfad der Küste entlang, in immer dichter werdendem Gestrüpp, zu den Calanques. Das Moped wird mit einigen Handgriffen fahruntauglich gemacht, unter den Büschen versteckt und mit Kieferzweigen zugedeckt. Nur mit Badehose und Vaters Fotokamera (einem Makina-Balgengerät) bekleidet gehen wir auf die Calanques. Aus der Nähe betrachtet sind 40 Meter doch schon kehlezuschnürend hoch. Bevor wir aufsteigen, ziehe ich János einen Dorn aus der Fußsohle, wir hatten die Macchia (so heißt das niedrige Buschwerk hierzulande) wohl etwas unterschätzt.
Schon nach der ersten halben Stunde Kletterei habe ich die Schnauze voll. Doch ein Blick zu meinem verbissen weiterkämpfenden Bruder verleiht mir neue Kräfte: nein, wenn er das schafft, dann ich auch! Hie und da bleibe ich stehen, dirigiere ihn etwas weiter vor oder zurück und schieße ein Foto. Was sich hier so leicht schreibt, war in Wirklichkeit eine haarsträubend umständliche Sache. So ein Balgengerät ist nicht nur schwer, es will auch mit zwei Händen aufgeklappt und bedient werden (mit der dritten Hand hielte man sich am Felsen fest, hätte man eine). Und der Film ist teuer. Also keine halbherzigen Schnappschüsse, man muß jede Einstellung genau überlegen, der Ausschnitt ist richtig zu wählen, János muß ja gut drauf sein, mit Meer und steil abfallendem Felsen, also muß ich mich weiter vor-, nein, zurückbeugen und - ein Aufschrei von János, und ich fange mich noch rechtzeitig ab. Puhh, das war knapp!
Auch János macht ein paar Bilder von mir, bei der Übergabe gerät der Fotoapparat öfter in Lebensgefahr. Bis das schlaue Kerlchen von jüngerem Bruder (also ich) auf die Idee kommt, statt den Apparat umständlich zu übergeben, den Menschen auszutauschen.
Also wird der Apparat in eine Felsspalte geklemmt, dann klettert A weiter und B kommt an den Apparat. Das geht ganz gut, denn ohne Apparat klettert es sich leichter. Wir kraxelten den ganzen Tag dort herum, fanden eine tiefe Stelle des kleinen Fjordes, der in die Calanques hineinragt und sprangen dort aus 3-4m ins Wasser - Badespaß pur.
Die nächsten beiden Tage verfaulenzten wir in der Gegend von Propriano, schwammen an den felsigen Stränden des Golfe de Valinco oder kraxelten durch das mannshohe Gestrüpp, um zu irgendeiner verfallenen Windmühlenruine oder einem Bauernhof zu kommen. Letztere dienten erfolgreich der Nahrungsbeschaffung, unser Geld war bei den Bauern mehr wert als in der Stadt.
Allmählich tasteten wir uns zum Cap de Moro vor, einer kargen und steinigen Gegend, die vor allem eine herrliche Aussicht auf die Bucht von Ajaccio bietet. Da saßen wir, sahen den Booten zu und bewunderten das Meer: es war wirklich viel größer als der Bodensee, und viel ergreifender.
János hatte noch irgendein Trumpf im Ärmel, er hatte in Rom vage angedeutet, in Ajaccio wird's was Besonderes geben, verriet mir aber nichts. Wir sahen über den Golf, und ganz in der Ferne, westlich der Stadt sah man die Inselgruppe der Iles Sanguinaires, die "Blutigen Inseln". János schaute immer öfter dorthin, fragte, ob ich denn nicht auch den Leuchtturm auf der mittleren Insel sähe; und mit verträumten Augen murmelte er: dort ist es sicher toll, da will ich hin!
Zuerst nahm ich das nicht wörtlich. Wir ritten in Ajaccio ein, ich blickte mich schon am Stadtrand gut um, ob es da wohl günstige Übernachtungsplätze gäbe. János aber tippte mir auf die Schulter und schrie mir ins Ohr, ich solle dem Meer entlang auf der Küstenstraße weiterfahren, ja, ins Zentrum, über die Promenadenstraße.
Mitten auf der Promenade kommandierte er "Halt!". János ging auf einen Palast zu, grinste über mein verdutztes Gesicht und klingelte. Der Bruder Pförtner öffnete und ließ uns ein. Während wir das Moped versorgten und das Gepäck abnahmen, flüsterte János, daß wir nun für einige Tage im erzbischöflichen Palais wohnen dürften - das also war es, was er mir in Rom verschwiegen hatte! Der Erzbischof sei nicht da, aber das sei trotzdem okay, wir könnten wenigstens in normalen Betten schlafen, richtig frühstücken. Wir wollten ein oder zwei Nächte bleiben, die Stadt besichtigen und dann weiterfahren.
So war's auch. Oder fast. Schon am ersten Abend dirigierte mich János etwa 10km aus der Stadt nach Westen, auf eine Landzunge namens Point de Parata. Dort, am Fuß eines alten maurischen (richtig: genuesischen) Leuchtturms, saßen wir, tranken bedächtig Wasser aus einer Feldflasche (eine frühere Form des Sundowners) und blickten zu den Iles Sanguinaires hinüber, zu deren Silhouetten im Sonnenuntergang. Ich brauchte kein Hellseher zu sein, um die Gedanken meines Bruders zu erraten. Von der Pointe de Parata waren es gut 2km bis zur größten Insel, dazwischen waren kleinere Felsbrocken (Inseln wäre übertrieben) im Wasser wie auf einer Perlenkette aufgereiht. Und ich vermeinte, im Gegenlicht einen kleinen weißen Hund unter dem Leuchtturm auf der Hauptinsel herumlaufen zu sehen. Das helle Gebäude davor mußte ein Restaurant sein, oder? (Spätestens jetzt sollte klargeworden sein, daß wir die gesamte Reise ohne Dumont oder Marco Polo planen mußten, sonst wäre einiges wohl anders gelaufen...)
Wir machten nicht viele Worte; bei unseren bisherigen Entdeckungsreisen hatten wir nie lange über das wie und was debattieren müssen. Ja, den kleinen Felsen entlang hinüber schwimmen, auf diesen ausrasten. Ein paar Münzen einstecken, um im Restaurant auf der Hauptinsel vielleicht etwas zu trinken zu kaufen. Nach einem Rundgang wieder zurückschwimmen. Wir blickten uns noch einmal forschend an, dann nickten wir gleichzeitig: so sei es!
Am nächsten Morgen - in aller Herrgottsfrühe - fuhren wir wieder zum Point de Parata. Ein wunderschöner, heller und klarer Morgen. Als wir zum maurischen Turm kommen, ein kurzer Schreck: der gestern Abend noch menschenleere und verlassene Ort wimmelt nur so von Menschen, am Turm selbst werkt ein Filmteam, das eine Liebesszene dreht (Pirat küßt Leichtgeschürzte, bevor er sich mit einem Messer zwischen den Zähnen auf den Turm hinaufschwingt, und das ein Dutzend mal hintereinander!). Ich zücke meinen Fotoapparat und fotografiere den historisch bedeutsamen Turm (irgendwie gerieten die ewig langen Beine der Piratin auch mit aufs Bild, seltsam, seltsam!). Der Kameramann nimmt meine Makina in die Hand und staunt nicht schlecht: Baujahr 1939! Wir sind eine Weile unschlüssig (János denkt nach, wo wir das Moped verstecken, und ich, wie die Piratin wohl ungeschminkt aussehen mag), dann entdeckt János eine Gruppe von Büschen, wo wir das Moped verstecken und uns umziehen können.
Mit nur ein paar Münzen (Restaurant!) und einem kleinen Taschenmesser (weißer Hund!) in der Badehose schwimmen wir los. Das Meer ist spiegelglatt, kein Lüftchen weht, also kommen wir recht flott vorwärts. Es dauert lange, bis wir den ersten kleinen Felsen erreichen und Rast machen. Dann zum nächsten und so fort, bis wir (fast) zur Hauptinsel kommen. Inzwischen hat ein kräftiger Wind eingesetzt, der auch einige Wellen verursacht. Das Schwimmen "gegenan" wird mühsam, wir müssen nun Pausen im Wasser machen; während sich der eine ausruht, tritt der andere Wasser und hält den ersteren; dann wird gewechselt. Je näher wir an die Hauptinsel herankommen, desto mehr verfestigt sich ein Verdacht in mir: der Leuchtturm ist keiner, sondern einer dieser maurischen Rundtürme, und das Restaurant ist verfallen, fensterlos, ausgebrannt und perdü.
Noch sage ich nichts, noch sind wir mit dem Schwimmen und Rasten vollauf beschäftigt. Der Wind legt gegen Mittag noch mehr zu, mit Mühe erreichen wir das Ostufer der Hauptinsel. János klettert vorsichtig vor mir ans Ufer, dann setzen wir uns hin und rasten. Ich sage: "Jetzt weiß ich, warum die Insel 'die Blutige' heißt" und deute auf unsere Füße: das dunkelrote Porphyrgestein ist scharfkantig wie Korallen, unsere Sohlen bluten aus winzigen Schnitten. Wir beraten uns in Sachen Nix-Leuchtturm, Nix-Restaurant und Nix-Trinken; beschließen, auf der windabgewandten Nordseite der Küste bis zum Turm entlang zu schwimmen. Auf der Insel kann kein Mensch barfuß gehen, er würde sich die Sohlen komplett zerschneiden.
Also schwimmen wir mit wenigen Metern Abstand der Insel entlang, die Mittagssonne brennt unbarmherzig herunter. Als wir in die Nähe des Turmes kommen, entpuppt er sich als Ruine (er heißt Tour Genoise, übrigens, der genuesische Turm). Kein weißer Hund, kein Restaurant, und an dieser Steilküste ist nicht daran zu denken, hinaufzuklettern. Wir rasten im Wasser und schwimmen ein Stück zurück. Im Schatten eines riesigen Felsbrockens machen wir Rast und bleiben etwa eine Stunde sitzen. Kein Wort der Enttäuschung kommt über unsere Lippen. Kein Wort.
Der Rückweg ist leichter, da der Wind aus Südwest bläst und wir mit den Wellen schwimmen. Doch mein Knie (das Eingezwickte) meldet sich schmerzhaft und schwillt an. Ich mache jetzt öfters Pausen; János ist besorgt, ob ich es wohl mit nur einem Bein schwimmend schaffe, aber ich beweise ihm, daß ich die Zähne zusammenbeißen kann: bei Sonnenuntergang erreichen wir wieder den Point de Parata. Ausgepumpt und keuchend sitzen wir am Strand, trinken das erste Mal seit dem Morgen wieder einen Schluck Wasser und schauen zurück in den Sonnenuntergang. Als wir das Moped wieder ausgraben und uns anziehen, klagt er über Schmerzen auf den Schultern. Ich sehe ihn mir an und entdecke fingerdicke, wäßrig angeschwollene Brandblasen.
Eine halbe Stunde später klingeln wir beim Bruder Pförtner, legen uns hin. Eine Stunde später laufe ich verzweifelt hinunter und versuche dem diensthabenden Pater zu erklären, daß János Brandblasen auf den Schultern hat, schreckliches Kopfweh und Fieber noch dazu. Nach Ewigkeiten wird der Pater Medicus (er wurde wirklich so genannt) geholt. Er versorgte János mit Brandsalbe und einer Spritze, schüttelte den Kopf über uns Narren, die einen ganzen Tag ungeschützt bei prallem Sonnenschein im Wasser waren. Ich habe Rötungen, aber keine Schmerzen und bekomme trotzdem die Salbe draufgeschmiert. Der Spritze entgehe ich feige. [Jahre später, bei einem Maturatreffen, erzählt einer der Schulkameraden von János, - ich glaube, es war der bekannte Vorarlberger Schi-Sportler Udo Albl - , daß er etwa zur selben Zeit in der Gegend von Ajaccio Tauchen war und daß man dort sehr auf die Haie achten müsse. Ich war mindestens so bleich wie János, als er es mir erzählte!]
Der Pater Medicus kommt mehrmals, um nach János zu sehen. Am Morgen geht es uns wieder halbwegs; der Pater hält uns eine lange und nur teilweise nachvollziehbare Strafpredigt (oder hat der Narr schon mal probiert, mit einem breitkrempigen Hut im Meer zu schwimmen?!). Die häßlichen, wäßrigen Brandblasen werden vorsichtig aufgeschnitten und verbunden. János muß drei Tage das Bett hüten. Wir sind geknickt, denn unsere Reiseplanung gerät damit völlig aus dem Tritt. Und, ob wir so lange da bleiben dürften; János hat von Rom aus nur über ein-zwei Nächte mit seiner Exzellenz dem Erzbischof verhandelt, von vier bzw. fünf Tagen war nicht die Rede! Der Pater Medicus blickt streng und bleibt hart; er werde das schon verantworten.
Ich versuche mich nun, so gut ich kann, als Krankenschwester. Wasser holen. Essen bringen. Nachttopf leeren. Kissen zurechtschütteln. Grießbrei löffelweise füttern. Ich sitze tapfer Stunde um Stunde neben János Bett, drehe Däumchen. Wir diskutieren lange über sein zukünftiges Priestersein, später dann auch über meinen Berufswunsch, Astronaut zu werden. Viel Mathe bräuchte ich dazu, ja. Und das Binärsystem, das Rechnen mit Null und Eins, überlebenswichtig im All. Also bringt mir János bei, wie man mit den Fingern (digits heißen die Dinger) addieren und subtrahieren kann. Beim Multiplizieren, das er ja als Genie ebenso wie das binäre Dividieren beherrscht, steige ich endgültig aus. Draußen zwitschern die Vögel, die Kinder lachen hell und unten, auf der Promenade, spazieren miniberockte Schönheiten. Und meinereins knotzt in einem kargen, düster verdunkelten Krankenzimmer und hört sich an, daß man sich den Übertrag mit dem Abknicken des kleinen Fingers merkt.
"Nun geh' schon, geh'!" sagt János. Ich lasse mich eine Weile bitten, nein, das kann ich doch nicht, das kann man doch nicht machen, aber dann gebe ich nach und entschwinde, erkunde die Altstadt, die Strandpromenade und die Schönheiten, die dort im Sonnenschein flanieren. Ach, wie lang ist es her, daß mir die Signora das grausliche Bier aufs Zimmer gebracht hatte! Seufzend kehre ich wieder zu meinem Bruder zurück. Das Zölibat ist nicht meins, wirklich nicht!
Am dritten Tag verklebt der Pater Medicus sorgsam die Brandwunden, meint, daß es für einen Aufbruch noch viel zu früh sei, fügt bekümmert hinzu, daß er wisse, daß wir nicht zu halten seien. Wir bedanken uns, verabschieden uns von jedem Pater einzeln mit langem Händeschütteln und ernstem Addio, dann wird das Moped gesattelt, und wir fahren los. Aber wir kommen nur bis zum Ende der Promenadenstraße, denn dort tummeln sich Kinder, Touristen und elfengleiche Beauties am Sandstrand. Wir beschließen, vor der Weiterfahrt noch ausgiebig zu Baden.
Schon die Idee, mit den verbundenen Brandblasen ins Wasser zu gehen, ist pure Narretei. Aber so gesehen hätte ich ja in Bregenz vor dem Fernseher sitzen bleiben können, nicht wahr? Also runter mit dem Gewand, und rein ins Wasser! Ich fühle die Blicke der Elfengleichen, die Brust bläht sich und die Hose beult sich aus (sorry, aber so war's!). Und ganz Pfau, der ich nun mal war, stolziere ich einige Meter über den Sand und werfe mich in gekonnter Manier kopfüber in die Fluten. Flach, wie es sich fürs Flachwasser gehört, halb Bauchfleck, halb Köpfler. Und mit den Armen unter Wasser sofort wieder nach oben abstoßen. Auftauchen und sofort kontrollieren, ob die Schönen auch zugesehen haben!
Ja, klar, haben sie, und anerkennende Blicke züngeln unter breiten Sonnenhüten hervor; ich blicke dankbar zu ihnen hinüber. Sehe, daß János sich auf einen kleinen Felsblock stellt, dann auf einen höheren klettert und kopfüber ins Wasser springen will. Ich rufe und schreie: "Nein! Jáááános! Spring' nicht! Nicht sooo!" aber es ist zu spät, in weitem Bogen fliegt er adlergleich übers Wasser, bohrt sich tief in den Sand des flachen Gewässers und richtet sich verdutzt im nur knietiefen Wasser auf: seine Stirn ist aufgeschürft, helles Blut rinnt ihm übers Gesicht. Ich renne zu ihm, untersuche ihn in fliegender Hast: Gottseidank nichts Ernstes. Aber er blutet ganz ordentlich! Immer wieder fragt er benommen und völlig verdattert, warum er, und warum ich nicht?! - Ich erkläre ihm, daß ich das Springen im Flachen früher schon geübt habe und mein Köpfler nur vorgetäuscht war. Wegen der Girls, wie ich kleinlaut hinzufüge.
Mein Taschentuch ist inzwischen blutdurchtränkt; ich denke hastig nach, was ich jetzt tun könne. Mein Blick fällt auf das erzbischöfliche Palais. János folgt meinem Blick und schüttelt den Kopf, nein, das können wir nicht!
Und ob wir können! Ich bin jetzt Mutter und Vater für ihn, energisch schnappe ich mir den Widersträubenden und führe ihn über die Straße, klingele ungeduldig den Bruder Pförtner heraus. Die Frage erstickt in seiner Kehle, als er den blutüberströmten János sieht. Sofort telefoniert er nach dem Pater Medicus.
Priester sind auch nur Menschen, das lerne ich schnell. Selbst der benommene János erbleicht ob der korsischen Flüche, die der Pater nun vom Stapel läßt. Wirklich, diese hirnverbrannten Touristen! Nicht mal eine Stunde können sie ohne Verband und schmerzstillende Spritzen auskommen! Nun, wenigstens hat sich János nur oberflächlich skalpiert und keinen Bruch oder gar eine Gehirnerschütterung geholt. Während der Pater meinem Bruder ein ordentliches Pflaster und danach noch einen Turban verpaßt, schwöre ich mir, daß wir sofort 20 oder 30 km weiterfahren würden, damit wir - selbst im Falle des Falles - nicht mehr in die entwürdigende Situation kämen, ein drittes Mal an seiner Pforte klingeln zu müssen.
Der gutherzige Samariter betrachtete sein Werk nochmals, nickte zufrieden und verordnete, daß wir eine weitere Nacht hier verbringen müßten; denn erst, wenn er János morgen früh nochmals untersucht haben werde, könne er sicher sein, daß keine Gehirnerschütterung vorliege. Wir beziehen also wieder unser Zimmer, ich hole das Moped und das Gepäck vom Strand und muß dort den mitfühlenden Ladies berichten, wie es dem armen János geht. Sie fragen und fragen und ich muß dringend zurück ins Palais, also verspreche ich, gleich wiederzukommen. Dies führt natürlich dazu, daß ich höchst eilig Gepäck, Moped und den benommenen János verstaue und mich dann wieder zu den Elfen am Strand geselle. - Ich verdanke es nur der lang eingeübten Schleichkunst bei den Bregenzer Indianern, daß ich nachts ungesehen und katzengleich am Bruder Pförtner vorbeikam (theoretisch, denn die ganze Schleicherei und verschwitzte Herzklopferei waren für die Katz': die Pforte war offen, die Pförtnerloge leer und selbiger schnarchte selig vor dem rauschenden Fernseher...).
Dies geschah bereits am ersten Tag der zweiten Halbzeit unserer Reise, und wir waren immer noch in Ajaccio. Zu dieser Zeit sollten wir bereits im Hochland sein, die ursprünglich geplante Runde führte über Vizzavona zur alten Hauptstadt Corte und am Fuß des 2708m hohen Monte Cinto vorbei wieder westwärts nach Porto und Piana zurück ans Meer, zu den Calanques von Piana, wieder auf die Strecke der Mille Virages zurück. Bei unserem (definitiv) letzten Frühstück im erzbischöflichen Küchengewölbe berieten wir hin und her, konnten eine Streckenänderung nicht leicht verkraften, hieße es doch, damit ein Teilversagen zuzugeben. Andererseits hatten wir 4 Tage ungeplantermaßen in Ajaccio verbracht, ohne viel von der Stadt zu sehen und sollten heute bereits die Calanques längst hinter uns haben. Allerdings würden wir ein wenig Benzingeld sparen, was bei diesem durstigen Vergaser aus Genua auch geboten schien. Also beschlossen wir, doch "nur" die Küste entlang zu fahren und auf den Ausflug nach Corte zu verzichten, auf die Calanques bei Piana jedoch nicht.
Ohne links oder rechts zu schauen verließen wir eiligst Ajaccio nach Norden, hielten erst am Golfe de Sagone, um ausgiebig zu Baden. János wirkte noch ziemlich klapprig, außerdem mußten einige Unstimmigkeiten brüderlich beigelegt werden. Hätte ich nicht daran denken können, Sonnenöl mitzunehmen? Einen ganzen Tag im Wasser zu verbringen, mußte das nicht unweigerlich zu Sonnenbrand führen, wieso dachte man nicht daran? Mußte mein Sprung wirklich so spektakulär und angeberisch sein? Und - worst of all - was lief da zwischen den alten Weibern und mir, da gäbe es doch noch die junge Freundin in Bregenz, hä?!
Ich konterte, daß ich ja keinen Sonnenbrand bekam, weil mich kein überflüssiges Fett aus dem Wasser hob (eine unfaire Anspielung auf meine damals sportlichen 60 und seine bereits stattlichen 90kg, ungefähr). Und wer von uns hat eine Glatze, wer skalpiert sich im Ufersand, wer muß dem Kleinen alles zwanghaft nachmachen? Und das mit den Ladies verstehst du nicht, mein Bruder, da sei nichts zu beichten, und damit basta! - In meiner Erinnerung sind nur mehr vage Reste an diese Unterhaltung erhalten; das Vergessen wird auch sein Gutes haben.
Den ganzen Tag badeten wir in der Gegend nördlich von Cargese, faulenzten in der Sonne und vernichteten einige Dosen Thunfisch, die aus dem Atlantik nach Bregenz und von dort per Moped nach Korsika im Mittelmeer gereist waren, um hier ihrer Endbestimmung zugeführt zu werden. Allmählich brachte ich die Sprache auf Ernsteres; unsere Benzinpreis- und Finanzberechnungen waren völlig falsch, unsere Kassa schrumpfte trotz sparsamstem Umgang zusehends und besorgniserregend. Muß wohl seltsam ausgesehen haben, zwei in der verlassensten Gegend kampierende Burschen, die nichts Besseres zu tun haben, als die Reisebuchhaltung vorwärts und rückwärts nachzuprüfen. Dann seufzt János und meint, es stimmt, wir laufen in ein Problem. Er werde gleich morgen einen Studienkollegen, der in Calvi wohnt, anrufen, ob wir ihn besuchen könnten; er kann uns vielleicht über unsere Knappheit hinweghelfen.
Am nächsten Morgen fahren wir hoch hinauf, mitten in die Calanques, klettern den ganzen Tag herum und sehen aufs blaue Meer hinunter. Diese gewaltigen Felsen trauen wir uns nicht frech herauszufordern und bleiben schön auf den schmalen Ziegenpfaden. Manchmal robben wir auf einen der Felsabsätze hinaus und strecken den Kopf über den Abgrund hinaus. Manchmal wirft János einen Stein hinunter, wir zählen die Sekunden und versuchen auszurechnen, wie tief der Stein wohl gefallen sein mochte. In dieser wunderschönen, friedlichen Landschaft sind unsere Unstimmigkeiten plötzlich ganz weit weg, ebenso unsere Sorgen mit der Reisekassa.
Die Nacht verbringen wir in der Bucht von Porto, schlafen herrlich in einer verfallenen kleinen Steinhütte und sehen durch das fehlende Dach hinauf zu den Sternen. Am Abend hatte János bei seinem Freund Pierre in Calvi angerufen und uns angekündigt; wir waren aufs herzlichste willkommen!
Am nächsten Tag fahren wir wieder nordwärts, plaudern während der Siesta mit einem Schafhirten in drei Sprachen (französisch, italienisch und korsisch, das allerdings nur er kann) und erfahren viel über sein Leben als Schafhirte. Wir teilen Dosenthun, Salami und korsischen Käse, der so scharf ist, daß es einen aus den Schuhen hebt. Mich fasziniert der riesige korsische Klappdolch, mit dem der Alte Weißbrot und Käse teilt. Ab diesem Moment weiß ich, daß ich nicht ohne einen solchen heimkehren würde.
Um ehrlich zu sein, die Zeit und die Strecke zwischen Piana, Ile Rousse und St. Florent ist großteils dem Vergessen anheim gefallen; wiewohl es mich juckt, hier eine ordentliche Räuberpistole einzustreuen oder es zumindest zu versuchen, bleibe ich ausnahmsweise auf dem Pfad der Tugend und berichte nur, was noch als Erinnerung - zumindest ein bißchen - vorhanden ist.
Irgendwo auf dieser Strecke, als wir die wilden Kurven der wenig gepflegten, engen Küstenstraße mit bravouröser Fahrtechnik meistern, verreiße ich den Lenker: eine lange, dünne Schlange kreuzt unseren Weg. Ich habe alle Mühe, das überladene Moped trotz der hohen Geschwindigkeit auf der Straße zu halten. János schreit in mein Ohr: "Hast Du sie gesehen?!" und ich knurre über die Schulter zurück, ob er denn glaube, daß ich wegen nix und wieder nix gerade Zickzack gefahren sei, hä!?
Später - ich denke, einige Tage später - haben wir unsere (einzige) Panne in Korsika: ich spüre, wie das Hinterrad langsam zu eiern beginnt, verlangsame und bleibe stehen. Das Hinterrad hat einen Platten. Kein Problem, da ich vorsorglich ausreichend Werkzeug mitgenommen habe, also gehen wir gemeinsam, wie ein eingespieltes Team, ans Werk. Nach dem Abladen des Gepäcks und dem Aufbocken beginne ich, die Achse aufzuschrauben und halte sofort inne: da ist etwas um die Radnabe und den Kettenkasten gewickelt. Wird wohl ein alter Fetzen sein, denke ich und ziehe es heraus.
János nimmt es in die Hand und dann erschrecken wir beide: es sind die Reste der Schlange, die es nicht mehr geschafft hat und sich um das Hinterrad und den Kettenkasten gewickelt hat. Ich bin ziemlich bleich und lasse an diesem Tag die Jause aus.
Von Calvi werden wir nicht viel sehen, denn schon am Ortsanfang dirigiert mich János links in die Berge, wo wir nach einigem Suchen und Irren das kleine Dorf, in dem Pierre wohnt, finden. Ich kann mich nur erinnern, daß Pierre, von dem ich annahm, er sei ein Studienkollege, sich als einer der Universitätslehrer aus Rom entpuppte, bereits einige Jährchen mehr als wir auf dem Buckel hatte und hier in seinem Elternhaus urlaubte. Er wollte mit János im verstaubten Renault zum nächstgrößeren Dorf bzw. Vorort von Calvi, jemanden zu besuchen; ich habe die Ehre, seine Nichte (glaube ich) auf dem Rücksitz mitnehmen zu dürfen und den beiden Großen, so gut ich konnte, zu folgen.
Bevor falsche Eindrücke entstehen können, berichte ich lieber gleich, daß mir damals schon die Geschichten schrotflintenschwingender Korsenväter bekannt waren, die Nichte Renée keine der mir bekannten Sprachen richtig sprach und außerdem viel jünger als ich war, eher 12 als 13. Sie bettelte und insistierte so lange, schnatterte und plapperte auf Pierre ein, bis er sich geschlagen gab und mir kopfschüttelnd den unumstößlichen Ratschluß in Form einer Bitte übersetzte. Insgeheim war ich Pfau stolz, mit dem Moped etwas Besonderes zu haben und willigte sofort ein.
Während Pierre, János und Renée im Pfarrhaus verschwanden, lehnte ich dankend ab und sagte, ich würde ein bißchen herumgehen und mir den Ort ansehen - Fachsimpelei unter Pfarrern war heute nicht meins. Ich ging ein bißchen herum, kehrte wieder zum Hauptplatz zurück und entdeckte, daß sich rund um die Kirche eine Steinbank zog, auf der einige alte Herren saßen und gelassen auf die Hitze des Hauptplatzes starrten. (Später, als ich mit meinem Sohn den Korsika-Band von Asterix las, sah ich dort die alten Herren zu meinem Erstaunen wieder).
Ich setzte mich in respektvollem Abstand hin, aber einer sprach mich an und deutete mir, ich solle nur ruhig näherkommen. In einem Dreisprachengemisch aus den beiden mir bekannten Sprachen unterhielten wir uns über mein woher und wohin. Was denn das für ein Moped sei. Nein, was du nicht sagst, von Autriche bis hierher, und so schnell - man habe mich ja heranrasen sehen! Der Giuseppe, gell, der hat auch so eines, aber das fährt nur mit dem ersten Gang, das könne man ja zu Fuß überholen, du zumindest, du mit deinen jungen Füßen!
Und was ich für eine hübsche, junge Frau habe. Die sei aber seeehr jung, knurrt der eine mißmutig dazwischen. Nein, sie ist nicht meine Frau, ich bin ja noch Schüler. Ach, das muß aber schwierig sein, als verheirateter Mann in der Schule zu sitzen, unter all den Kindern. Nein, ich bin nicht verheiratet, sie ist nicht meine Frau! Tja, mein Junge, das geht uns allen gleich; erst können wir nicht genug Verrücktheiten machen, nur um sie zu kriegen, und wenn wir sie dann lange genug haben, dann können wir sie nicht mehr loswerden, gell, Giovanni, du willst deine Alte ja auch nicht mehr? Dröhnendes Gelächter, ich protestiere verneinend, aber es ist völlig zwecklos. Mein Schulfranzösisch und ebenso gutes Italienisch dringt offenbar nicht durch deren vermutlich batterielosen Hörgeräte. Wenn sie so was hier überhaupt kennen. Batterien, meine ich.
Im nun folgenden politischen Teil halte ich meinen Schnabel, so gut es geht. Ich nicke, als sie klagen, daß die Franzosen die Korsen seit jeher unterdrücken. Nicke noch, als es heißt, daß es "unterm Präfekten" so was nicht gegeben hätte (wer immer der Präfekt auch sein mag). Daß die Franzosen überhaupt ganz schlimm wüteten, seit der Präfekt nicht mehr sei (aha, tot vermutlich). Die Jungen würden aber die Franzosen schon noch hinausbomben aus Korsika, jawohl, und das sei sicher im Sinn des Präfekten, der sei ja selber ein Wilder gewesen, damals, nicht? (ich nicke vage, am Recht auf Unrecht zweifelnd). Und dann fragen sie mich, entrüstet, ob ich es denn für Recht hielte, daß die Franzosen den Präfekten ins Exil geschickt hätten und dort sterben ließen — auf der fernen Insel St. Helena?!
Wie viele Schafe mein Vater habe? Ob er den Käse selbst mache oder ob er zur Union (Genossenschaft) gehe. Schon etwas resignierter erläutere ich, daß wir nicht ein einziges Schaf haben und daß Vater keinen Käse produziert, sondern in der Kellerwerkstatt mit Elektronik hantiert (hobbyhalber; oder, wie soll ich "Exportkaufmann" für korsische Hörgeräte übersetzen?). Die Alten nicken bedächtig und schütteln die Köpfe, jaja, der Sowieso, der hat das auch probiert, aber der maschinell gemachte Käse, der taugt nix, den müsse der Sowieso bis nach Marseille bringen, den würde hier kein Mensch kaufen. Ich nicke und grinse, daß der korsische Käse wirklich etwas Besonderes sei. Sie tauen auf, einer nestelt in seiner Tasche und fördert einen in Papier eingewickelten Käse heraus. Mit roten Ohren und Schweißperlen auf der Stirn kaue ich an meiner Kostprobe, dieses Mal unwiederbringlich und unbarmherzig der berühmte Sprengstoff! Einer reicht mir eine Flasche, als ich zwischendurch japsend Luft hole. Der beißende, bittere Cidre (Apfelmost) war mir nie willkommener als jetzt. Mein Vater solle sich das mit der machinerie in seiner fromagerie nochmals überlegen und den Käse vielleicht doch wieder a mano machen, das machen wir ja hier alle so. Ich nicke stumm, wage nicht durchzuatmen. Wegen des Sprengstoffs.
Die Unterhaltung wird dann ohne meine Beteiligung weitergeführt, der Fremde wird belehrt, daß der Präfekt der Große Korse gewesen sei, aus Ajaccio gebürtig (15. August 1769), und die halbe Welt habe er beherrscht. Aber die Franzosen! Nein, nicht mal richtig Käse machen können sie, willst du nicht noch ein Stück? Und so weiter und so weiter. Ich atme regelrecht froh auf, als dann Pierre, János und die Nichte wieder herauskommen und ich mich von den Alten verabschieden kann.
Vor der Abfahrt war Renée ziemlich keck, plapperte und deutete in Zeichensprache, daß sie sich nun mindestens eine Raketenfahrt erwarte: wrummm, gib Gas! OK, nicke ich international. - Nach unserer Ankunft hüpfte sie aus dem Sattel und rannte dem gerade einlangenden Auto Pierres entgegen, gestikulierte wild und ließ einen Wortschwall los: wie toll es gewesen sei und daß wir wie die Wilden gefahren seien; Arme und Hände beschrieben eloquent die Fahrt auf der Rakete, die auseinanderstiebenden Ziegen und den Ziegenhirt, der sich durch einen mutigen Sprung in den Graben rettete. Ich grinste zu János, der etwas mehr von ihrem Geschwafel verstand und mit meinem Ritt nicht einverstanden zu sein schien. Pater Pierre gab mir einen freundschaftlichen Klaps und sagte: "Tu es con, tu sais?" was ich vorteilsbewußt mit: "Du bist wie eine Wildsau gefahren, weißt du?" übersetzen würde.
Pierres Schwester packt uns großzügig Brot, Käse und eine harte Salami ein - der Proviant wird uns für einige Tage reichen. Wir fahren weiter, ohne Pierre um Geld zu fragen, sehen Calvis Altstadt und die berühmte Burganlage an. In der Gegend um die Ortschaft Ile Rousse fahren wir ein bißchen herum, schauen alles an. Ich rechne noch einmal alles durch, berücksichtige, daß das Rückfahrgeld (in italienischen Lire) unangetastet bleibt, krame und kratze die letzten Groschen zusammen und kaufe mit János gemeinsam ein schönes korsisches Klappmesser für mich - das kleinste und billigste, das sie führten, aber ein korsisches, eben. Vermutlich nicht die intelligenteste Entscheidung, aber very emotional. Very István.
Wir erreichen am vorletzten Abend St. Florent, eine kleines und sehr korsisch aussehendes Städtchen in der gleichnamigen Bucht. Am Strand eine Kirmes. Wir essen unseren vorletzten Proviant auf, streichen auf der Kirmes herum; Prater en miniature mitten in Korsika. Unsere Augen leuchten, wir fühlen uns wieder wie Kinder. Die letzte Attraktion am Nordstrand war ein Zelt mit Musik und Tanzfläche im Freien. Viele junge Leute in unserem Alter auf der Tanzfläche. Wir sitzen am Rand und sehen ihnen zu; meine Nachbarin und ich lächeln uns immer wieder an.
János blickt auf die Tanzfläche, ich rutsche ein wenig hinüber und nehme Kontakt auf. Korsin? Nein, aus Frankreich, Nicole. Ah, mein Bruder und ich kommen aus Österreich. Mit dem Moped. Das weiße, da drüben. Nicole ist beeindruckt. Sie ist freundlich, spricht langsam und mit einfachen Worten. Mein Französisch wirkt jetzt nicht mehr so gestelzt, ich traue mich, flüssiger zu sprechen. Erzähle, was wo wie und warum. Sie sei auf Maturareise, aus der Gegend von Lyon. Sie werde Medizin studieren, mit einer Freundin in einer Studentenwohnung leben. Die ganze Klasse hat bestanden, und nun seien sie noch einige Tage da. Die, dort auf der Tanzfläche, das sind ihre Klassenkameraden. Ich sitze auf der Leitung und sage nur: aha!
Eine schöne Musik haben sie, sagt Nicole und schaut wieder zur Tanzfläche hinüber. Ja, sage ich und nicke mehrmals, die Musik ist gut, aber halt vom Tonband. Man kann trotzdem gut dazu tanzen, sagt Nicole, und ich sitze weiter auf der langen Leitung. Langsam, wie ein Schweißtropfen, kriecht ein Gedanke durch meinen Kopf, ich wische ihn weg. Dann fragt Nicole auch schon, ob ich denn nicht tanzen will? Ich sage, daß ich bisher immer in der Band gespielt habe und daher nicht tanzen kann. Sie lacht mich aus, dann führt sie mich auf die Tanzfläche. Ein gütiger Gott hat ein Einsehen und legt einen langsamen Schleicher nach dem anderen auf. János sitzt ziemlich verlassen im Sand und sieht zu den Sternen hinauf, wenn er nicht gerade unserem Getanze zusieht. Nicole scheint nicht gerade vom Glück verfolgt zu sein, wenn sie sich einen Vollbluttänzer wie mich anlachen muß. Ich gebe mein Bestes, aber unsere Versuche enden alle gleich, in engumschlungenem Schleicher.
Das hat auch sein Gutes. Wir können einander ins Ohr flüstern, ich höre mein Herz bis zum Hals herauf schlagen, fühle Nicole mit all meinen Sinnen und merke, daß es schon eine Ewigkeit her ist, seit ich Signoras Bier getrunken habe. Empfinde uns als einen einzigen Körper, der durch lästiges Textil zweigeteilt ist; schweißnasse Körper, die sich im Wiegen und Wogen vorsichtig neugierig betasten. Höre, wie Nicole kichernd flüstert, ob die schlimmen Österreicher alle so draufgängerisch seien wie ich.
Offenbar kann man auch auf einer langen Leitung tanzen, nicht nur sitzen, ich erwidere jedenfalls, daß ich mich eher als schüchtern sehe. Nicole lacht und meint, sie sei ein Puce (ein Floh, verdammt, wieso ein Floh?) und sieht mir ins Gesicht. Ich sage, ein Floh, das verstünde ich nicht, ich kenne Waage oder Zwillinge und auch Skorpion, aber einen Puce (einen Floh), nein, das kenne ich nicht, und mein Tanznachbar schaut mich griesgrämig an, als ob ich etwas Schlimmes gesagt hätte. Nicole schweigt, dann flüstert sie, ob ich nicht verstünde, ein Puce, eine Pucelle (ein kleiner Floh also, ein Flöhlein).
Hier und heute fordere ich ein generelles Überdenken des Französischunterrichts an unseren Schulen; was eine Metro ist, ein Bourdaloup oder ein Marsbramstengenstagsegel, ja, das lernen wir, aber nicht, was die Franzosen unter Pucelle verstehen: Nicole tanzt mich unauffällig aus dem Getümmel zum weniger beleuchteten Rand der Tanzfläche und umarmt mich ganz fest, dann flüstert sie in mein Ohr, eine Puce sei, wenn man noch nie mit einem Mann Sex gehabt habe. Jeanne d'Arc, die Pucelle d'Orléans, die Jungfrau von Orleans. Verstehst du? Ich nicke stumm und wir wiegen uns engumschlungen im Takt zu "Yesterday, all my troubles seem so far away", in meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, warum sagt sie mir das, und was heißt das jetzt . . .?
Schweigend tanzen wir, ich bin todtraurig, weil ich mich soeben verliebt habe und morgen wäre alles schon wieder vorbei. Ich sage zu Nicole, daß unsere Reise zu Ende sei und wir morgen früh weiterfahren würden, nach Bastia, zur Fähre nach Italien. Nicole fragt, ob wir wirklich schon fahren würden, ich nicke und dann weinen wir beide. John Lennon ist irgendwann fertig, Paul McCartney macht weiter: "She was just seventeen, and you know, what I mean" und wir hüpfen wie die Geißböcke, wie alle rund um uns herum auch. Nicole bleibt stehen und sagt, sie könne jetzt nicht mehr tanzen. Nicht, wo alles so unsagbar traurig sei.
Nicole aus Lyon und István aus Bregenz gehen einige Schritte zum Sandstrand, an den Rand der Lichtkegel, sitzen unter Milliarden von Sternen, lauschen dem leisen Rollen der Strandwellen und flüstern leise, flüstern und weinen. István aus Bregenz küßt Nicole aus Lyon, zieht sie sanft in den Sand und umarmt sie. János aus Rom kommt langsam näher, hüstelt leise und sagt zu István aus Bregenz: "Komm, wir müssen weiter!" und zu Nicole aus Lyon: "Il faut nous partir (wir müssen aufbrechen)!"
Tränenblind lasse ich János ausnahmsweise lenken, wir fahren einige Kilometer Richtung Punta Mignola, wo wir untertags schon einen guten Schlafplatz bei einer Burgruine ausgekundschaftet haben. Wir sprechen nicht viel. János beginnt und sagt, daß es ihm leid täte, aber ich knurre, er solle mich endlich in Ruhe lassen. Wir wissen beide, daß er Recht hat, aber mein Herz zerspringt fast vor Gram und Liebesweh'.
Am nächsten Morgen weckt uns die Sonne erst, als sie schon recht hoch steht; wir haben beide tief und traumlos geschlafen. Schweigend bereitet János einige Brote zu, schweigend befestige ich die Stahlfeder, die immer wieder vom Auspuff abrutscht und mehrmals täglich befestigt werden will. Dann sitzen wir uns gegenüber, ich leide unter János' traurigem Blick. Ach, was soll's, ich boxe ihm grinsend auf den Arm: "Muß wohl schwer für dich sein, mit einem A—loch wie mir unterwegs zu sein!" János lächelt erst zaghaft, dann lachen wir beide. Noch Jahre später zwinkern wir einander zu, wenn von einem Sandfloh auf Korsika die Rede ist.
Wir frühstücken den letzten Proviant und fahren an St. Florent vorbei zur Paßstraße, die über den Col de Teghime auf knapp 1300m hinaufführt und von dort wieder auf Meereshöhe in die Hafenstadt Bastia, wo uns die Fähre nach Italien erwartet. Die Rundfahrt zum Cap Corse mit seinen ausgedehnten Kastanien- und Walnußwäldern haben wir schon abgeschrieben. Keine Zeit und kein Geld mehr.
Nach der letzten Tankstelle, bei der ersten Spitzkehre mit Rastplatz und Panoramablick, halte ich an. Wir kontrollieren nochmals Gepäck, Reisekasse und Benzintank: alles recht dürftig, scheint es. Unser Proviant ist aus, die Reisekasse bis auf die "italienische Reserve" leer und der Tank, tja, der Tank! Ich wiege den Kopf und sage, daß der Saft vielleicht noch bis hinauf reicht, aber bergab müssen wir elektrisch (das heißt ohne Motor) fahren, damit es bis zum Hafen reicht. János meint, lange dürfen wir uns heute nicht Zeit lassen, denn Proviant können wir uns erst wieder in Italien kaufen. Das wären dann 24 Stunden "ohne".
Ein neben uns stehender Tourist spricht uns an. Er sei auch aus Österreich, da, der alte schwarze Mercedes mit Wiener Kennzeichen, das sei seiner. Wo wir herkämen, usw. usw. Jessas, mit dem Moped, von Bregenz bis hierher! Das sei eine gewaltige Strecke! Er sei mit der Fähre aus Marseille gekommen, die Überfahrt wäre schweineteuer, aber er habe lange für diese Reise gespart und könne es sich endlich leisten; aber mit dem Moped, nein! - Es stellte sich rasch heraus, daß er ein freundlicher und gemütlicher Mensch war, der nichts Böses will, sondern im Gegenteil: nachdem er uns ausgiebig ausgefragt hatte, sagte er, er habe gehört, wie wir uns beraten haben, und er wolle uns (soundsoviel) Franken schenken, damit wir sicher nach Hause kämen. Er rechnete laut, daß das überschlagsmäßig etwa zwei Tankfüllungen plus eine ordentliche Jause ergeben müßte.
Erst hielten wir es für einen Scherz, als er das so lässig herunterplapperte, aber er griff in seine Tasche und zählte einige Scheine ab. Ohne zu Zögern drückte er mir das Geld in die Hand; als János ihn fragte, wie wir es zurückzahlen könnten, sagte er, "Ach was, es wird Euch sicher einmal irgend jemand begegnen, der es braucht, so wie ihr heute, dann gebt ihm halt etwas!" Dann setzte er sich in seinen Wagen, "Pfürt'Euch Gott und fahrt's vorsichtig!" und düste von dannen.
Wir haben uns noch jahrelang an diesen Mann erinnert; das war praktisch verstandene Nächstenliebe! Im Augenblick aber fuhren wir das kurze Stück zur Tankstelle zurück, tankten voll und kauften Lebensmittel für zwei Tage, dann fuhren wir auf den Berg, zu jener Zeit (nach dem Koppenpaß bei Hallstatt) die zweitsteilste Paßstraße Europas. Oben, am Paß, wo eine alte Kanone an eine der entscheidenden Schlachten zur Befreiung Korsikas erinnert, machten wir Rast und blickten nochmals auf Korsika, das man von dort oben fast zur Gänze sehen kann.
János kramte nochmals in seinen Papieren, fand die Stelle mit dem Col de Teghime und las vor, wer dort gegen wen gekämpft habe. Es war ein schöner Abschluß für unsere Reise, wir hatten etwas für uns Wichtiges gut zu Ende gebracht und die Sonne schien, heute ganz besonders für einen Mann in einem Mercedes, der Richtung Süden nach Porto Vecchio unterwegs war. Ja, mein Freund, ich habe Dich seither oft wiedererkannt, meine Schulden beglichen, und bin noch dabei! Ich blickte hinunter auf St. Florent, dort unten, wo die alte Kirche im Wasser steht, dachte fast nicht mehr an Nicole, meinen Floh aus Lyon. János las weiter und ließ einen Teil der Geschichte Korsikas lebendig werden.
Von Bastia brachte uns die Fähre nach La Spezia, von dort ging es - wegen Verspätung der Fähre - in einem wahren Husarenritt nach Florenz, wo ich János buchstäblich in letzter Minute zum Zug brachte. Ich weiß noch, als ob es gestern gewesen wäre, daß ich für die letzten 70km exakt 58 Minuten gebraucht habe; wir haben fast jede Minute auf die Uhr geschaut, so knapp war die Zeit bis zur Abfahrt.
Und ebenso präzise habe ich vergessen, aber wirklich absolut vergessen, wie meine Fahrt von Florenz nach Bregenz verlaufen ist; bruchstückhaft entdecke ich noch Erinnerungsreste an eine Übernachtung in einem Bauernhof bei Meran und anderntags den Besuch bei meinem Schulkollegen Walter S., der in Nauders am Reschen-Scheideck-Paß lebte.
Aber der Rest ist vergessen. Für immer.
Es ist mir eigentlich egal, daß Hinz und Kunz und alle Welt mit den abendländischen Tierkreiszeichen astrologisiert; wie dumm das ist, sieht man schon daran, daß ich zum Beispiel im Tierkreiszeichen der Waage geboren bin; ein interessantes Tier, die Waage, nicht? — So gesehen ist es natürlich, daß man etwas passenderes nimmt, den chinesischen Kalender etwa, nach dem ich im Zeichen der Ratte geboren bin. Paßt schon eher. Oder der Tasmanische Beutelteufel — eindeutig mein Tierkreiszeichen! Am besten gefiele es mir, würde man anerkennen, ich sei im Zeichen des Fuhrmanns geboren worden, dessen Hauptstern der Canopus ist. Und über Canopus, den klügsten Kopf am Hofe des Pharao Ptolemäus III., könnte ich einiges erzählen.
Warum mir das jetzt einfällt? — Nun, ich dachte gerade darüber nach, warum ich erst mit 20 Jahren die Matura gemacht habe, obwohl ich kein einziges Jahr durch Sitzenbleiben oder Ähnlichem verloren habe. Da ich als herbstgeborener "Fuhrmann" erst mit 7 Jahren eingeschult wurde und eine 5-jährige Oberstufe — also mit polytechnischem Jahr — absolviert habe, errechnet sich leicht, daß ich erst mit 20 so weit war. Diese 5 Oberstufenjahre diente ich in Salzburg ab.
Warum in Salzburg? — Nun, der Professor für Altgriechisch an unserem humanistischen Gymnasium war ein eingefleischter Nazi, der u. a. meinen ebenfalls ungarnstämmigen Mitschüler Tomi und mich — verkehrt auf unseren Holzstühlen sitzend — über den Holzboden unseres Klassenzimmers galoppieren ließ, während er seinen Lieblingsspruch (dümmer geht's wohl nicht) verlauten ließ: "... da sind sie, die awarischen Reitervölker aus dem Osten..." Nun, es fiel mir schwer, unter solchen Bedingungen Altgriechisch zu lernen. Als ehrenwerter Vertreter der Reinen Deutschen Rasse bot er mir an, entweder jährlich durchzufallen — und dafür würde er schon sorgen, bei Thor! — oder aber die Schule ehrenvoll zu verlassen. Ich war der Klügere und wanderte nach Salzburg aus, wo mir meine Eltern einen Platz in einer Eliteschule verschaffen konnten. — Als ich Jahre später hörte, daß dieser Lehrer wegen seines ehrenhaften, aber ewiggestrigen Verhaltens unehrenhaft von der Schule gefeuert wurde, freute ich mich ein wenig. Noch mehr freute es mich, als er seine Funktionen als Abgeordneter verlor, weil ihn die Rechte Partei wegen einiger peinlichen Ausritte im Rundfunk und einer völlig durchgeknallten Wahlrede im Lokalfernsehen feuerte. Er wurde dann in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, wo er noch sehr alt wurde.
Daß ich die Matura erst im Herbst ablegte, ist wieder erklärungsbedürftig. Subjektiv gesehen war ich ja immer ein guter Schüler, objektiv gesehen interessierten mich zu jener Zeit andere Dinge mehr und nachhaltiger als das Lernen, streng objektiv gesehen waren meine Noten eher so-lala bis gerade-geht's-noch, selbst wenn ich damit im oberen Klassendrittel lag. Kaum hatte ich mir in zeitraubender Kleinarbeit ein Basishalbwissen über das Thema Frau erworben (was sich bis zum heutigen Tag nicht wesentlich ändern sollte), da wurde mir die Rechnung dafür in Mathematik präsentiert.
Nein, ich glaube nicht, daß das damit zu tun hatte, daß der Mathematiklehrer der zweite (und auch letzte) Nazi unter meinen Lehrern war; ich war einfach zu ehrgeizig beim Basishalbwissen und zu faul und zu bequem beim Lernen, und für Mathematik ist das eben nicht optimal. Als ich bei einer Rauchpause auf dem Schulhof eine große Lippe riskierte und den Mathematiklehrer einen "...Scheißnazi" nannte, "der Acht geben muß, daß er keine Hakenkreuzchen anstelle der Pluszeichen an die Tafel pinselt...", bemerkte ich viel zu spät, daß die Mitschüler entsetzt an mir vorbeistarrten; der Lehrer stand hinter mir, mit blitzenden Augen und vor Wut zitterndem Kinn. Da meine Noten in den ersten drei Vierteln des Schuljahres ziemlich zufriedenstellend bis gerade noch brauchbar waren und ich die schriftliche Matura bereits positiv bestanden hatte, machte ich mir keine besonderen Sorgen. Hätte es aber tun sollen, denn in den folgenden letzten Schulwochen kassierte ich Fleck um Fleck in Mathe. So weit, so gut.
Und, da ich schon damit angefangen habe, muß noch erzählt werden, daß mich Michael K., ein liebenswerter, anhänglicher, aber mit der Zeit recht lästig werdender Schulfreund, einige Male zum Boxtraining mitnahm und hoffte, wir würden es gemeinsam im Boxverein Salzburger Stier* zu etwas bringen. Ich hatte allerdings keine rechte Einstellung zum Training und so mußte Michael allein Boxerlegende werden. Hier muß der Salzburger Stier noch etwas näher erläutert werden, vielleicht sind Sie einmal in Salzburg und wundern sich, was so alles unter Salzburger Stier firmiert. Erstens ist der Salzburger Stier seit 1981 ein Kleinkunstpreis, und mit diesem Wissen sind Sie der Held des Abends — kaum einer kennt nämlich diesen begehrten Kaberettpreis. Dann wird von den Fremdenführern auf der Festung Hohensalzburg als Salzburger Stier eine uralte Orgelkonstruktion* hergezeigt, die in früheren Zeiten ein weithin hörbares Alarmsignal abgab, wenn wieder mal die räuberischen Bayern einfielen. Bekannter aber ist die Legende vom Salzburger Stier, einem echten Viech, das die belagerten Salzburger Nacht für Nacht mit anderer Farbe anmalten und morgens auf der Festungsmauer spazierenführten, damit die Belagerer (sorry, aber es waren schon wieder die Bayern) sehen konnten, daß die Salzburger noch jede Menge an Steaks vorrätig hatten und dann auch tatsächlich abzogen. Last but not least ist der renommierte Salzburger Boxverein, der etliche Meister hervorbrachte, ebenfalls nach dem Salzburger Stier benannt.
Nach diesem kleinen Exkurs ins Salzburger Tierleben aber zurück zum Boxen: Michael gab es bald auf, mich mitzuschleppen, ich war einfach unfähig, ein kontinuierliches Training zu absolvieren und war auch sonst nicht so recht bei der Sache; es mußte ja noch so viel Basishalbwissen angeeignet werden! Zudem beklagte sich Michael hinter meinem Rücken weinerlich über meine "faule Linke", will heißen eine Finte, die ich mir selbst ausgedacht hatte und die ihn immer wieder schmerzhaft überraschte.
Unser Schuldirektor, der mich sehr schätzte, ernannte mich damals als Internatsältesten zum Internatsältesten in der Hoffnung, sein hochbezahltes Erziehungspersonal durch die von ihm angeordneten "freiwilligen" Samstags- und Sonntagsdienste entlasten zu können — den Glücksfall, einen Naiven wie mich auszunutzen, ließ er sich nicht entgehen. Leider endete seine Wertschätzung abrupt, als ich an einem schönen Samstag Nachmittag einen Burschen quer durch den langen Gang des Internats und dann noch durch die geschlossene Tür am Ende des Ganges prügelte. Ich hörte erst mit dem Schlagen auf, als der Kerl auf den Resten der Türe am Boden lag — im Zimmer eines Erziehers, der nur mit einer buntgeblümten Boxershort bekleidet am Waschtisch stand und sich rasierte. Der Kerl schrie, der Erzieher schrie — er hatte sich vor Schreck die Backe aufgeschlitzt — und ich schrie auch, weil ich immer noch wütend war. "Mörder!" schrie der blutende Erzieher und das ganze Haus rannte herbei, "Mörder!"
Ich bekam augenblicklich Zimmerarrest. Bevor die Gendarmerie gerufen wurde, kam die Mutter meines Opfers herbeigeeilt und interviewte ihren Sohn, inspizierte seinen ausgeschlagenen Zahn und seine blauen Flecken. Nachdem sie mit seinen Erklärungen offenbar nicht zufrieden war, verlangte sie, mich zu sehen. Ich war verstockt und beharrte darauf, im Recht gewesen zu sein (als ob es ein Recht aufs Prügeln gäbe!). In ihrem Kreuzverhör mußte ich Wort für Wort wiederholen, was der Kerl gesagt hatte, weswegen ich ihn vermöbelt hatte. Die Mutter bat mich, es nochmals zu wiederholen, ließ mich mehr oder weniger schwören, daß das so, genau so und nicht anders gewesen sei. Dann rief sie ihren Mann, den Herrn Botschafter, an und besprach sich mit ihm. Der Herr Direktor war inzwischen alarmiert worden und stieß nun auch zu unserer kleinen Gruppe; der Erzieher schilderte ihm atemlos alles aus der Sicht der zermerschelten Tür, blutigem Rasierschaum und Heftpflaster — der Direktor mußte zunächst ja annehmen, ich hätte den Erzieher mit dem Rasiermesser angegriffen. Er begriff erst viel später, daß ich nicht den Erzieher, sondern den Kerl verprügelt, meine Ehre zu verteidigen versucht hatte — jedenfalls unterbrach der Direktor lautstark jegliche Debatte und urteilte, daß der Delinquent (ich also) sofort der Schule verwiesen werde!
Gott muß eine Frau sein, denn nun griff sie in Gestalt der Mutter ein. Sie glaube eher mir als ihrem eigenen Sohn, sagte sie kühl und entschlossen. Sie habe lange mit mir gesprochen und alles, was ich gesagt hätte, wirke glaubhaft und ehrlich. Daß Gewalt grundsätzlich nicht in Ordnung sei, das wüßten wir alle und er (also ich) hätte es jetzt sicher auch begriffen. Ihr Sohn habe einen schweren Fehler gemacht und müßte sich eigentlich bei mir entschuldigen, nicht umgekehrt! Der Herr Botschafter und sie bestünden darauf, die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen und forderten vehement meinen Verbleib an der Schule. Der Herr Botschafter (oder war er Konsul?) käme in einigen Tagen wieder nach Österreich und werde höchstpersönlich noch einmal beim Herrn Direktor vorsprechen; er bestünde expressis verbis darauf, daß ich nicht bestraft würde. Expressis verbis, das vergesse ich nie.
Obwohl die Wogen noch tagelang hochgingen und ich samt Kerl eine mehrstündige Kartoffelschälstrafe und Küchenputzdienst zwecks Verbesserung der Kommunikation und Hebung der Demut abdienen mußte, blieb es bei der Entscheidung der Frau Botschafter. Nur Michael K. war sehr enttäuscht, denn der Direktor hatte gleich beim Boxklub angerufen und denen ordentlich Bescheid gegeben: ein solch brutaler Schläger wie ich, das vertrug sich doch sicher nicht mit der Auffassung vom Boxsport, oder?!
Ach ja, als dann die Sache abgeklungen war und es scheinbar ruhig um diese blödsinnige Schlägerei geworden war, rief mich der Direktor einige Tage später in sein Büro und hielt mir vor, daß ich sein in mich gesetztes allergnädigstes Vertrauen feige enttäuscht habe und ein ganz mieser kleiner Schläger sei, jawoll! Und daß ich Boxunterricht genommen hatte, nahm er mir doppelt übel, den nun wunderte es ihn nicht mehr, daß ich den Kerl, der sicher 20cm größer als ich war, fertiggemacht hatte. Er versprach mir hoch und heilig, er würde mich schon noch kriegen, wart's nur ab!
Die Gelegenheit dazu bot sich, als ich den Mathematiklehrer, der ein Nazi war, auf dem Schulhof einen Nazi nannte. Erst jetzt, im Verlauf seiner ziemlich schmutzigen, wenngleich gesetzeskonformen Prüfungsorgie, entdeckte ein Mitschüler, daß der Mathelehrer im Krieg unter dem Direktor gedient haben soll, der seinerseits aber seit 1945 natürlich kein Nazi mehr war, sondern ein durchaus christliches, ehrenwertes Mitglied der Kirchengemeinde.
Es nützte auch nichts, daß die gesamte Klasse trotz meiner Proteste geschlossen ins Direktorenzimmer ging und sinngemäß verlangte, man solle einen Nazi auch einen Nazi nennen dürfen. Noch heute stelle ich mir vor, wie sich die Dreckskerle gegenseitig auf die Schulter klopften und dabei Tränen lachten, nachdem wir Naivlinge unverrichteter Dinge hinauskomplimentiert worden waren!
Während sich 75% meiner Mitschüler überlegten, was sie nach der Matura mit ihrem Leben anfangen wollten, überlegten Evelyne und Eva, Christian, Billy und ich, was sie im Sommer noch essentiell lernen könnten, um im Herbst bei der Nachmatura zu brillieren. Christian — er sollte später ein bedeutender Wirtschaftsmann im Staatsdienst werden — hatte so seine Verbindungen und bekam heraus, daß es noch aus Kaisers Zeiten eine Verordnung gab, wonach jene, die sich freiwillig zum Militärdienst meldeten und in Uniform zur Matura kamen, von der Prüfungskommission wohlwollend zu beurteilen seien — was darauf hinauslief, daß jeder in Uniform gefälligst durchzukommen hat, punktum.
Christian, Billy und ich erschienen logischerweise in Uniform zur Matura, die deswegen verspätet begann, weil sich der verdutzte Direktor erst mit der Lehrerschaft beraten mußte, was das hieß und ob das denn mit rechten Dingen zuginge. Es ging, es ging! — Aber ich will nicht vorgreifen.
Billy und ich beschlossen, den Sommer über gemeinsam im Hotel seines Vaters zu arbeiten und miteinander zu lernen. Billy, damals noch nicht Kommerzialrat, beschloß seinerseits kurzfristig, daß das Bißchen an Arbeit für zwei nicht ausreichte und er daher doch lieber den Sommer an der italienischen Riviera verbringen wolle; er als Kapitalistensohn konnte doch unmöglich mir, dem Arbeitersohn, dieses bißchen an Arbeit wegnehmen! Sein Vater grinste und war einverstanden; ich war auch einverstanden, bloß das mit dem Grinsen gelang mir nicht so recht.
Das kleine, ehedem elegante Hotel an einem Kärntner See litt allerdings am schlechten Marketing und den nicht sehr rosigen Zeiten der Tourismusbranche. Es gab Tage, an denen drei oder vier Leute die Arbeit kaum bewältigen konnten, oft aber stand das Haus tagelang leer. Da ich an diesen Leerstandstagen kein Geld verdiente, kümmerte ich mich zunehmend darum, doch noch Gäste ins Haus zu bekommen. Ich telefonierte mit Hinz und Kunz, ob man uns nicht Gäste schicken könne.
So telefonierte ich auch blöderweise mit Michael in Salzburg; Michael, der mich zum Boxen geschleppt und gehofft hatte, wir würden es gemeinsam beim Salzburger Stier zu etwas bringen. Nun, Michael arbeitete über den Sommer in einem Reisebüro und meldete sich nach kurzer Zeit wieder: ja, er habe mit dem Österreichischen Amateurboxklub verhandelt und die würden gerne mit einigen Sportlern ein Trainingslager in Kärnten abhalten; nach einigen Telefonaten war alles zufriedenstellend geregelt. Man bereitete sich für die Olympiade vor, gerade im Boxen hatte Österreich Hoffnungen und so kam es, daß die Olympioniken* Rainer Salzburger, Franz und Hermann Frauenlob sowie der Trainer der Nationalmannschaft, Jo Kaspar, in unserem Hotel landeten.
Gleichzeitig — wenn es kein Zufall war, muß es Michael gewesen sein — meldete sich im Hotel eine Gruppe Freistilringer an, die sich auf die in einigen Wochen beginnende Catch-as-Catch-can-Tour vorbereiten wollten (damals sagte man noch nicht Wrestling zu dieser Form des Schaukämpfens). Unter dieser Handvoll bärenstarker Catcher erinnere ich mich noch (hoffentlich richtig) an die Namen der Österreicher Otto Wanz und Ferdl Weiß, die anderen Ringer waren Sportler aus Osteuropa wie der Herr Dimitroff (oder hieß er Domitscheff?), die geheimnisvolle "schwarze Maske".
Beim Einchecken gibt ein Wort das andere, der Michael wird denen einiges über mich vorgeflunkert haben, jedenfalls sagt Jo Kaspar so nebenbei, ich möge doch in der Früh gleich mitlaufen.
Um 5 Uhr geht's los. Monika, die fesche Kellnerin, mit der ich heute gemeinsam Dienst habe, sieht mich von der Seite an. Bevor ich auch nur Piep sagen und über einen ehrenvollen Rückzug nachdenken kann, der mein Ansehen bei Monika nicht schmälert, geht Jo Kaspar auf sein Zimmer und damit ist die Sache erledigt.
Mein Gott! Fünf Uhr früh! Da hilft kein Heulen und kein Zähneknirschen, meine Ehre steht auf dem Spiel und — viel wichtiger, weil greifbarer — die Chancen bei Monika, also wird aufgestanden! Während ich in einer geborgten Turnhose und einem Unterleiberl auf dem Parkplatz warte, sehe ich kurz ihr Gesicht hinter den Vorhängen aufblitzen. Also gut, ein Punkt für mich, wenn auch um 5 Uhr früh. Die Lustbarkeit, die daraufhin folgte, heißt Waldlauf.
Minuten später bereue ich jede einzelne Marlboro, die ich je geraucht habe, noch einige Minuten später kommen die Biere und dann auch die Schweinsbraten zum Bereuen dran. Keine zwanzig Minuten später bereue ich meine gesamte kosmische Existenz. Die Sportler helfen kameradschaftlich dem in Bedrängnis geratenen Kellner. Um sechs Uhr sind wir wieder beim Hotel angelangt, ich habe mindestens ein Dutzend Liter ausgeschwitzt und nun sitzen alle erwartungsvoll im Frühstücksraum. Ich nicht, denn ich renne aufs Zimmer, dusche mich und bin Minuten später in schwarzer Hose und weißem Hemd samt Fliege unten, um das Frühstück zu servieren. Humpelnd, keuchend und mit einem gewaltigen Muskelkater.
Meine Herren, war das ein Streß! Allerdings habe ich an den folgenden Tagen — wenn überhaupt — nur mehr die halbe Strecke absolviert und bin dann auf einer Abkürzung ins Hotel getrabt, um die Sportler mit dem fertigen Frühstück zu empfangen. Aber glauben Sie nicht, daß das schon alles war. Es kam noch eine Steigerung, nachdem alle anderen Hotelgäste abgereist waren und unser Hotel zum reinen Sporthotel mutierte.
Jo Kaspar lächelte freundlich, als er nach dem Frühstück meinte, ich solle doch mit zum Ringerzelt, wo auch die Boxer trainierten. Ich war sehr neugierig, wollte vor allem die famosen Ringer sehen und sagte sofort, ja gerne. Also rasch die Tische abgeräumt und das Geschirr versorgt, dann ab zum Bus.
Die erste halbe Stunde war, wie ich es erwartet hatte. Die Ringer übten Catchen, und mit Staunen sah ich, wie die Männer Griff für Griff, Wurf für Wurf trainierten. Es war alles sorgsam einstudierte Choreographie. Natürlich mußte das richtige Hinfallen und Hinwerfen gelernt werden, damit es schlimm aussah, vermutlich tat es auch etwas weh, aber im Großen und Ganzen ging es darum, sich oder den anderen auf keinen Fall ernsthaft zu verletzen. Trotzdem mußte es martialisch aussehen. Ich war fasziniert, wenn eine Kombination erst langsam, dann immer schneller geübt wurde und man am Schluß den Eindruck hatte, daß die Kerle sich wirklich fest hauten. Taten sie natürlich nicht. Oder ein bißchen, wenn's der Dimitroff war.
Dann schlenderte Jo Kaspar herbei, stand schweigend neben mir und sah sich das Ringen an. Er war damals schon um die Sechzig, etwa von meiner Statur, aber sehr sportlich und zäh und hatte einen eisenharten Griff, der mir bei jedem Händedruck Tränen in die Augen trieb. Rainer Salzburger war hingegen hochgewachsen und so schlank, daß kaum jemand in ihm den besten Boxer Österreichs vermutet hätte. Die beiden Frauenlobs waren breit und muskelbepackt, beide von Beruf Schmied, die in Salzburg eine Kunstschmiede betrieben. Der Unterarm von Franz war so breit wie mein Oberschenkel, Hermann war etwas schlanker als sein Bruder.
Jo Kaspar lehnt also neben mir und sagt mit ernstem Gesicht (nur tief unter seinen Runzeln wetterleuchtet ein Grinsen), er bräuchte mich mal, seine Burschen bräuchten einen Sparringpartner. Ich merke natürlich nix vom Wetterleuchten (oder, daß es sich um einen kleinen Schabernack handelte) und bin perplex, denn ich weiß genau, was das ist, Sparring: ein Schlag auf die Nase, und ich liege platt auf der Matte. So war es dann auch, oder fast genau so.
Hier muß ich einschieben, daß ich bei einem Gespräch offenbar etwas falsch verstanden haben mußte und fortan glaubte, Jo Kaspar wäre ein Ex-Europameister im Boxen, was mich mit großem Respekt und Ehrfurcht erfüllte. — Erst dreißig Jahre später klärte sich der Irrtum auf; ich will aber keinesfalls unterstellen, der gute Mann hätte mich angeschwindelt!
"Der Michael K. meinte," sagte Jo Kaspar, "du seiest recht flink mit den Beinen und schlägst eine freche Linke. Das will ich mir mal ansehen!" (Michael sagte in Wirklichkeit sicher: faule Linke, aber das ist kein Boxbegriff, aber er wollte wohl andeuten, daß ich ihn manchmal gefoult habe.) Jo reichte mir ein paar Handschuhe und zog selbst welche an. Ich war immer noch wie gelähmt und erlebte wie abwesend, daß mir Hermann die Handschuhe an- und dann recht fest zuzog. Bevor ich auch nur Piep sagen konnte, stand ich Jo Kaspar im Ring gegenüber. Ich, der ich noch nie gegen einen richtigen Boxer gekämpft habe, stehe nun einem Ex-Europameister gegenüber und werde gleich eine fürchterliche Dresche beziehen. Bloß, weil Michael herumschwadronieren mußte über meine sagenhafte Schnelligkeit! Wo war die jetzt, hä?! Meine Knie waren jedenfalls weich und mein Puls raste mit 180, das kann ich beschwören!
"Na, komm!" sagte Jo Kaspar und schlug vor meiner Nase ein paarmal in die Luft. Ich zuckte erschrocken zurück, denn beim Training hat keiner so schnell vor meiner Nase herumgewachelt, da ging es lehrreich und pädagogisch langsam zu; Jo grinste (denn jemand, der schon einige andere Meister auf die Matte geschickt hat, hat leicht Grinsen) und landete nun einen Treffer nach dem anderen in meinem Gesicht, auf meinem Körper. So sehr ich mich auch duckte und hüpfte, er hatte mich genau im Visier und traf jedesmal. Nicht fest, immer nur ganz leicht. In diesem Trommelwirbel hörte ich seine Anweisungen, daß ich nun links oder rechts abtauchen solle, die Deckung rechts oder links hochnehmen soll und, verdammtnochmal, wer hat dir beigebracht, einen Buckel wie Quasimodo zu machen? Ich folgte, so gut ich konnte, aber er traf und traf und ich wußte, daß meine Leistung nicht reichte, ich konnte höchstens als Punchingball Karriere machen.
Enttäuschung. Er traf jedesmal. Ich nie. Ich stand wie ein Bock, festgewurzelt und rührte mich nicht vom Fleck. Es dämmerte mir langsam, daß ich mich bewegen mußte, schnell sogar. Ich bewegte mich also, so schnell ich nur konnte und nun trafen nur mehr 99 von 100 Schlägen. Jo machte eine kurze Verschnaufpause und kommentierte, daß er (ich) doch was von Beinarbeit verstünde, dann sah ich nur mehr ein großes, rundes braunes Lederdings auf mich zusausen. Fast hätte ich mich hingesetzt, denn ich war darauf nicht gefaßt; wir machten doch eine Verschnaufpause, oder? Rainer stand hinter mir und feuerte mich an. Franz und Hermann unterbrachen ihr Training und kamen näher. Rainer feuerte mich an, ich solle mich doch schneller ducken, zuschlagen, und gleich wieder die Deckung hochnehmen. Irgendwann machte ich einen großen Sprung nach hinten, ließ die Arme hängen und meinte unter Zornestränen, ich könne jemanden, der so viel älter sei als ich, einfach nicht schlagen!
Das hätte ich nicht sagen sollen, heute weiß ich das. Damals wußte ich's auch gleich, denn Jo Kaspar knallte mir sofort eine ordentlich auf die Nase, daß die Funken nur so stoben und sagte, so alt fühle er sich gar nicht, ich solle ihn nur ruhig hauen, wenn ich könne, und die anderen lachten schallend. Ich wurde zornig, was nicht viel half, denn meine Absichten wurden dadurch um so vorhersehbarer. Da ich Linksausleger bin, starte ich den Angriff ja über rechts, und natürlich sieht man das schon Ewigkeiten vorher, weil sich die rechte Schulter schon lange vor der Faust nach vorne schiebt. Eine zornige Schulter sieht man sogar zwei Ewigkeiten früher.
Franz kommentierte das und sagte zu seinem Bruder Hermann, daß es allen Anfängern so gehe, und das bringe nichts. Hermann meinte, daß ihm (mir) nur das Täuschen helfen könnte, so-und-so täuschen und er machte es, hieb -zack!- in die Luft. Ich bekam es irgendwie mit und machte es ihm nach. Drehte mich halbherzig und schlug mit der "falschen" Faust zu, traf Jo zum ersten Mal hart und sagte verblüfft: "Entschuldigung!".
Natürlich war mein harter Schlag für Jo, als wenn ihn der Flügelschlag eines Schmetterlings gestreift hätte; er lachte und sagte, ich solle es nochmals versuchen. Meist gelang es nicht mehr, der Trick war durchsichtig und vorhersehbar geworden. Ein oder zweimal gelang mir aber die schnelle zweifache Drehung doch und ich traf, streifte zumindest die Brust oder die Schulter des Meisters. Der sich, im Gegensatz zu Michael, nicht über meine "faule Linke" beschwerte, nicht mal mit der Wimper zuckte und meinen Angriff bald ins Leere gehen ließ. Wieder täuschte ich doppelt über rechts, ließ die Linke vorschnellen und hieb fest in die Luft, denn er war schon längst nicht mehr "dort". Was ich in selbstsicherer Überheblichkeit für eine geniale Finte hielt, entpuppte sich als leicht durchschaubarer Ablauf für den Profi. Die Erkenntnis, im Vergleich zum alten Herrn wie eine flügellahme Ente zu erscheinen, trieb mir fast die Tränen in die Augen. Ich schlug wie ein Berserker um mich und traf die Seile des Rings, den Eckpfosten und vermutlich auch unbeteiligte Zuschauer, nur Jo Kaspar traf ich nie mehr.
Der Himmel hatte irgendwann ein Einsehen und ließ in Jo die Erkenntnis reifen, daß ich wohl nie und nimmer zum Boxen tauge, zumindest jetzt noch nicht. Er trat zurück und meinte, ich solle mit dem Unsinn aufhören und ich hörte mit dem Unsinn auf, dankbar und völlig außer Atem. Der Michael hätte schon recht, meinte Jo spöttisch, ich könne wirklich eine Finte schlagen. Wäre ich auch etwas weniger naiv gewesen, ich hätte wohl merken müssen, daß nicht alle Sportler mit dem Schabernack ihres Trainers einverstanden waren. Später hat mich dann Hermann ein paar Mal zur Seite genommen und mir einige Grundbegriffe des richtigen Boxens gezeigt; zunächst einmal, wie ein Boxer richtig steht und dabei nicht wie ein Kellner aussieht, der versehentlich im Ring steht, aber meine steile Boxerkarriere endete am Ende dieser Woche abrupt, als die Sportler abreisten.
Wir mußten uns wohl ganz gut verstanden haben, denn als ich im Herbst wieder nach Salzburg mußte, um mich auf die Matura vorzubereiten, da durfte ich bei den Frauenlob's wohnen. Die Matura habe ich wie das anschließende obligatorische Besäufnis ganz gut überstanden. Ein wenig später klebte ich am Fernsehschirm, um die Fights von Rainer, Franz und Hermann bei der Olympiade zu sehen. Aber da diente ich schon beim Bundesheer, und da mußte ich mehr und anders kämpfen lernen.
Ich habe einiges mit * markiert, um einige Fakten, die im Textfluß nicht untergebracht werden konnten, nachzutragen:
Der "Boxprofessor" Mag. Dr. Rainer Salzburger war fünfmal österr. Meister im Amateurboxen und Olympiateilnehmer in Mexiko 1968; im Zivilberuf unterrichtete er Leibeserziehung (Sport) und Geographie an Mittelschulen und ist Präsident des Österr. Amateur-Boxverbandes ÖABV.
Die Brüder Franz und Hermann Frauenlob aus Salzburg waren ebenfalls mehrfache österr. Meister im Amateurboxen und Olympiateilnehmer in Mexiko 1968.
Josef "Jo" Kaspar aus Linz war etwa 20 Jahre lang Nationaltrainer des Boxverbandes.
Neben dem bereits erwähnten Kaberettpreis ist der "Salzburger Stier" u.a. Namensgeber für einen Gewichtheber-Wettbewerb, ein Dart-Fest sowie einen Wettbewerb für Tauchsportler; einen Boxklub Salzburger Stier hat es meines Wissens nicht gegeben.
Disharmonien mit Michael K. (der nicht so heißt) veranlaßten mich sowohl zu seiner Namensänderung wie auch zur Änderung des Klubnamens.
Für historisch Interessierte sei angemerkt, daß der "Salzburger Stier" tatsächlich ein einzigartiges Musikinstrument ist: 1502 im Auftrag des damaligen Erzbischofs Leonhard von Kettschach (1495-1519) erstellt, diente diese spätgotische Walzenorgel mit Hornwerk (200 Zinnpfeifen) als akustischer Zeitgeber der Stadt Salzburg. Sie war 500 Jahre lang in einem kleinen Holzverbau neben der Materialseilbahn (dem "Reißzug" von 1504) untergebracht. Die 1,7 Meter langen Walzen aus Ahorn wurden erst mit einem Holz-, später mit einem Eisenräderwerk manuell angetrieben. Hervorzuheben sind einige heute noch erhaltene Werke von Leopold Mozart. Der Salzburger Stier wurde 1994 stillgelegt und wird zwischen 1999 und 2002 restauriert. — Ob er jemals als Alarmsignal eingesetzt wurde, konnte ich nicht eruieren.
Mein Fundus an autobiografischen Abenteuern ist inzwischen beträchtlich geschrumpft, das meiste habe ich Ihnen schon geschildert. Das andere, das mich in den vergangenen 50 Jahren sonst noch bewegte, taugt nicht zum Geschriebenwerden.... ;-) Doch unverzagt habe ich nochmals tief in der alten Mottenkiste gekramt, den Seemannsgarn beiseitegeräumt und auch die vielen lustigen Schnurren, die der Amateurweltreisende erzählen kann, wenn er glücklich heimgekehrt ist (falls er glücklich heimgekehrt ist, natürlich).
Die Geschichte einer vorzeitig beendeten Boxerkarriere wurde genauso beiseitegeschoben wie Story vom heiligen Gral, von der Erstbesteigung des Montsalvatsch in den Pyrenäen. Ich klopfe den Staub von Merlin und Artus, die seit Jahr und Tag auf ihre Veröffentlichung warten und werde albern-wehmütig, als ich die handgezeichneten Seekarten von Oahu und Viti Levu in die Hand nehme: nein, das alles kommt später einmal, vielleicht. König Richard Löwenherz und sein Werben um die schöne Berengara von Navarra: ein kurzes Pusten, ein Augenzwinkern in der kleinen Staubfontäne - und der Staub weht wie sein Widersacher Isaak von Byzanz zu Boden. Die drei müssen leider auch noch warten. Ich schreib' das alles noch, aber erst später - - - -
... hey, was ist denn das!? Erst glaube ich, daß es ein alter Fahrradschlauch ist, aber als ich den Staub wegblase und genauer hinsehe, entdecke ich ein schmutziggrau-orangefarbenes Kinderkajak. Sie wissen schon, so ein Aufblasbares, das alljährlich penetrant in den Campingartikelabteilungen der Kaufhäuser Gerngross (Gott hab ihn selig) und Herzmansky (ebenso) aufzutauchen pflegte.
Wie war das noch? Eine Felsklippe, auf der eine mittelalterliche Festung thront; ein breiter, heller Sandstrand und eine lachende Kinderschar; Mütter, die in der Dreifach-Romanausgabe "Sommerliebe" von Bastei-Lübbe schmökern und kreischende Möwen, die aus sicherer Höhe auf Bastei-Lübbe scheißen. Inmitten all dieses Sommertrubels ein aufgeregter Vater, der verzweifelt und verschwitzt über den Strand hetzt ....
Der Familienurlaub des Jahres 1984 neigte sich dem Ende zu. In den vorletzten Tagen hatte mein knapp 12jähriger Sohn Tibi das väterliche Herz erweichen können und stolzierte nun zum flachen Sandstrand, um das neuerworbene Gummikajak, ein aufblasbares orangefarbenes Ungetüm, zum ersten Mal zu wassern. Der guten Ordnung halber (und zur Verteidigung väterlichen Nachgebens) muß auch gesagt werden, daß er trotz seiner erst zwölf Jahre fleißig und beherzt zupackte, was besonders beim großen Achtmannzelt mit seinen schweren Stangen zu einer echten Arbeitserleichterung wurde. Das Kajak war also gerecht und ehrlich verdient. Obwohl Tibi sehr enttäuscht von dem Orange war und lieber ein ganz anderes, megageiles gehabt hätte; aber es war das Einzige in dem winzigen Sportladen, zwischen dem er "wählen" konnte... Seine Mutter Margret und meine Tochter Julia - damals keine zwei Jahre alt - saßen bereits mit meiner Tochter Anuschka - fast 4 - und Anuschkas Mutter Geraldine am Strand und genossen das sonnendurchflutete Strandleben: Sandburgen bauen, feindliche Sandburgen zerstören, flennend zur jeweiligen Mutter rennen ("Mutti, Mutti, sie hat mir schon wieder alles kaputtgehauen!"). Tibis und meine Architekturberatung einschließlich Bauunterstützung und Leihpersonal endete abrupt, als Tibi in etwa 50cm Tiefe auf Glitschiges, Schleimiges aus der Erdvergangenheit stößt....
Erste Ansätze der Mathematikgenies blitzten auf, als die eine ein Stöckchen nimmt und einen Strich in den Sand zieht: "Meine Hälfte, deine Hälfte!" - was unweigerlich zu einem Mengenlehrendrama führen mußte ("Mammiii! Sie hat wieder mehr Meer als ich!").
Sonnendurchflutetes Strandleben, wie ich schon sagte. Tibi und ich mühten uns inzwischen weiter draußen ab, das orangefarbene Ungetüm aufzublasen. Meine Backen blähten sich mächtig, die Ader auf der Stirn schwoll bedenklich an und mein stummer Fluch auf die blödsinnige Raucherei und ihre spürbaren Folgen wurde laut prustend mit der Atemluft in die Gummiwurst geblasen. Dann leicht gehustet und aufs neue geblasen!
Der Strand zu Füßen der Stadt Douarnenez in der Bretagne, in dessen Mittelteil wir lagerten, war einer der wenigen Familienfreundlichen: er war gut 200m breit, das Wasser war erstaunlich warm und man konnte weit hinausgehen, bevor es wirklich tief wurde. Im Süden eine mächtige Felswand, auf der die Stadt Douarnenez, einst mittelalterliche Festung, lag. Dumm waren nur die Klippen, die den Strand im Norden begrenzten; laut Seehandbuch und Frankreichführer waren dort relativ gefährliche Strudel, die dem unvorsichtigen Schwimmer gefährlich werden konnten. Klar, daß ich meinen Kindern ausführlich die dort lauernde Gefahr beschrieben habe und daß man, wenn man zu weit hinauskommt, bis nach Brasilien abgetrieben wird.
"Papa, was ist Brasilien?" - Nun, ich bin sicher kein episch breiter Erzähler, beileibe nicht, aber ein Kind so dumm und ungebildet aufwachsen lassen, nein, das konnte ich einfach nicht auf sich beruhen lassen. "Brasilien, liebes Kind, ist ein weit, ganz weit entferntes Land ..." - Margret und Geraldine zogen die Kinder mittags ins Zelt, um ihnen eine Jause zu richten, obwohl ich erst bei Francisco Pizarro war und Brasilien natürlich noch nirgends, von Pelé und dem Zuckerhut ganz zu schweigen.
Aber bitte, ich will nicht schuld sein, wenn eines meiner Kinder vor lauter andächtigem Zuhören aufs Essen vergißt und verhungert! Also, gebt den Infanten, was der Infanten ist, und dann kommt's wieder her, damit ich mit Brasilien weiter - hey, wo läufst du denn hin?!
"Papa" sagt der aufgeweckte 12jährige, und mir scheint, daß ein wenig Trotz in seinem Tonfall liegt, "ich mag jetzt Paddeln gehen!" Aber ja, denke ich, er hat das neue Boot noch gar nicht ausprobiert!
"Also, dann mach mal, und sei vorsichtig, da hinten bei den Klippen gibt es gefährliche Strudel ..." aber der Sohnemann ist schon in einer Staubwolke verschwunden, zieht das orangene Ungetüm hinter sich.
Ich blicke mich um, ob vielleicht andere Zuhörer - nein, die Mütter lesen und die Jungspatzen beginnen verbissen mit neuen Sandbauten, Tibi hingegen kämpft sich tapfer und verbissen wie einst sein Vater gegen Wind und Wellen nach Norden hinauf - also gut, dann will ich mich ein paar Augenblicke hinlegen und darüber nachdenken, wie ich den blöden Pizarro, der sich hoffnungslos in den chilenischen Anden verirrt hatte, doch noch nach Brasilien ...
Margret stupst mich leicht am Ellenbogen. Die süßen Indiomädchen, mit denen ich tändelnd Gänseblümchenkränze geflochten hatte, entschwinden blitzartig, verschlafen zwinkere ich zu meiner Frau hinauf. "Hab' den Tibi schon eine ganze Weile nicht gesehen!" sagt sie ernst, und ich bin sofort hellwach.
"Er war gerade noch da unten, am Strand" sage ich und schaue verdutzt. Wo vor wenigen Augenblicken noch ein menschenleerer Strand war, tummeln sich nun Hunderte! Ich springe wie von der Tarantel gestochen auf und renne los. Natürlich zu den Klippen, nach Norden.
Kennen Sie das? Im Laufschritt durch den harten Sand, über Liegestühle und Badetücher hechtend, jedem noch so unscheinbaren Orange nachhetzend? Alsbald entpuppen sich die orangefarbenen Dinge als Handtücher, Schwimmringe und Badeanzüge. Aber nirgends ein orangefarbenes Gummiboot!
"Haben Sie vielleicht ein orangefarbenes Gummiboot gesehen? Avez-vous vu un bateau en gomme, un Kajak orange?"
Ich verlangsame und gehe nun Schritt für Schritt auf die Klippen zu - nichts! Vorsichtig und so schnell es barfuß geht, steige ich über die kleinen Felsen, umrunde nach einigen Minuten das Kap und zucke eine Entschuldigung stammelnd zurück, als mich ein Liebespaar giftig anpfaucht.
Kein Tibi, kein Orange weit und breit!
Ja, lachen Sie nur - aber ich starre mit Falkenaugen auf den Horizont, suche das weite, blaue Meer ab, um etwas Oranges, Gummibootartiges zu erhaschen. Nichts! Vor lauter Starren tränen mir die Augen bereits, aber es ist mir gleich, ich muß das arme Wurm retten!
Wo kann er bloß sein? Nach einigem Hin und Her entschließe ich mich, zum Strand und zu den Frauen zurückzugehen. Ich renne wieder dem Wasser entlang, schaue mir jede Gruppe wellenhüpfender Kinder forschend an und laufe weiter. Beachte nicht die ängstlichen Muttis, die ihre Kleinen an sich drücken, weil da ein Mann wie ein Dampfroß daherrennt, nicht die Mutigeren, die den schwitzenden Läufer in allerlei Sprachen fragen, was denn los sei? - Das gibt's doch nicht! Wo ist denn der Knabe, zum Henker?
Nun bin ich wieder bei Margret, Geraldine und den Mädchen angelangt. "Habt ihr ihn gesehen?" Ratlos blicken wir herum, schauen immer verzweifelter in Richtung Klippen. Die Ratlosigkeit wird bald zur Gewißheit: mein kleiner Sohn treibt auf dem Atlantik, nach Brasilien!
Oder doch nicht? Wir grübeln, dann sagt meine Frau - die klügste Ehefrau von allen, würde ein gewisser E.K. schreiben - ob wir denn nicht vielleicht in der anderen Richtung schauen sollten? - Ein Stein fällt mir vom Herzen, aber ja doch, klar! Er wird sicher nicht - wie sonst immer - nach rechts geschwommen, sondern ausnahmsweise nach links gepaddelt sein, Richtung innere Bucht.
Erleichtert trabe ich los, den Orange-Such-Filter voll eingeschaltet. Je weiter ich zur inneren Bucht komme, um so weniger Leute. Dort schwimmt kein Mensch, es ist eine Sammelstelle für Dreck und Treibholz, das das Meer anschwemmt. Ich renne, bis ich tränenblind vor der hohen Felswand stehe, über der die Stadt Douarnenez thront.
Kein Tibi, kein Gummiboot, kein gar nichts.
Es ist nicht nur das ungewohnte Laufen, das meine Knie weich werden läßt. Nein, ich habe jetzt den gesamten Strand abgesucht, mein Kleiner ist weg, fort, für immer! Langsam verwandelt sich mein großes, weiches Herz in einen kleinen, harten Eisklumpen. Ich wandere zurück, denke an tausend Möglichkeiten bis hin zu Menschenhändlern, UFOs und Sklavenjägern.
Von Ferne sehe ich schon Margret und Geraldine aufgeregt in meine Richtung laufen, und da, ja, neben ihnen, ein müder und sehr abgekämpfter kleiner Krieger, der ein störrisches, orangefarbenes Gummiboot auf seinen Schultern trägt, was mich eher an eine Schildkröte denken läßt...
Tibi.
Wir haben ihn wieder.
Behende wie ein Hirsch renne ich zu meiner Familie, umarme alle und freue mich, daß wir wieder vereint sind. Wir versuchen, den armen Burschen nicht zu verunsichern und erfahren dann, daß er vom Wind und der Brandung tatsächlich in Richtung der Klippen abgetrieben wurde, natürlich immer in kniehohem Wasser und keinesfalls gefährdet, bis er beschloß, zu Fuß und geschlagen heimzukehren, da er nicht mehr gegen die Naturgewalten anrudern konnte. Dabei muß ich ihn - in die Ferne starrend - übersehen haben und an ihm vorbeigelaufen sein. Er wollte das neue Prachtstück nicht durch den Sand schleifen (was wohl der Vater dazu gesagt hätte!), hatte das Ungetüm umgestülpt und es auf den Kopf, auf die Schultern genommen, dann war er der Uferstraße entlang zu den Muttis zurückgegangen.
Der Adrenalinspiegel normalisierte sich, der Nachmittag wurde heiß und ich erholte mich bei einem angenehmen Nickerchen. Puhh, das war der letzte Urlaubstag, ganz schön aufregend, aber morgen geht es wieder Richtung Heimat. Und heute abend wollen wir noch einmal richtig groß ausgehen, "großes Wildschwein-Essen a la Asterix". Dann war auch dieses Abenteuer überstanden. Ich nickte friedlich ein. Wir hatten ja unseren Sohnemann wieder, jetzt konnte nichts mehr schief gehen.
Wirklich nichts.
Als wir zum Zelt gegangen und uns ausgehfein umgezogen hatten, stellten wir überrascht fest, daß auf der ca. 1km langen Uferstraße zum Dorf eine Kirmes aufgebaut war, ein Ständchen neben dem anderen. Zuckerwatte, Süßigkeiten, Kuschelbären und kunstvoll verzierte Muscheln. Vor dem großen, teuren Restaurant war ein Ringelspiel aufgestellt, ein Karussell.
Bis hierher konnten wir die allgemeine Disziplin aufrechterhalten, wir hatten ja zielbewußt das französische Bargeld so eingeteilt, daß für den letzten Abend noch genug da war, aber für die Kirmes hatten wir doch wieder nicht genug Bares. Disziplin hin oder her, vor diesem wunderschönen Karussell konnte sich selbst die verhärtetste Krämerseele nicht mehr verschließen. Die Kinder durften fahren. Einmal. Zweimal, dreimal. Aber nun langt's, Kinder, wir gehen essen. Viermal. Okay. Aber jetzt reicht's, später dann noch mal, vielleicht.
Wie vorgehabt speisten wir ausgesprochen fein, bestellten das Beste auf der Speisekarte und aßen mit Stoffservietten und siebenfachem Besteck. Nobel, nach mehreren Wochen im Zelt.
Dann meinte Anuschka - wir waren noch nicht mal richtig beim Hauptgang - daß sie schon satt sei und jetzt Karussell fahren wolle.
Jetzt.
Geduldig erklärte man ihr, daß gleich noch ein Gang kommt und dann noch die Nachspeise und vielleicht ein Kaffee nach dem Käse und dann sei das Essen erst fertig. Nach dem Essen gäbe es wieder Karussellfahren.
Nein! Klein Anuschka wollte Karussell fahren, jetzt. In wenigen Sekunden verwandelte sich unsere liebe, kleine Tochter in eine brüllende Bestie, mit der ich sicher nicht verwandt war, und brüllte in einem Strom von Zornestränen: "Karussell, Karussell", so daß nicht nur die Kellner pikiert kuckten, sondern auch der dicke Küchenchef durch die Tür blickte und den Kopf schüttelte. Unsere Vermittlungsversuche scheiterten, das Gebrüll wurde peinlich, die wenigen Gäste blickten strafend zu uns herüber. Geraldine - sonst eine geduldige und haltungsbewußte Mutter - verlor zunehmend die Kontrolle über dieses brüllende Biest (das keinesfalls meine Tochter sein konnte) und schrie ihrerseits, wenn sie nicht sofort aufhöre, dann würde sie mit ihr sofort, aber sofort, zum Zelt gehen, und es gäbe kein Karussellfahren. Und so fort.
Wir versuchten verächtlich auf die anderen, ungeduldigen Gäste zu blicken. Nein, wir waren keine Rabeneltern, wir waren alternativ, wir trugen diese Kleindifferenzen mit den Kindern aus, sie sollten nicht an der mütterlichen (seltener väterlichen) Dominanz scheitern. Und Watschen gibt's bei uns keine, auch keine gesunde. Aber eigentlich, Kind, reicht's jetzt! Kannst schon aufhören, wir wissen nun, wie stark du bist. Aufhören, habe ich gesagt! "Karussell, Karussell!" schrie das rotgesichtige Alien und stampfte mit den Füßchen bei jedem Ka und Ru und Sel, rotzte Tränen und schrie mit immer brüchiger werdender Stimme "Ka-ru-ssell, Ka-ru-ssell!" und heulte und schniefte und stampfte mit den kleinen Schuhen auf.
Geraldine, die bis hierher tapfer durchgehalten hatte, reichte es nun. Sie packte Anuschka und flüsterte uns leise zu, sie ginge mit ihr noch einige Schritte zum Strand und ließe sie sich dort müde schreien, dann kämen sie wieder. Und entschwand. Wir, die Kellner und auch der Küchenchef atmeten auf, als wieder noble Ruhe im Fünfsternelokal einkehrte.
Julia und Tibi hatten sich brav zurückgehalten. Julia, weil sie während dieser Aktion klammheimlich Margrets Nachspeise (ich glaube, es waren geeiste Schoko-Maronischeibchen) zusammenfutterte, und Tibi, der mit 12 für schreiende Putzerln nichts übrig hatte. Nun war aber Margrets Nachspeisenteller leer, und die Kinder fadisierten sich.
Julia ruckelte auf ihrem Stuhl und wollte nicht mehr brav sitzen. So ein französisches Lokal ist auf Dauer nichts für kleine Mädchen (sagte sie sich) und wurde lästig. Dann wurde sie noch ein wenig lästiger. Margret tat mir leid, denn sie machte sich um Geraldine und Anuschka Sorgen, die schon sehr lange fort waren; ich tat mir leid, weil ich - so oder so - den Abschlußcognac und die feine Zigarre entschwinden sah.
Man sollte nicht meinen, wie kreativ und klug manche Kinder schon mit 12 sind! Natürlich war Tibi mein Cognac und erst recht die stinkende Zigarre völlig egal, auch Mutters Besorgnis um die schreiende Anuschka. Ihm war unser Theaterstück sehr peinlich, am liebsten wäre er weit weg - beim sicheren Zelt beispielsweise - gewesen, und weil das Schwesterchen auch schon auf dem Stuhl wetzte, bot er an, mit Julia "zu Geraldine und Anuschka" zu gehen. Margret und ich, die (vermutlich) tief in eine pädagogische Debatte rund um Nobelrestaurants, Karusselle und Kleinkinder verstrickt waren, nickten geistesabwesend und der liebe Tibi nahm sein Schwesterlein bei der Hand und ging.
Minuten später kommt Geraldine mit Anuschka vom Strand zurück. Anuschka hatte sich ausgetobt. Neugierig blickten wir zur Tür, wo denn Tibi und die kleine Julia blieben?
Wahrscheinlich sind schon Kriege verloren bzw. Prinzessinnen nicht vor dem bösen Drachen errettet worden, weil das "genau Zuhören" eben eine ziemlich schwierige Sache ist... Geraldine hatte sie nicht gesehen, nein, vor dem Restaurant waren sie auch nicht. Margret und ich blickten uns erbleichend an. Wir zahlten, so schnell wir nur konnten, dann rasten wir los, kämmten das Areal durch. Kein Tibi, keine Julia. Es wurde rasch dunkel.
Was hatte er gesagt? "Ich gehe zu Geraldine und Anuschka!"
Also, die Geraldine war mit Anuschka zum Strand gegangen, zum menschenleeren Strand, damit Anuschka sich ausbrüllen konnte, ohne andere zu belästigen. Aber wo, "zum Strand?" Nein, nicht schon wieder: die Klippen!
Wir suchten alles ab, inzwischen war es stockdunkel geworden. Die Flut stieg unaufhaltsam, der kleine Fußweg den Klippen entlang war schon gänzlich überflutet. Ich zog meine Schuhe aus und balancierte über die glitschigen Steine hinaus, suchte in jedem Winkel. Margret, Geraldine und die sehr still gewordene Anuschka suchten hinter den Schießbuden und in den kleinen Dünen, aber keine Spur von unseren Kindern. Sie waren verschwunden, von der Nacht verschluckt.
Entschlossen ging ich auf den einzigen Polizisten, der zu sehen war, zu. Packte mein bestes Französisch aus und versuchte, dem dicken blaugekleideten Phlegmatiker zu erklären, daß meine Kinder verschwunden sind, ein 12jähriger Bub und ein knapp 2jähriges Mädchen; sie seien hierher zum Strand gegangen, aber sie seien nirgends aufzufinden. Nach mehreren Anläufen verstand er mich und beugte sich in seinen Peugeot, um es über Funk durchzugeben. Tja, die Touristen! Schon wieder ein paar Kinder über die Klippen gegangen, nächtens in eine Felsspalte gestürzt und jämmerlich ertrunken!
In diesem Augenblick blicke ich über die Menschenmenge - ich mag solche plötzlichen Todesfälle ja nicht wirklich, und da blicke ich doch lieber in die Ferne, damit man mein zuckendes Augenlid nicht sieht - also in diesem historischen Augenblick sehe ich Tibi. Tibi, der Julia auf den Schultern trägt und sehr geschafft aussieht.
Ich sehe, wie Margret losrennt, mitten in die Menschenmenge hinein. Ich rede eifrig auf den Polizisten ein, die Kleinen seien wieder da, er soll's einfach vergessen und dann staunt er, denn ich renne nun ebenfalls wie Nurmi los.
Nach der Wiedervereinigung dürfen die Kinder nochmals Karussell fahren (natürlich unter schärfster Aufsicht), bekommen ein Eis und gehen mit uns durch die lärmende Ladenstraße zurück (auch das unter schärfster Aufsicht).
Nach und nach klärt sich alles auf. Tibi hatte nur gehört, daß Geraldine der tobenden Anuschka angedroht hatte, zum Zelt zu gehen; hatte aber nicht gehört, daß Geraldine etwas vom Strand geflüstert hatte. So war er mit Julia zum Zelt gegangen, keine Geraldine und keine Anuschka weit und breit. Ins gut versperrte Zelt hineinzukommen war natürlich kaum mehr als eine Fingerübung, und bevor Julia sich im Dunkel so richtig zu fürchten beginnen konnte, hatte der Findige ein Mückenlicht angezündet. Immer noch keine Geraldine, keine Anuschka. Also setzte er sich mit der Kleinen vor das Mückenlicht, las eine Geschichte vor und wartete unruhig auf Geraldines und Anuschkas Erscheinen. Nach einer gewissen Zeit - eine kleine Tafel Schokolade mußte inzwischen auch dran glauben - ging er mit Julia wieder zur Uferstraße, um zu sehen, ob schon jemand käme. Aber da kam niemand, außer einer freundlichen Zeltnachbarin, die ihm kurz vor dem Ort entgegengeradelt kam und sagte, daß ihn seine Eltern schon ganz verzweifelt suchten! Kurz entschlossen packte er die inzwischen schläfrig gewordene Julia auf seine Schultern und eilte weiter zum Dorf, wo er uns fand.
Wahrscheinlich sind schon Kriege verloren bzw. Prinzessinnen vor dem bösen Prinzen - - - ähhh, das hatten wir ja schon... Nun, was ich eigentlich sagen wollte: ich war gottverdammt froh, daß ich meine Kinder wiederhatte.
Kairo, November 1991. Per, Helga und ich - sozusagen die Vorhut, welche die Schiffspapiere, Durchfahrtsrechte, Tauchgenehmigungen usw. besorgen sollte, das Schiff und den Rest der Besatzung würden wir in Port Said treffen - hatten einige Tage in Kairo verbracht, nun waren wir hundemüde von dieser Überfülle an Kulturschätzen. Wir sollten bald merken, daß man uns (natürlich) für Spione hielt, war doch gleich nebenan der Golfkrieg im Gang! Wer nicht Journalist oder Fernsehmann war, war unweigerlich ein Spion. Klar.
So zwinkerte uns der Empfangschef im Cairo Sheraton kumpelhaft zu, als wir uns nach den besten Routen durch die Stadt und zu den Pyramiden erkundigten. Sein erstes Angebot, so ein Nullachtfuffzehn-Touristen-Sightseeing in Anspruch zu nehmen, hatten wir sofort und glattweg abgelehnt; aber das machen vermutlich alle Spione so, die nehmen einen Mietwagen, klar. Also empfahl er uns seinen Vetter, einen sehr zuverlässigen Fahrer, der sehr oft für die Regierungsleute fuhr - you know, zwinker, zwinker.
Unsere treuherzigen, ehrlichen Beteuerungen, daß wir nur einfache Seeleute seien, quittierte er mit Kennerblick: gute Tarnung, hey!
Wir hatten vermutlich alle Sehenswürdigkeiten, die in den einschlägigen Kulturführern standen, eifrigst besucht, hatten trotz Dutzender Taxifahrten Meile um Meile zu Fuß zurückgelegt, um wirklich alles zu besichtigen. Bruchstückhaft einige Fetzen aus meiner Erinnerung, der Rest steht im Kulturführer: Tagesreise in die Oase Fayum: als der Fahrer wissen wollte, welche Straße er fahren sollte - es gäbe nämlich drei - deutete ich mit den Fingern, bei drei Straßen nähme man doch sicherlich die mittlere, nicht wahr? (man wird's ja doch probieren dürfen?!), da grinste er breit und meinte, "er das schon haben gewußt, das sein verbotene Zone, military zone, yes!" Für Nachahmer: auf keinen Fall über die Mittlere! Da gibt's nämlich auf halbem Weg zwischen Kairo und Fayum einen militärischen Kontrollposten, mitten in der Wüste. Wir hatten Glück, denn Per hat so einen blauen Beamtendienstpaß, der schaut richtig barock aus und beeindruckte die Miliz, die sich uns rüde in den Weg gestellt hatte und zunächst eiskalt die 80 Meilen wieder zurückschicken wollte. Mit diesem Wunderpaß ließ man uns aber stirnrunzelnd weiterfahren - man weiß ja nie, was da in geschnörkselten französischen und deutschen Hieroglyphen steht - und unser Fahrer grinste, denn "er das schon haben gewußt, vorher". Zwinker.
Rückfahrt in sehr großem Bogen durch die westlichen Provinzen. Einmal deutet der Fahrer nach links, da, das ist Libyen, die große libysche Wüste. Die Weiße Wüste. Halt, stop, das müssen wir sehen! Also nichts wie raus aus dem Peugeot (fast alle Kairoer Taxis sind Peugeots) und rauf auf den Dünenkamm. - Ich glaube, ich ersticke. Da dampft es mit 50 oder mehr Grad hinter dem Kamm hervor, ich bekomme keine Luft, das ist wie ein Backofen! Drei Schritte zurück, Luft holen, drei Schritte vor und rübergucken, nicht atmen. Drei Schritte zurück, ausatmen. Atemberaubend, die Weiße Wüste. Da drüben, sage ich zu Helga, liegt etwa 120 km westlich der Ort Sakra-Blabla, wo Alexander der Große starb und vermutlich auch begraben liegt. "Du meinst wohl die Oase Siwa" flüstert die kulturgebeutelte Helga matt und wendet sich mit Grausen von mir, dem Banausen, ab.
Untypisch für uns "echte Seeleute" die Fahrt auf dem Nil.
Eigentlich wollten wir nur etwas gegen den Durst unternehmen und sahen einen der ausgedienten Dampfer am Nilufer liegen; ich scherzte noch und sage, das erinnert mich an die "Johann Strauß", die seit Jahren im Donaukanal "fest angenagelt" liegt. Also gehen wir in die Schiffbar und trinken etwas Kühles, da legt das Wrack plötzlich laut tutend ab! Unser Schreck ließ erst nach, als der Barmann sagte, daß die Bar samt Schiff für die nächsten drei Stunden ein paar Kameraleuten, Fernsehjournalisten und uns, zwinker, gehöre. Per döst unter dem Sonnenschirm, während wir an der einzigen Papyrusplantage der Welt vorbeifahren und das Filmteam bei der Arbeit beobachten. Ich erzähle Helga, daß die Plantage noch vom alten Fürst Pückler (mit)gegründet wurde, das ist der, nach dem die Eisnachspeise benannt ist, der alte Pückler mit seiner ägyptischen Prinzessin, der schönen Machbuba. Helga will alles wissen, und nur meine katholische Erziehung verhindert das Schlimmste, also erzähle ich ihr nicht alles.
Hinter der prächtigen Sultan Hassan Moschee das Wohnhaus Napoleons, das mitten im Sukh liegt. Der Sukh, das ist das Basarviertel. Da sollten Ausländer nicht ohne ortskundigen Führer, schon gar nicht allein, hinein.
Das sollten sie nicht. Aber, zwinker, ihr wißt schon. Per, Helga und ich sahen uns kurz ratsuchend an - keiner wollte zugeben, daß er eigentlich Schiß hatte - und dann nichts wie los. Die Einheimischen wichen uns anfangs ängstlich aus, man weiß ja nie, was das für welche sind, die da ohne einheimischen Führer in unseren immer enger, dunkler und bedrohlicher wirkenden Sukh eindringen, nichtwahr? Später dann folgten uns ein, zwei Schatten. Per und Helga rücken zusammen, ich bilde die Nachhut und unklammere meinen Fotoapparat, der notfalls ein elender Ersatz für einen Phaser oder zumindest eine Laserpischtole wäre, aber man hat ja nichts dergl. dabei.
Eine Gestalt, fett und mit öligem Haar, löst sich zielstrebig aus dem Schatten; wir wollen doch sicher in den Sukh, er werde uns begleiten. Wir verneinen und danken dem vielleicht 16jährigen, doch er sagt einfach yes! und geht voraus. Bald schlängeln wir uns durch die engen Gassen, Per, Helga und ich, der Ölige, sein kleiner Bruder und der Onkel, hinter uns seine Zwillingsneffen und der Nachbarsbub auch. Ich drehe mich immer wieder um und zähle die Köpfe. Per, der Zweimetermann, dreht sich auch verstohlen um und schaut zu mir, ich nicke und deute mit dem Zeigefinger "Bauchgrimmen". Per wird größer und schreitet, ganz Ministerialbeamter, der er ist, steif und würdig wie beim Aufmarsch am 1. Mai durch den Sukh. Ach, die Ringstraße und der 1. Mai, wie weit das weg ist; ich bekomme so richtig Heimweh in diesen dunklen, engen Gassen, wo uns unheimliche Schatten folgen.
Wann immer wir links oder rechts abbiegen wollen, schüttelt der Ölige seinen Kopf und geht unbeirrt weiter. Ich rücke auf und flüstere Per zu, da ist doch was am Kochen, Mensch! Er macht mit den Fingern das Zeichen für "Bier", und als ich verständnislos näher aufrücke, flüstert er: "Es braut sich was zusammen!". Helga grinst und flüstert, daß wir uns das alles nur einbilden, die sind doch eh alle ganz lieb und außerdem sind wir Demokraten, also - ihr habt's doch nix gegen Ausländer?! - Nu ja.
Per verweigert, als der Ölige plötzlich stehenbleibt und auf den Eingang eines unscheinbaren Hauses deutet. "Kommt, ich lade Euch auf einen Drink ein, tretet ein!" Ich murmele leise, daß man diese Einladung annehmen muß, schaut Euch doch um, es sind zu viele, und abhauen können wir auch nicht! Die beiden sind noch unentschlossen, da nehme ich all meinen Schiß zusammen und gehe ins Haus hinein.
Nein, nicht ins Haus, Effendi, bitte hier gleich links, in den Verkaufsraum. Wir stehen in einem winzigen Laden, in dem Touristenramsch allererster Güte angeboten wird. Teppiche, Pyramiden, Kamele und die Königin Hatschepsut, in echtem Marmor, ehrlich. Wir sind etwas unschlüssig, der Ölige geht zur Kühlvitrine und bietet jedem von uns eine Coke an, "nur 2 Dollar, geschenkt!" Wir nicken und trinken das Kaltgetränk. 2 Dollar. Na gut.
Ob wir nicht einen Teppich? Eine Pyramide? Oder ein kleines Kamel, ganz allerliebst? A Camel, made of Camel? Nein? Wie wäre es mit einem...
Helga fällt Per und mir in den Rücken. Sie geht herum, nimmt dies und jenes in die Hand. Fragt nach Preisen, stellt die Stücke zurück und meint protestierend, sie wolle doch nicht den ganzen Laden kaufen. "Handeln, Helga, handeln!" flüstere ich eindringlich, denn ich hatte reumütig erkannt, daß sie realistischerweise den richtigen Weg beschritten hatte. Als wir nach einer Stunde wieder im Hotel ankamen, waren wir um drei kleine Holzdosen, handgefertigte Intarsien-Einlegearbeit, reicher. Und um eine Erfahrung auch: wenn im Reiseführer etwas eindringlich geschildert wird, einfach glauben und nicht gescheiter sein wollen. "Bazar nur in geführten Gruppen." Das ist Erfahrung.
Auch der letzte Tag vollgepfropft mit Programm; bei der Fahrt durch die Stadt mein Alptraum: Megastau in einer Zehnmillionenstadt. Der Taxler kennt sich aber aus, schlängelt sich durch Hinterhöfe, über Gehsteige und durch Baustellen, würde ich mal sagen. Wir wollen hinauf, zur Zitadelle, er fuchtelt mit den Armen, offenbar erklärt er, daß wir wegen der vielen Einbahnen so und so und ganz viel im Kreis fahren müssen - ich schüttle den Kopf und deute auf den Burgberg, gleich da oben, da thront die Moschee und die Zitadelle, da wollen wir hin! Er nickt grimmig, dann reißt er unvermutet - direkt beim Kreisverkehr angelangt - das Steuer nach LINKS herum und kürzt unseren Weg um Kilometer ab, indem er im Kreisverkehr GEGEN den Strom schwimmt! Mir fallen beinahe die Augäpfel aus dem Kopf, als uns auf mindestens vier Spuren Autos wütend hupend entgegenkommen und er geschickt Slalom zwischen ihnen fährt. Als er dann auch noch mit dem tropenbehelmten General, der schrill pfeifend den ohnehin tadellos funktionierenden Fahrbetrieb lenken zu müssen vermeint, einen Disput beginnt und wir zum ersten Mal stehenbleiben, verlassen mich meine sonst robusten Nerven und ich dresche mit der flachen Hand aufs Armaturenbrett, schreie zornig auf deutsch: "Na, jetzt krieg'ma auch noch an Strafzettel!", worauf die beiden Streithähne jäh verstummen. Wortlos fährt der Taxler los, der verblüffte General salutiert, und dann fetzen wir den Burgberg hinauf, daß selbst Niki Lauda nur noch das Nachsehen gehabt hätte!
Immer näher rückte der Moment, wo wir uns um die Schiffspapiere kümmern mußten. Die lange Vorgeschichte lasse ich weg, soviel sei aber gesagt, daß wir vom Agenten in Port Said (an den uns unser Freund Harald Klärner* weiterempfohlen hatte) angewiesen worden waren, dieses und jenes Papier in Kairo selbst zu besorgen (was in Klardeutsch heißt, daß er, Prinz Achmed, der üblicherweise den ganzen Papierkram besorgt, sich sicher war, daß wir scheitern und einsehen würden, daß man in Kriegszeiten nicht einfach so herumschippern kann! Und das habe er uns gleich gesagt, so wahr er Achmed Ben Dings und Bums heiße, Sakra!)
- *)Harald Klärner, Kärntner Weltumsegler: "Heißer Winter im Roten Meer", Kärntner Universitätsdruckerei 1990.
Per und ich warfen uns in unsere besten Klamotten, Krawatte und so, Helga zog das lange Schwarze mit den Puffärmeln an plus reichlich Glitzerkram samt Kronjuwelen; Kleider machen Leute! Wär' doch gelacht, wenn wir die Papiere nicht bekämen, Achmed Ben Dings und Bums! Den ersten Fehler - einfach trottelhaft, muß ich im nachhinein sagen - machten wir schon, als wir das Hotel verließen: anstatt uns einen schwarzen, überlangen Mercedes vor das Hotel zu bestellen und wie Pierce Brosnan vorzufahren, gingen wir (einfach) zu Fuß über die Straße, denn dort war das Seefahrtsamt samt der Seefahrtsamtspolizei und dem Seefahrtsamtspolizeiportier.
Wir hatten sicher noch nicht die Straßenmitte erreicht, da hat der Seefahrtsamtspolizeiportier schon zum Telefon gegriffen und unser Nahen gemeldet, vielleicht hat auch der Hotelempfang vortelefoniert, wer weiß. Jedenfalls fragte der Seefahrtsamtspolizeioberst beim Seefahrtsamtspolizeiportier nochmals nach, ob wir wirklich zu Fuß (bitte wiederholen Sie: zu Fuß?) daher kämen. Dann lehnte er sich zurück und meinte zu seinem Adjutanten, daß die auf gar keinen Fall abgebrühte Spione sein können, wenn sie zu Fuß kommen. Zu Fuß!
Also warteten wir eine Stunde (oder waren es zwei?) im Vorzimmer. Die Fliegen summten, Helga rutschte hin und her, als ob sie etwas plagte und die Wachsoldaten guckten gelangweilt an uns vorbei.
Dann ging die Tür auf, und der Offizier tat, als ob es ihm leid getan hätte, uns so lang warten zu lassen. Mir tat es auch leid, denn ich konnte ihn die ganze Zeit über beobachten, er las nur in seinem dicken Buch und seufzte manchmal, ein oder zwei Stunden lang. Las gemütlich vor sich hin und ließ uns warten, und leid soll es ihm angeblich auch tun. Na, egal, jetzt geht's endlich weiter.
Wir setzten uns vor seinen riesigen Schreibtisch, höflich nannte er seinen Rang und Namen und fragte, ob wir eine Tasse Tee trinken wollten, ja, das nahmen wir gerne an. Er schickte seinen Adjutanten los und versenkte sich wieder in sein dickes Buch; den Koran, wie ich merkte, denn er betete halblaut und bewegte die Lippen. Per begann, in klarem Englisch unser Anliegen zu formulieren. Der Obere blickte ihn stirnrunzelnd an und fragte, ob der Herr nicht sehen könne, daß er gerade bete und der Tee auch noch nicht da sei?! Dann wandte er sich, ohne uns anzusehen, wieder dem Koran zu und lippelte lautlos seine Suren weiter.
Es vergingen mehrere dieser Suren, bis der Adjutant wieder herantrabte und mehrere Täßchen Tee auf seinem Servierbrett balancierte. Stumm nickten wir und wollten schon trinken, sahen aber den strafenden Blick des Oberen und hielten inne. Er sprach einige Worte Arabisch [Per flüstert: "Was hat er gesagt?" und ich: "Muß mich verhört haben, denn er sagte ,Schon viertel vor Sieben, hoffentlich dauert's net zu lange, er will zu den Abendnachrichten zu Hause sein'" und Per tritt mich strafend ins Schienbein], dann trank er als erster und lächelte uns auffordernd zu. Ach. Nun durften wir auch. "In Wien schicken sie dich zweimal um Stempelmarken" raune ich Per und Helga zu und wir grinsen trotz der schwierigen Situation. Der Obere blickt fragend. Ich sage auf englisch, daß ich gesagt hätte, einen so guten Pfefferminztee wie hier in Ägypten bekämen wir in Österreich nicht.
Ach, Österreich, seufzte der Obere mit verträumtem Blick. Da gibt's den Hans Krankl und Rapid, ob ich die kenne? Ja, lüge ich, und den Schneckerl kenn ich auch - den Herbert, den Prohaska. Wer denn das wieder sei, fragt der Obere. Der ist für mich der Größte, sage ich, denn der Krankl ist Weltspitze und wird von den Medien geliebt, aber der Prohaska ist auch Weltspitze, aber er wird nicht so geliebt, vom Fernsehen, darum halte wenigstens ich zu ihm.
Der Offizier nickt und notiert Schnkkl Prchtzk' auf seiner Schreibtischunterlage. Per und Helga beißen sich verzweifelt auf die Lippen, weil sie wissen, wie nahe ich dem Thema Fußball stehe. Per sagt mit unbewegtem Gesicht, daß die besten Stürmer bei Rapid derzeit der Josef Hader und der Alfred Dorfer seien, der Oberst und ich nicken zustimmend, yes, yes. Helga kann sich nicht mehr halten und steht auf, geht zum offenen Fenster, um mit abgewandtem Gesicht herauszuplatzen. Der Offizier wird plötzlich wütend und schreit Per und mich an, die woman soll gleich weg vom window, denn es geht nicht, daß ein woman in seinem office - dermaßen unzüchtig gekleidet - am hellerleuchteten window stehe und ihn vor aller Welt desavouiere ...
Helga-woman setzt sich sofort wieder, krampft ihre Hand um die Teeschale und macht einen Buckel, damit man ihren Busen nicht mehr sieht. Ich denke etwas sehr Unfreundliches über die Kultur unseres Gastgeberlandes und daß die Helga nur einen Buckel und Rückenschmerzen kriegt, wenn sie ihren Busen verstecken muß.
Per beginnt wieder, über die Schiffspapiere zu reden, legt alle Unterlagen vor und obendrauf seinen blauen Wunderdienstpaß. Der Offizier nimmt ihn verwundert in die Hand und fragt, was denn das sei. "Ein Dienstpaß", sagt Per geduldig, "der wird für die höheren Beamten von der Präsidentschaftskanzlei ausgestellt" - er findet government office bzw. presidential chancellery nicht gleich im Hirnkastl und bleibt beim president hängen -, was der Offizier klarerweise falsch versteht, echt grantig wird und fragt, ob Per etwa der Präsident sei, ha!? Wir sind verwirrt, weil es einfach zu blöde ist. Der Offizier seinerseits ist ebenfalls verwirrt, weil da alles auf französisch steht, geschnörkselt und tatsächlich vom UHBP (unserem Herrn Bundespräsidenten) unterschrieben. Le président de la République, eigenhändig. Vielleicht ist der Paß doch echt, denkt er sich, und vielleicht sind wir doch mehr, als der Seefahrtsamtspolizeiportier gesagt hatte, der Idiot.
Er entschärft die Situation und erzählt uns, wie er tagein - tagaus seinen langweiligen Dienst schieben muß, Formulare ausfüllen und so, obwohl er eigentlich für höhere Aufgaben ausgebildet sei und den Koran an der Universität studiert habe - er rückt das große, grün eingebundene Buch zurecht und deutet wahllos auf diese und jene Stelle - doch dann nimmt er eine Menge Formulare aus einer Schublade und beginnt, die Daten von unseren österreichischen Dokumenten auf ägyptische Formulare zu übertragen. Sehr viele Formulare. Schnörksel für Schnörksel, bildhübsch bedächtig.
"Wie im Paßamt in der Seidengasse" flüstert Per und ich nicke, denn wenn er so weitermacht, Kringel für Kringel, dann wird's Mitternacht, meine Herren! Der Offizier scheint uns verstanden zu haben, denn er blickt mit einemmal auf und sagt, das geht ja nicht, es sei ja der Golfkrieg, da könnt ihr nicht hinfahren! Er könne uns die Erlaubnis nicht geben, nicht für uns, nicht für das Schiff, keine Tauchgenehmigung. Warum fahren Sie nicht nach Zypern zum Tauchen?
Langes, betretenes Schweigen. Wir beraten, ich erwähne - deutsch flüsternd - Achmed, den Prinzen, der ja der bekannteste Schiffahrtsagent am Suezkanal sein soll oder auch ist, und daß ich jetzt und sofort per Taxi zu Achmed fahren und ihn, wenn nötig, an den Ohren, herbeizerren werde. Nun mischt sich der Ägypter ein, habe er den Namen Achmed Ben Dingsda wohl richtig gehört? Man möge ihm verzeihen, daß er unser Gespräch belauscht habe, aber den Achmed kenne er sehr gut, ein entfernter Verwandter, sozusagen... der Rest bleibt wie seine Augenbrauen in der Luft schweben. Ich beginne einen heftigen genealogischen Disput mit mir selbst, daß er dann ja auch ein Prinz ...
Tja, wenn das so sei, warum Prinz Achmed nicht mitgekommen sei? Er greift zum Telefon und zu unser aller Erstaunen verbringt er die nächsten dreißig Minuten mit Achmed am Rohr - ich verstehe nur Rapid, Hans Krankl und (Blick auf die Schreibtischunterlage) ein gewisser Schanegglah Prohassgar. Zwischendurch lange Passagen lächelnden Schweigens mit "Lä" und "Lä-Lä", was unschwer mit "Ja" und "Ja, Ja" übersetzt werden kann. (Jahre später konnte man in Achmeds Prospekten nachlesen, daß auch Rapid, Hans Krankl und Herbert Prohaska zu seinen zufriedenen Schiffahrtskunden zählten).
Ich weiß nicht, wie gut Sie Arabisch können. Ich jedenfalls steige nach "Good Morning!" und "Good Evening!" aus (und selbst das ist schon Englisch), weiß also nicht, was da verhandelt wurde - ob nun Kamele oder Autos versteigert wurden, der Golfkrieg besprochen oder die feisten Wadeln der Fatima die Telefonleitung erglühen ließen - Per, Helga und ich hingen gebannt an seinen Lippen und lauschten dem fremdartigen Sound. Dann legte er auf und lächelte uns an.
"Alles in Ordnung!" sagte er und fügte mit freundlich vorwurfsvollem Blick hinzu, "wir hätten ihm ja gleich von Achmed erzählen können, und wer wir seien". Wir drei schwiegen beharrlich und vermieden jegliches Zwinkern. - (Den ÖFB bitte ich jedenfalls jetzt schon vorsorglich um Verzeihung, sollten wir drei möglicherweise - ich sage, möglicherweise - als Mrs. Rapid, Mr. Hans Krankl und Mr. Herbert Prohaska in der ägyptischen Seefahrtsgeschichte auftauchen...)
Er vollendete in erstaunlich wenigen Minuten seine Hieroglyphen, dann blickte er in die inzwischen finstere Stadt hinaus und wiegte sorgenvoll sein Haupt. Es haben schon alle offices geschlossen, da sei keine Chance mehr, heute, sinnierte er. Per versteifte seinen Rücken, richtete sich zu voller Höhe auf. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, was jetzt kommen würde.
Wir brauchen die Papiere jetzt, heute abend noch, sagte Per laut und bestimmt. Morgen, nein, heute nacht um drei oder vier, fahren wir zum Schiff und müssen die Papiere haben, koste es was es wolle. Der Offizier war echt deprimiert, seine Augenbrauen zeigten besorgt nach oben. Wir sind hier in Ägypten, Effendi, da schließen die offices um 21 Uhr, bedenken Sie, mein Herr!
Aber wir hatten Oberwasser. Der Achmed, ein echter Prinz immerhin, der UHBP und der blaue Dienstpaß. Alles wurde nochmals vorgebracht, wie eine Ringelwurmschlange drehte sich das Gespräch in Spiralen und wand sich in den lauen Nachthimmel.
Der Offizier telefonierte hierhin und dorthin, war nun echt verzweifelt, denn die offices hatten tatsächlich alle zu, und Per legte noch ein Schäuferl nach, er, der Offizier, hätte uns unnötigerweise warten und warten lassen, wir könnten schon längst im Taxi nach Port Said sitzen und nun sei es ihm egal, wie jener es anstelle, aber die Papiere müssen heute fertig sein. Punktum.
Ich studierte mit Helga den Kommentar auf der Rückseite der Formulare und wir flüsterten miteinander, daß bis auf zwei Stellen ja schon alles kringelig-krakelig beschrieben sei. Der Offizier sah mißtrauisch unserem flüsternden Tun zu und erklärte dann, ja, genau, da müsse das Dingsbums-Amt noch seinen Stempel draufdrücken, und da hinten auch noch. Per, der sich ein Leben lang im Wiener Bürokratendschungel hochgekämpft hatte, surfte offenbar auf der richtigen Welle und machte weiter Druck (obwohl ich schon längst gepaßt und an die Hotelbar gegangen wäre).
Dann, endlich ein Jemand am anderen Ende der Telefonleitung.
Der Offizier wird einen halben Meter kleiner und buckelt vor dem großen Häuptling, den Müdür bzw. Obermufti, den er da erwischt hatte. Ja, es sei ihm furchtbar peinlich, drei Ausländer,... nein, wichtige, die brauchen..., ja, der Prinz Achmed... nein, Excellenz, noch heute, ich buchstabiere: heute nacht, denn sie fahren gleich mit dem Taxi weiter nach Port Said ... ja, leider, ich weiß, aber es muß heute sein...
Okay, der Inhalt dieses Dialogs ist reine Vermutung, aber er legte schweißüberströmt auf und trank erst einige Schlückchen Tee, bevor er uns ganz erstaunt ansah und meinte, wir müssen besondere Lieblinge Allahs - gepriesen sein Name - sein, denn der Oberdingsda Sowieso käme noch einmal ins Büro, um unsere Papiere zu unterschreiben. Wir müßten sofort, jetzt sofort mit dem Taxi da und da hin fahren, um die Papiere abgestempelt zu bekommen.
Wir bezahlten die Formulare (ohne Quittung, versteht sich, und großzügig) und fuhren mit dem Taxi dorthin. Ich untertreibe nicht, wenn ich Alcatraz bemühe; wir fuhren nach Alcatraz - bzw. der ägyptischen Version desselben. Als wir von der Wache ins Wartezimmer geführt werden, deren Einrichtung mit einer schmalen Holzbank und einer flackernden Leuchtröhre ausreichend und detailliert beschrieben ist, stoße ich Per in die Seite und murmele, daß es im Ostberliner Häfen genauso ausgesehen hatte, nicht?
Gleich, nachdem uns die Torwache hereingeführt und alleingelassen hatte, erschien ein nikotinsüchtiges, dürres Fragezeichen und nahm die Formulare entgegen, meinte auf Französisch, daß es nur einige Minuten dauern werde und verschwand sofort wieder. Die Minuten wurden wirklich, einige, und dann noch einige, damned! Ich verlor die Wette, denn das Fragezeichen erschien noch vor Ablauf einer Stunde und überreichte uns nervös paffend die gestempelten Formulare. Per sah sofort nach, ob da auch was drin stand, es waren nur ein paar Striche und ein bombastischer Stempelabdruck, sonst nichts. Das Fragezeichen zündete die nächste an der letzten an und führte uns durch das Ganggewirr hinaus - ja, dort drüben stehen einige Taxis, und gute Nacht, die Herren! Helga hatte er gar nicht bemerkt, der Wohlerzogene. Dafür steckte er die Dollarscheine wortlos weg, so wohlerzogen war er.
Als wir nachts in der Hotelbar saßen, genehmigten wir uns einen ziemlich Großen. Wir hatten es doch geschafft. Nach dem dritten Cognac schlug ich mich auf Helgas Seite, die vermutete, daß das Fragezeichen selbst untergekrixelt habe, da kein Obermufti weit und breit zu sehen gewesen war.
Am nächsten Morgen verschliefen wir den Bus. Der nächste ging erst zu Mittag. So fanden wir noch Zeit für eine aller- allerletzte Moschee und ein aller- allerletztes Museum. Dann zwei Stunden mit dem Bus nordwärts, nach Port Said. Auf halber Strecke die neuerbaute Stadt "23. Oktober" (oder heißt sie 27. September?!?), jedenfalls ein Versuch, Menschen in der Wüste anzusiedeln. Der Busfahrer deutet, "hier jetzt sein Pinkelpause". Per und ich sehen uns fragend um, der Busfahrer lacht und weist zur großen Bau-Tafel, auf der die noch zu bauende Busstation zu sehen ist. Da! deutet er und wir gesellen uns zu den anderen Männern, die alle brav am Straßenrand aufgereiht stehen und Lulu machen. Helga blickt haßerfüllt hinter den Fenstervorhängen hervor, sie muß bis zur Stadt Port Said noch eine Stunde lang alles zusammenzwicken.
Später trinken Per und ich laut gluckernd aus unseren Plastikflaschen und lachen gemein, als Helga fast tränenblind auf uns eindrischt.
Achmed wird nervös, als er nach dem Schiff fragt und ich wortlos aufs Meer zeige, wo man ein kleines weißes Pünktchen am Horizont sieht. "Ihr müßt in zwanzig Minuten los, dann sperrt man den Kanal wieder und ihr könnt erst morgen durch!". Per gewinnt unsere Wette, denn unsere PAPAGENO braucht 3 Stunden, bis sie wieder im Hafen ist. Prinz Achmed schenkt mir eine Stange Marlboro und ich ihm 20 Dollar für eine weitere Nacht im Hafen. Für diejenigen, die noch wenig Schiffererfahrung haben, sei hier ein für allemal festgehalten, daß das Schippern nirgends mehr gratis ist. (Unsere Kanalgebühr wurde mit 150 Dollar ausgehandelt, Summa summarum haben wir an die 200 berappt. Heutzutage geht es nicht unter 350!).
Wir verbringen den Rest des Tages am Strand und in den Kaffeehäusern. Ich pfeife inzwischen auf die örtlichen Gepflogenheiten und gehe mit Helga in ein Kaffeehaus. Den protestierenden Blick der Ägypter ignoriere ich, basta. Mein Respekt gegenüber dieser mehrtausendjährigen Kultur ist in den vergangenen Tagen derart ramponiert worden, daß ich an diesem Tag besonderen Wert auf meine eigene Kultur lege und Respekt verlange: Frauen HABEN eine Seele, und öffentlich Kaffee trinken dürfen sie auch. Basta.
Per und Achmed haben alle Formalitäten erledigt und kommen nach. Achmed lotst ihn samt Helga nervös aus dem Kaffeehaus, ich bleibe kotzfrech sitzen. Mein Zorn auf diesen Männerklüngel verraucht erst, als mich ein alter Einheimischer zu seinem Tisch bittet und wir uns in fließendem Englisch unterhalten. Er ist Professor für Astronomie und hastig entstaube ich die alleruntersten Speicherkarten mit den arabischen Sternennamen in meinem Hirnkastl, um nicht ganz unwissend dazustehen: Mirphak, Denebole, Al Debaran, Al Kaid, Al Suhal, Al Genib und so weiter. Seine Freude zeigt sich, als er eine Wasserpfeife bestellt und wir sie gemeinsam rauchen; meine erste Wasserpfeife! Obwohl ich schon darüber gelesen hatte, bin ich erstaunt, daß man im Kaffeehaus die Wasserpfeife wie bei uns einen Kaffee bestellt und die Tabaksorte und -menge genau vorgibt, was einen dann als Kenner ausweist. Ich bin dankbar für die Unterweisung in Sachen Wasserpfeife und muß zerknirscht hören, daß mein einschlägiger Arabischwortschatz (tschibuk und tütün) eigentlich aus dem Türkischen stammt und mich als naiven Karl-May-Leser ausweist. Der alte Astronom lächelt milde, als ich einen tiefen Lungenzug nehme und dabei fast verkutze.
Am frühen Abend bringen wir noch Proviant und Wasser an Bord der PAPAGENO. Die Segeljacht ist ein 15 Meter langer Trimaran (Cross 50 Sherman), ganz aus Mahagoni und Teakholz, und ihre Besonderheit ist, daß alles (aber wirklich auch alles), was elektronisch ist, defekt ist. Das Funkgerät, die Peilanlage, die Selbststeueranlage, der Satelliten-Navigator, einfach alles. Dafür ist sie mit allem, was das Taucherherz begehrt, bestens ausgerüstet. Die Crew ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen: die beiden Nikoläuse aus Österreich sind 2 der 3 Eigentümer, Kerstin und Alexandra aus der Schweiz haben als Schwerpunkt Fallschirmspringen und Fliegen, Alex ist Uni-Assistent in Innsbruck, und der beinahe blinde Matz war früher bei der Flugsicherung.
Achmed, der wie immer in Golferkleidung erscheint, obwohl der nächste Golfplatz 2 Flugstunden weit weg ist, trinkt noch einige Gläschen an Bord und erläutert uns die Besonderheiten des Kanals, gibt wertvolle Hinweise zum Umgang mit den Lotsen, beschreibt besonders schöne Buchten und markiert auf der Seekarte jene Orte, in denen wir Proviant oder Wasser finden können. Diesel wird es für die nächsten zwei Wochen nicht geben, und dann werden wir das Formular 17b brauchen (dieses, das gelbe), damit wir als Dieselbezugsberechtigte ausgewiesen sind. Per, der kleine Nikolaus und ich schreiben mit, wer weiß, vielleicht brauchen wir Achmeds Wissen noch. Der Abend klingt heiter aus, als sich Achmed wohl zum zehnten Mal die Geschichte unseres Kairoer Seefahrtsamtspolizeiabenteuers erzählen läßt.
Am nächsten Morgen warten wir segelklar und nervös auf den Lotsen, der uns durch den Suezkanal geleiten wird. Die Uhr tickt unerbittlich, Helga brüht zum dritten Mal Tee auf und ich trommle mit den Fingern auf dem Steuerrad. Per ersucht mich energisch, woanders zu trommeln. Der große Nikolaus zeigt erste Anzeichen seiner wirklichen Geistesverfassung, als er sich mit Matzens Hilfe anschickt, im Hafenbecken von Port Said Wasserschi zu fahren. Andererseits scheint dies die richtige Masche gewesen zu sein, denn ein kleines Lotsenboot legt beim Hafenmeister ab und kommt längsseits. Ob wir denn ganz plemplem seien, im Hafenbecken Wasserschi fahren zu wollen?! Der kleine Nikolaus (unser Skipper, sprich Kapitän) mault zurück, wenn wir noch lange auf den pilot (Lotsen) warten müssen, dann fahren wir halt Wasserschi! Zehn Minuten später klettert ein verschwitzter, fetter Lotse an Bord und übernimmt das Steuer. Ich schmolle und verziehe mich, denn eigentlich bin ich der Steuermann, sakra!
Er heißt in meinem Freundeskreis eigentlich "der Bakschisch-Kanal", und das zu Recht. Vergessen Sie unsere primitive, westliche Weltordnung, wo Sie beispielsweise in die Einfahrt einer Tiefgarage fahren, einen Knopf drücken und Ihr Ticket bekommen, das Sie dann anschließend vor dem Wegfahren bei einem Automaten bezahlen. In jener Gegend dort sähe das anders aus. In der Einfahrt steht einer, der den Schranken mit einem Strick hochzieht, wenn Sie ihm einen Schein in die Hand gedrückt haben. In den unteren Etagen steht ein anderer, der Sie in die linke Reihe, wo schon fast alles voll ist, einweist, sogar energisch einweist, obwohl rechts noch alles frei ist. Rechts, nein, Effendi, das kostet einen Dollar mehr! Noch bevor Sie aussteigen können, krampft sich seine Hand um Ihren Schein, den Sie vorsorglich bereitzuhalten haben. Sie gehen zum Lift, der sich aber erst in Bewegung setzt, als der Liftboy merkt, daß Sie in Ihren Taschen nach einem Schein kramen. Wenn Sie das Auto abholen wollen, das selbe noch einmal, aber in umgekehrter Reihenfolge. Zusammengezählt und umgerechnet kommt nur unwesentlich mehr heraus, als das, was Sie in einer Wiener Tiefgarage berappen, aber Sie können mit dem beglückenden Gefühl weiterfahren, daß Sie mindestes drei oder vier Familien miternährt haben. Inschallah.
Ein kurzer Exkurs in unser Lexikon: Der Suezkanal (Quanat as Suways), zu dem 1854 der damalige Khedive (Vizekönig) Mohammed Said Pascha den Auftrag an den ehemaligen französischen Konsul in Kairo, Ferdinand M. Vicomte de Lesseps, gab und der in weniger als acht Jahren (1859-1867, mit einem Jahr Baustopp) nach den Plänen des Franzosen Linant de Bellefonds und des Österreichers A. Negrelli von 2,5 Mio. ägyptischen Bauarbeitern (es sterben 125.000) erbaut wurde, ist ca. 163km lang und wurde am 17.11.1869 in der eigens hiefür neuerbauten Oper im Beisein des neuen Khediven Ismail, der Kaiserin Eugenie von Frankreich (Gattin Napoleons III und Kusine de Lesseps'), Kaiser Franz-Josefs von Österreich und dem Preußischen Kronprinzen eröffnet; die eigens hiefür in Auftrag gegebene Oper AIDA von Verdi wurde zu spät fertig und erst 1871 in Kairo uraufgeführt. Sein südlicher Teil, zwischen Port Tawfiq bei Suez hinauf bis zum Lake Timsah, war schon um 1900 vor Chr. von den Pharaonen (vielleicht schon Tuthmosis III, sicher aber Necho) erbaut worden und von diversen Königen (Xerxes, Darius I, Ptolemäus, Trajan und Amr-Ibn-Al-Aas) immer wieder verbessert worden. Im 8. Jhdt. nach Chr. wurde er geschlossen und vergessen. Aus der wechselvollen Geschichte des Kanals: 1875 kauften die Engländer alle Anteile des Khediven, als sie seinen Bau nicht verhindern konnten, müssen aber 1888 im Vertrag von Konstantinopel die internationale Schiffahrt durch den Kanal garantieren. De Lesseps stirbt am 7.12.1894 auf seinem Chateau La Chesnaye in geistiger Verwirrung und völlig ruiniert, nachdem er 1893 gemeinsam mit Gustave Eiffel beim Bau des Panamakanals (zu Unrecht) der Korruption und Untreue bezichtigt und zu 5 Jahren bedingt verurteilt wird. 1956 reißt Präsident Abdel Nasser den Kanal aus den Fängen des britischen Löwen. 1973 überrennen ihn die Israelis, seit 1975 herrscht dort Ruhe. Ab 1980 verliert der Kanal wegen zu geringer Tiefe und zu hoher Preise seine bisherige Bedeutung für die Schiffahrt (und, wie die Xinhua News am 19.Dez.2000 melden, bleiben die Tarife auch 2001 unverändert ...).
Er verkürzte damals die Seefahrtsroute rund Afrika um fast 9.000km, das sind 50 oder mehr Tage. Es sind eigentlich zwei Kanäle: der nördliche Teil von Port Said (Bur Sa'id) über den Lake Manzalah (Buhayrat al-Manzilah), bis zum Lake Timsah (Buhayrat at-Timsah), ist künstlich in den sandigen Felsen gehauen, dann von Ismailia ein Durchstich zum Großen Bittersee (Al-Buhayrah al-Murrah al-Kubra), dem Kleinen Bittersee (Al-Buhayrah al-Murrah as-Sughra), danach verläuft der Südteil des Kanals in einem teilweise natürlichen bzw. historischen Bett bis Suez (As-Suways) und Port Tawfiq (Bur Tawfiq). Selbst an der engsten Stelle ist der Kanal noch breit genug (ca. 70m), um einen großen Tanker und unser kleines Schinakel aufzunehmen, trotzdem werden die großen Schiffe in southbound- und northbound-Konvois durchgelotst; der Golfkrieg mit seinen zahlreichen Kriegs- und Versorgungsschiffen ist eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle.
Damit sind wir wieder beim Lotsen. Im Gegensatz zu anderen Lotsen wollte dieser selbst fahren; mein Herz krampfte sich jedesmal zusammen, wenn das Getriebe krachend auf sein Gefummel reagierte und der Motor gequält aufjaulte, wenn er mit seinen Pranken an den Hebeln herumfuhrwerkte. Mehrmals hielten wir an, damit er im Vorschiff gegen Mekka gewandt beten konnte. Alexandra schimpfte wie ein Rohrspatz, als sie nach ihm die Toilette aufsuchen wollte und dort alles vollgelullt vorfand; so ein Ferkel!
Alle paar Kilometer steht ein Turm, in dem die Lotsen und Kanal-Sicherungsbeamten sitzen und den Verkehr beobachten und regeln. Sie halten per Funk Kontakt zu den Lotsen auf den Schiffen und dirigieren sie. Uns natürlich nicht, denn wir funken nicht. Unser Lotse ist verzweifelt und schwitzt noch mehr, rückt immer näher mit aufjaulendem Motor zu dem vor uns fahrenden Kapitän Rahn mit seinem MUGGELE aus Deutschland auf und verständigt sich schreiend mit dessen Lotsen, um sich dann wieder zurückfallen zu lassen.
Wir sehen viele Soldaten in den Dünen links und rechts vom Kanal. Wir winken und sie winken zurück. Manche machen johlend international bekannte Zeichen, wenn sie Helga, Alexandra und Kerstin in ihren knappen Bikinis sehen. Der Lotse versucht uns verständlich zu machen, daß ehrliche Muslime solche losen Weiber nur verachten und wir (Männer) die Weiber unter Deck jagen sollten. Skipper Nikolaus reicht ihm freundlich eine Coladose und sagt ihm auf gut salzburgerisch, wohin er sich seine Weisheiten stecken könne. Das MUGGELE vom Käpt'n Rahn verlangsamt plötzlich und der Lotse schreit uns etwas zu, unserer antwortet mit langen Lä-Lä's (Ja, ja). Wir schwenken in eine kleine Parkbucht ein.
Es ist noch früh am Nachmittag, was soll das? Der Lotse erklärt uns, daß wir hier nächtigen. Erst lachen wir ihn aus, aber dann schickt er uns hinüber zum MUGGELE, und wir hören den Mann vom Tower sagen, daß der erste Teil unserer Passage hier endet, morgen früh geht's dann weiter. Ende, over und aus.
Per, der kleine Nikolaus und ich sitzen über den Karten gebeugt und rechnen. Das werden dann wohl vier Tage, seufzt unser Skipper. Per ärgert sich, aber er will sich nicht einmischen. Ich überschlage und sage, daß wir etwa 200 Dollar mehr werden zahlen müssen, und das ginge mir gegen den Strich. Nikolaus fragt, was ich denn tun wolle - ich wußte es nicht. Aber ich spreche mit dem Lotsen, nachdem er sein Gebet beendet hatte. Unsere Hand-und Fuß-Diskussion endet, als er gleich erklärt, daß er nur noch auf sein Geld warte, dann ginge er; morgen käme ein anderer Lotse. Der kleine Nikolaus gibt ihm das Geld, doch er will mehr. Wir schütteln den Kopf, nein, nicht mit uns, ausgemacht ist ausgemacht! Er schielt nach meinen Zigaretten. Ich verfalle in infantilsoziale Hilfsbereitschaft und gebe ihm eine halbe Stange. Als er rotzfrech die zweite Hälfte auch noch beansprucht, verneine ich und deute an, daß ich sonst selbst nichts mehr zum Rauchen hätte. Widerwillig geht er von Bord und wünscht uns eine gute Fahrt (oder auch nicht, was weiß ich).
Käpt'n Rahns türkische Frau ist sehr lieb und hat eine kleine Jause zubereitet; heißhungrig verschlingen wir danach noch eine Riesenportion Spaghetti, die wir zubereitet haben. Wir trinken noch eine Flasche Wein mit diesem stillen Mann aus dem Allgäu, der auf Großer Fahrt ist und vorhat, um die ganze Welt zu segeln. Auf sein Anraten hin geben wir den Wachsoldaten, die die verfallene Hütte in dieser Parkbucht bewachen, einige Päckchen Zigaretten. Sie deuten, daß sie verstanden hätten und wir beruhigt schlafen können.
Der neue Lotse kommt am nächsten Morgen mit dem Fahrrad (woher, bitteschön, frage ich mich, mitten in der Wüste, die sich links und rechts vom Kanal erstreckt?) Er spricht leidlich Englisch, ist geschwätzig und quirlig und geht mit der Maschine pfleglicher um als sein Vorgänger. Bereits nach einigen Minuten sehen Per und ich uns verwundert an: der hat ja keine Ahnung vom Schiffern, steuert lässig wie ein Autofahrer. Per verwickelt ihn in ein Gespräch und prompt steuert der abgelenkte Knabe auf das felsige Ufer zu. Ich schlendere herbei und korrigiere mit der Hand; willig überläßt er mir das Steuerrad. Der kleine Nikolaus hat alles schweigend mitverfolgt und fragt mich, was denn los sei. Ich zischle ihm zu, daß der Lotse kein Profi ist, nicht steuern kann und ich keine Lust habe, als "der im Kanal strandete" in die Kronenzeitung zu kommen.
Später flüstert Per, daß er nicht glaube, daß der Lotse ein Lotse sei, er riecht eher nach Polizei. Wir sind leicht nervös, daß man unseren über Achmed angeheuerten Lotsen fortgelotst und uns einen falschen Lotsen untergejubelt hat. Ich sublimiere meine Nervosität, indem ich ein Gespräch über den weiteren Verlauf unserer Fahrt beginne. Wir werden doch heute abend durch den Kanal sein, nicht wahr?
Der Lotse windet sich, dann sagt er, daß wir noch dort und dort übernachten müssen. Ich halte mit dem kleinen Nikolaus daran fest, daß wir heute abend durch sein müssen. Der Lotse beharrt darauf, am nächsten Kontrollpunkt zu nächtigen.
Der blinde Matz bringt mich eigentlich auf die Idee, als er meint, das hätten sie früher mit ihm nicht machen können, er hätte sie ordentlich aufgemischt, die Kanaken! Ich beratschlage mich kurz mit Per und schlendere, mit seinem Wunderdienstpaß bewaffnet, zum Lotsen.
"Ein Problem", sage ich mit leidvoll verzerrtem Gesicht, "ein großes Problem!" Was denn sei, fragt der Lotse besorgt, denn ich mache ein wirklich bekümmertes Gesicht. Ich jammere und jammere, daß das ein großes Problem geben wird. Ich sei doch mit dem großen Chef unterwegs, der lange Lulatsch, das sei mein Boss, und ich werde von im verantwortlich gemacht, wenn das noch lange dauere! Der Boss sei doch schon früher da gewesen, sei damals sogar an einem einzigen Tag durchgefahren. Und nun zwei oder sogar drei Tage - der Chef wird sicher nachher in Kairo anrufen und uns allen ganz große Schwierigkeiten machen. Große Schwierigkeiten! Dann zeigte ich ihm den blauen Dienstpaß und erklärte ihm alles, wie das mit dem UHBP undsoweiter sei. Ich muß wohl eindringlich gelabert haben, denn er wurde langsam weich und unruhig. "Du Security, Bodyguard?" fragte er und ich wich vorsichtig mit "No, Assistent!" aus, wer weiß, was der Knabe wirklich von Beruf war, aber Assistent paßt immer. Ich überließ ihn seinen Gedanken und verzog mich, berichtete Per, daß ich unseren Knaben vielleicht nachdenklich gemacht habe, mehr nicht.
Helga schien die viele Sonne doch geschadet zu haben, denn nun mischte sie sich ein (Frauen haben eine Seele, definitiv!) und zitiert aus der Weltliteratur, wenn sie ein Schauspiel wollen, dann gebt ihnen ein Schauspiel! Sie richtete aus den Kissen der Sitzbank ein schattiges Nest für Per an Deck her, hieß ihn sich setzen und reichte ihm Speis und Trank. Die Schmierenkomödie glitt fast ins Skurrile ab, als sie ihm - inzwischen kindisch mit Pluderhose und Schleier wie eine Haremsdame gekleidet - mit einem Tüchlein die Schweißtropfen von der Stirn zu tupfen begann. Der Lotse steuerte nun offensichtlich einen der Kontrolltürme an. Ich fragte ihn flüsternd, ob er die Übernachtung jetzt schon für richtig halte, es sei erst kurz nach Mittag, und wir bekämen ganz ordentlich Probleme mit meinem Chef, auweia! Er antwortete nervös, er ginge an Land, um zu telefonieren. Per wandte sich um und sagte auf englisch, gut so, denn dann würde er auch mit Kairo telefonieren können; er würde eine derartige Behandlung nicht unkommentiert akzeptieren! Der Lotse duckte sich und beschwichtigte; er wolle ja die Kanalautoritäten bitten, uns gleich bis Suez-Port Tawfiq (dem Ende des Kanals) durchzulassen.
He, das hörte sich schon besser an! Wir legten am Fuß eines solchen Turmes an, der kleine Nikolaus lief vor zum MUGGELE und rief Meister Rahn zu, wir lassen telefonieren, ob man uns heute ganz durchließe! Rahn legte ebenfalls an und wir warteten gemeinsam. Unser Lotse verbrachte eine lange Viertelstunde im Kontrollturm, zeitweise war lautes Schreien zu hören. Per lachte leise: "des is a Gschicht!"
Der Lotse kam herunter und steuerte auf Per und mich zu. "Wir haben Glück", sagte er, "der Kanal bleibt offen, es kommt uns nur ein amerikanisches Kriegsschiff entgegen, und die haben zugestimmt, uns vorbeizulassen." Befriedigt sah er uns an und wartete auf Beifall. Per nickte und sagte: "Tonight, Suez!" Der Lotse wollte etwas erwidern (vermutlich, daß das dann doch zu weit sei), aber Per hatte sich wieder auf seinen Kissenthron gesetzt, deutete in Lord-Nelson-Pose nach Süden und sagte: "Los, gemma!" Das verstand selbst der Lotse.
Wir fuhren jetzt mit doppelter Geschwindigkeit, Nikolaus übernahm das Steuer und wir düsten dahin. Der Lotse nahm mich beiseite und fragte, ob das okay sei, wie er das hinbekommen hätte. Ich blieb cool und sagte, wenn wir heute noch Suez erreichten, würde ich meinen Chef bitten, ihn in Kairo lobend zu erwähnen. Der Lotse sagte okay, aber er verriet mir immer noch nicht seinen Namen.
Das amerikanische Kriegsschiff kam uns entgegen, die GI's winkten und lachten, Platz war genug für noch ein zusätzliches Schiff. An den Kontrollpunkten winkte man uns freundlich zu, wenn wir vorbeizogen. Helga spielte weiter die Haremsdienerin und der kleine Nikolaus brachte dem Lotsen die Grundbegriffe des Steuerns mehrrümpfiger Boote nahe. Alex und ich gingen zum Kartentisch und rechneten hin und her: wir würden noch vor dem Sonnenuntergang in Ismailia und realistischerweise morgen nachmittag in Suez sein! Das MUGGELE blieb zurück, der gute Rahn mußte seine Maschine schonen und konnte unser Tempo nicht mithalten. Wir vermuteten, daß ihm eine einsame Nacht bevorstand.
Tatsächlich, die letzte Biegung des Kanals, dann fuhren wir in die Bucht vor der Stadt Ismailia. Man hatte offenbar veranlaßt, daß wir dort schon erwartet wurden; der Supermarktbesitzer kam mit seinem Wassertaxi zum Ankerplatz, um uns samt Lotsen an Land zu bringen. Ich "legte ein gutes Wort beim Chef ein", der dem Lotsen ein paar Dollarscheine allergnädigst in die Hand drückte. Kaum war dieser halbseidene Rudergast in der Barkasse verschwunden, lachten alle herzlich und fragten nun den netten Supermarktbesitzer, wo man denn hier einkaufen und essen könne.
Er guckte erst blöde, dann grinste er und sagte, "bei mir!" Wir vereinbarten, daß er uns bei Anbruch der Dunkelheit abholen würde.
Es war wunderschönes, ruhiges Kaiserwetter. Der kleine Nikolaus begann, das Schiff zu putzen, wortlos schloß sich einer nach dem anderen an, und nach kurzer Zeit erstrahlte das weißgestrichene Holzdeck der PAPAGENO wieder in strahlendem Weiß. Ich kam beim Barometer vorbei und traute meinen Augen nicht: das Ding mußte kaputt sein! So einen steilen Abfall habe ich noch nie gesehen. Der Käpt'n meinte, das Baro sei sicher in Ordnung. Wir gingen an Deck. Über der Stadt lag ein dunkler, graubrauner Schleier. Alex murmelte, daß das sicher ein Sandsturm sei und ich kommentierte, so ein Schwachsinn, lieber Alex, hier gibt's keine Sandstürme.
Dann setzte der Sandsturm innerhalb von wenigen Minuten ein. Es wurde dunkel, der Wind heulte in den Wanten und der Sand flog uns waagrecht um die Ohren. Ich versorgte mit Nikolaus das Beiboot und rief Alexandra zu, sie solle unsere Kabine dichtmachen, sonst schliefen wir heute Nacht im Sand. Bald hatten wir alles unter Deck und machten alle Luken dicht. Das erste Mal saß die gesamte Mannschaft um den großen Salontisch, und jetzt erst merkten wir, daß 9 Mann kaum Platz hatten.
Alexandra, die mich fest umklammert hielt, weil sie sich vor dem Orgeln und Heulen des Sturmes sehr fürchtete und auch, weil so wenig Platz war, flüsterte auf einmal in mein Ohr, da - da draußen sei ein Ruderer! Ich glaubte schon an ein alemannisches Sprachmißverständnis oder daß sie übergeschnappt sei, da sah ich ihn auch schemenhaft an uns vorbeigleiten. Ein junger Mann in weißer Turnhose und Leiberl, im Ruderskiff, eins-zwei, eins-zwei, elegant vorbeihuschend. Ich sagte, das ist doch ein richtiger Sturm, was macht denn der da draußen?
Die Neugier hat mich schon einige Male in brenzlige Situationen gebracht, aber diesmal beherrschte ich mich. Zumindest für eineinhalb Minuten. Dann machte ich mich frei und kroch an Deck. Der Sturm war oben gar nicht so schlimm, nur unter Deck, da hörte es sich schlimm an; das Heulen und Orgeln des Windes und das giftige Sirren des Sandes, das an den Aufbauten entlangfegte.
Der Sand knirschte zwischen meinen Zähnen, und gespannt beobachtete ich den Ruderer, der aus dem Nichts auftauchte, eins-zwei an uns vorbeizog und eins-zwei wieder im Nichts verschwand. Nach etwa drei Minuten das gleiche, aber in umgekehrter Richtung. Nach und nach kamen alle an Deck und beobachteten diesen Wunderknaben, dem das Training wichtiger war als der Sandsturm, der sich von einer Minute auf die andere wieder legte. Nikolaus betrachtete das Deck, auf dem jetzt zentimeterhoch feiner brauner Sand lag. "Und das eine Stunde, nachdem wir das Schiff gewaschen haben!" meinte er bekümmert und ging kopfschüttelnd unter Deck, um etwas gegen den schlechten Geschmack im Mund zu tun. Ich trank auch ein Bier, genoß es trotz des knirschenden Sandes, der durch die Speiseröhre hinuntergespült wurde und danach wahrscheinlich wie Schmirgelpapier wirken würde ...
Das Wassertaxi legte an. Wir fragten den Supermarktchef, was er von dem Sturm halte, und er fragte zurück: "Welcher Sturm?". Offenbar kam dieser Jahrhundertsturm hier täglich. Wir sahen uns die (kleine) Stadt an, kauften Proviant für die nächste Woche und ließen alles zum Schiff hinausbringen - das Wassertaxi gehörte ja auch ihm. Der Mann war in Ordnung, machte vernünftige Preise und als es dunkelte, bekamen wir ein ausgesprochen gutes Nachtmahl in seiner Gartenlaube. Dann brachte er uns wieder zum Schiff.
Wieder an Land angekommen, verwandelte er seine Barkasse (per Taferl: PORT AUTHORITIES) in ein Dienstfahrzeug, brachte den Hafenkapitän samt Wache an Bord der PAPAGENO. Wir bekamen (als V.I.P.s!) die Erlaubnis, mit dem nächsten Konvoi hinaus ins Rote Meer zu fahren. Also, dann nichts wie los - Nachtfahrt durch die Bitterseen...
Auch die Ausfahrt des Kanals bei Suez ist von einem Tower bewacht. Dort war man schon informiert, daß wir keinen Funk haben; also setzte man eine Flagge, als die Ausfahrt frei war. Wir - mit stolzen 15 Metern Bootslänge - führten den Konvoi an: hinter uns ein Dutzend riesiger Tanker, keines unter 100 Meter lang. Wir machten sofort hinter der Ausfahrt einen Schlenkerer und verzogen uns in Ufernähe, ließen die Ungetüme vorbei. Anfangs dippten wir noch vorschriftsmäßig unsere Flagge (Boote haben sich per Flaggensenken zu grüßen), aber nach dem fünften oder sechsten Elefanten, der grußlos an uns vorbeibrummte, erlahmte unser Eifer. Gute Seemannschaft hin oder her, die Handelsflotte hielt nicht viel von unserem Flaggengruß, also ließen wir es bleiben. Dies sollte der kleinste Fehler des Tages bleiben.
Wir bildeten drei Mannschaften: der kleine Nikolaus, Alexandra und ich sollten die erste Wache haben, der große Nikolaus, Kerstin und Matz die zweite und Per, Helga und Alex sollten die Frühwache machen. Der Wind kam ordentlich aus Nordwest und trieb das Schiff auf Raumschotkurs mit gut 10 Knoten voran - für ein schweres Fahrtenboot eine gute Leistung! Bevor die Nacht wirklich hereinbrach, hatten wir die letzten kleinen Inselchen und Untiefen hinter uns gelassen und steckten nun einen perfekten Kurs über freies Wasser ab: wir würden mit einem langen Schlag weit nach Süden vorstoßen und schon morgen früh die Hälfte der Strecke zu den Gubal-Inseln (die am Westufer des Roten Meeres liegen und unser erstes Ziel waren) schaffen; abends könnten wir mit einigem Glück dort sein.
Während wir dahindüsten, tauchten immer wieder kleine, helle Lichter auf dem Wasser auf. Fischer, die mit Gasdampflampen fischten. Wegen der hohen Wellen sah man diese kleinen, oft nur 4 oder 5 Meter langen Boote erst im letzten Augenblick, wenn sie auf einem Wellenberg tanzten. Manchmal düsten wir nur mit wenigen Metern Abstand vorbei, grüßten den Fischer mit lautem Hallo und winkten. Sie waren freundlich und grüßten zurück; anscheinend machte sich außer mir niemand Gedanken darüber, daß die spitzen Rümpfe unseres Trimarans rasend schnell durchs Wasser pflügten und so ein kleines Boot einfach aufspießen konnten. Halts Maul, Kassandra, und geh schlafen!
Wachwechsel. Nikolaus instruiert Nikolaus, weist ihn auf den Konvoi hinter uns hin. Kerstin, erfahrene Boutique-Besitzerin, Fallschirmspringerin und Pilotin läßt sich von mir noch einmal die Sache mit dem Kompaß und dem Steuerrad erklären und auch, daß die Peilung (die Richtung, die von unserem Standpunkt dorthin weist) nicht gleich bleiben darf. Dann gibt's noch eine Gutenachtzigarette und wir anderen gehen schlafen.
Ein lauter Knall reißt mich aus dem Schlaf. Ich denke sofort an die Fischerboote und unsere messerscharfen Rumpfspitzen. Im Vorbeirennen sieht mich der kleine Nikolaus verschlafen an: was ist? Ich weiß nicht, brülle ich und renne weiter, an Deck. Als ich aus der Luke steige und hoch über mir eine riesige schwarze Wand und beleuchtete Fenster sehe und ein tosendes Brummen höre, braucht mir niemand zu sagen, was passiert war. Nicht wir haben einen armen Fischer aufgespießt, sondern wir wurden von einem Tanker gerammt! Ein schneller Blick in die Runde: der große Nikolaus und Kerstin knien im Cockpit, hinter ihnen die verbogene Reling und auf dem halb abgerissenen Davits (zwei kleine Kräne, auf denen das Beiboot hängt) das ramponierte Beiboot, das halb im Wasser schleift: zusammengenudelt, als ob jemand mit der Walze darübergefahren wäre!
Der Tanker ist nun ganz vorbei, ich sehe in ausreichendem Abstand die riesigen Schrauben - in diesem gigantischen Quirl wären wir in Sekunden zu Brei zermahlen worden! Die schwarze, mächtige Wand - hoch wie der Stephansdom - und das tosende Geräusch der Schrauben nehmen einem für einen Moment die Sinne. Ich stehe neben dem kleinen Nikolaus und blicke hoch. Es wird mir sofort klar, daß wir gewaltiges Schwein gehabt haben, das hätte leicht tödlich enden können. Ein Blick auf die Uhr - es ist kurz nach ein Uhr nachts.
Ich sage zu Nikolaus, wir müssen die Crew zählen. Aber er steht wie gelähmt da und rührt sich nicht. Ich zähle nun laut, den Namen rufend, alle durch - einer fehlt!
"Nikolaus, Per!" schreie ich, "einer fehlt!" "Gibt's net" die lakonische Antwort, "zähl noch einmal!". Ich zähle und rufe jeweils den Namen. Den letzten - Alex - halte ich noch fest, nachdem ich sieben gesagt und mir dann auf die Brust schlage und "Acht!" rufe.
"Es fehlt einer!" schreie ich verzweifelt und denke plötzlich, daß es Matz ist. Ich schreie: "Wo ist der Matz, wo ist Matz?!" Eine piepsige Stimme genau vor mir sagt: "Ich bin hier, ich bin hier!" und ich sage zu ihm, ohne zu merken, daß ich ihn immer noch umklammert halte und gegen seine Brust schlage "nein, nicht du, sondern der Matz!" Fast weinerlich sagt der vermeintliche Alex: "Aber - ich bin der Matz!"
Ich brauche eine Sekunde, dann noch eine, um den Sinn seiner Worte umzusetzen. Einer fehlt, klar, aber es ist nicht der Matz, sondern der andere.
"Alex!" rufe ich, "wo ist der Alex?!"
Totenstille. Per sagt trocken: "Seine Koje ist genau unter dem zerquetschten Beiboot." Nikolaus: "Um Gottes Willen!" Kerstin: "Na, will nicht einer nachsehen gehen?" Betretenes Schweigen rundherum. Da hinunter - da hinunter will jetzt keiner gehen.
Per und ich gehen gleichzeitig zum Niedergang, kriechen den engen Junggesellenkojen entlang ganz nach hinten. Dort liegt eine ins Laken eingewickelte Gestalt, stumm und unbeweglich. Ich habe nur einen Gedanken: er muß tot sein. Per steht regungslos hinter mir, ich höre ihn - selten genug - tief schnaufen. Dann taste ich vorsichtig vor und berühre die Gestalt.
"Ja, was ist?" murmelt Alex verschlafen und rollt sich herum, "was macht's ihr da oben für ein Geschrei?" Per und ich seufzen erleichtert - der gute Junge lebt, schläft seelenruhig, während vielleicht 15cm neben ihm dreißigtausend Tonnen Stahl mit 20 oder 25 Knoten vorbeigerauscht sind und unser Schiff halb zerfetzt hatten.
Alex zieht sich rasch etwas an und kommt mit an Deck. Helga hat ihre Kontenance verloren und die Stimme wiedergefunden; wie eine Furie schreit sie den großen Nikolaus, Kerstin und den armen Matz an, was ihnen da eingefallen sei; man sehe doch die Schiffe und könne rechtzeitig ausweichen, verdammt noch mal!
Wir diskutieren noch stundenlang, bis zum Morgengrauen. Es hatte sich etwa so abgespielt: Kerstin und Nikolaus haben sich in einen Winkel des Decks zurückgezogen, um zu flirten. Den dreiviertelblinden Matz haben sie ans Steuer gestellt und gesagt, er solle nur den Kompaß beobachten und "160" fahren. Matz meinte, den hell erleuchteten Kompaß könne er gut ablesen, also okay.
Nach hinten, auf den nachkommenden Konvoi, achtete niemand.
Nach einiger Zeit kamen Kerstin und Nikolaus, vom Lärm des Tankers aufgeschreckt, wieder zum Steuerstand und sahen das Riesenschiff, bereits zum Greifen nahe. Nikolaus schrie, es sei zum Ausweichen zu spät, man könne nur noch beten! So knieten sich die beiden Liebenden hin, während Matz voll Todesangst in die Finsternis starrte - er konnte nichts vom Tanker sehen, wie er sagte, hörte nur das tosende Brüllen der gigantischen Bugwelle. Der Tanker erwischte unser Schiff an steuerbord achtern und wischte es beiseite, als wäre es Treibgut. Irgendwie hat das Beiboot den Schlag ein wenig abgemildert und daher mitgeholfen, daß unser Boot aus dem Ruder lief und beiseitegeschoben wurde. Der Davits schrammte die Bordwand entlang und schrie wie ein waidwund geschossenes Tier, bevor es brach. Die zusammengequetschte Gummiwurst, die einmal ein Beiboot gewesen war, wickelte sich halb um die verbogene Heckreling und verhinderte so, daß sie brach. Nach wenigen Sekunden war der Spuk vorbei.
Per und ich saßen im Vorschiff und besprachen die Lage. Wir hatten diesmal Glück gehabt, aber es würde kein zweites Mal geben. Wir beschlossen, daß ab nun immer einer von uns beiden wach wäre, denn daß wir uns aufeinander verlassen konnten, das wußten wir, das war erprobt. Noch einmal würden wir unser Leben solchen Amateuren nicht anvertrauen - immerhin, der große Nikolaus (dem wir einhellig die Schuld gaben) war nicht irgendein grüner Badegast, sondern einer der Schiffseigner und Co-Skipper, mit Prüfung und Schein. - An dieser Entscheidung hielten wir fest, bis wir von Bord gingen.
Bereits am nächsten Morgen bewiesen beide Nikoläuse, aus welch unterschiedlichem Holz sie geschnitzt waren. Der große Nikolaus, der uns schweigend auswich und nicht mit uns frühstücken wollte ("weil wir so gemein zu ihm sind"), stand gerade am Ruder, als ich kauend aus dem Bullauge sah und ein Arbeitsboot mit Kran unseren Kurs kreuzen sah. Sofort sprang ich auf und ging zum Steuerstand. Per folgte mir, auch er hatte gemerkt, daß etwas nicht stimmte.
Schweigend stand ich neben Nikolaus. "Er muß ausweichen, wir haben Wegerecht" sagte Nikolaus und fuhr seelenruhig weiter.
"Peilung steht!" sagte ich (was bedeutet, daß wir genau auf Kollisionskurs fuhren). Nikolaus sagte nichts. Ich wiederholte, nachdrücklicher: "Mensch, wir sind auf Kollisionskurs, fall einfach ab, drehe das Boot vom Wind weg, damit wir langsamer werden und ihn vorne durchfahren lassen!" "Nein," beharrte Nikolaus, "wir haben jetzt Wegerecht!"
Inzwischen war der kleine Nikolaus, noch mit vollem Mund das Wurstbrot kauend, heraufgekommen und hatte sich zum zweiten Steuerstand gestellt. Wortlos drückte er den Umschalthebel nieder und übernahm damit das Steuer. Er wich geschickt aus und ließ den Ägypter durch, der freundlich winkte und sich seines Unrechts offenbar gar nicht bewußt war.
In der anschließenden heißen Diskussion sagten wir dem kleinen Nikolaus ganz offen, daß wir zu ihm schon, aber zu seinem Kompagnon gar kein Vertrauen mehr hätten und er dies meinetwegen als Meuterei betrachten könne: wir würden jedenfalls nicht tatenlos zusehen, wie uns der andere Nikolaus umbringt! Es gab ziemlich dicke Luft, aber nach einigen Stunden beruhigten sich alle. Davon abgesehen kam der große Nikolaus während der nächsten Woche nicht mehr ans Steuer.
Der Wind spielte nicht mehr mit, wir legten einen Badenachmittag ein und versuchten, die ärgsten Schäden selbst zu reparieren. Aber das Beiboot war komplett hin. Das macht aber nichts, sagte der kleine Nikolaus, wir haben noch ein zweites, ein noch Verpacktes unter Deck, das können wir nun in Betrieb nehmen. Es dauerte einige Stunden, bis das neue Boot ausgepackt und zusammengebaut war. Alles in allem waren wir doch eine ziemlich gute Mannschaft, denn beim Zusammenbau ging alles schief, was schief gehen konnte.
Gegen abend steuerten wir eine kleine Bucht an, in der offensichtlich ein verlassenes Depot oder aufgelassener Betrieb war. Die Kaimauer war intakt, also legten wir an, brachten jedoch einen kleinen Anker mit dem Beiboot aus, sicher ist sicher. Wir verbrachten einen sehr ruhigen Abend - ich fing zu meinem eigenen Erstaunen die ersten Fischlein meines Lebens mit einer Schnur, wobei ich Alma-Käse aus heimatlichen Gefilden als Köder benutzte. Ich hatte ursprünglich nur "Angel-Geblödel" im Kopf, weil alle meinten, hier und mit dieser Angel finge ich nie (nie) etwas. Nikolaus briet die Fische à la PAPAGENO und bereitete eine prima Jause zu, aber hungrig blieben wir doch. In der Ferne tuckerte ein Fischerboot, dann wendete es und kam längsseits. Die Fischer schwenkten einen großen Fisch; ob wir ihn kaufen wollten? Er war sicher 30kg schwer. Aber die 100 Dollar, die sie wollten, waren uns zu viel, also tuckerten sie wieder davon. Bei ihrem Manöver blieben sie in irgendeiner Leine hängen, aber sie gaben ordentlich Gas und verschwanden in der Dunkelheit.
Am nächsten Morgen großes Erstaunen. Unser zusätzlich ausgebrachter Anker war weg. Nikolaus besah sich die abgerissene Leine. Aha, die Fischer, gestern abend. Die waren irgendwo hängengeblieben. Jetzt wußten wir, wo. Wir tauchten noch eine Stunde herum und mußten unverrichteter Dinge weiterfahren; der Anker war für immer weg; ich vermutete, er hänge jetzt noch am Fischerboot. Gegen nachmittag erreichten wir die nördliche Gubal Insel und rundeten sie. Hier waren die Riffe in der Karte nur sehr undeutlich eingezeichnet, sogar über "unter Wasser wandernde Sanddünen" wußte der Red Sea Pilot zu berichten. Daß das Ganze kein Spaß war, wurde bald deutlich, als wir die auf den Riffen klebenden Wracks zählten. Eines war sogar ein funkelnagelneues Motorboot, das vermutlich einen zweistelligen Millionenbetrag gekostet haben dürfte - aber jetzt stand es unbeweglich auf einem Riff, und mit dem Fernglas konnte man sehen, daß es zwischenzeitlich vollständig geplündert worden war. Der kleine Nikolaus schickte den großen Nikolaus mit dem Bootsmannstuhl auf halbe Masthöhe, in den Ausguck. Der Ausguck, das vielleicht für die jüngeren Leser, ist der Mensch da oben in luftiger Höhe, der nach Galliern, Piraten oder Riffen Ausschau halten und laut rufen muß, wenn er etwas Gefährliches sieht. ("Die Ga-, die Ga-, die Gaga...!", wie es bei Asterix heißt).
Der große Nikolaus nahm sogar seine polarisierte Sonnenbrille mit, denn "mit der kann man unter die Wasseroberfläche sehen". Schnecken! Er guckte zwar hierhin und dorthin und machte nur Faxen, aber Riffe sah er keine.
Vom etwa 2-3 km entfernten Ufer erhob sich ein Hubschrauber und zog über uns hinweg. Der Pilot drehte um und bekuckte uns ganz genau. Alle winkten, aber er kam noch tiefer; offenbar wollte er etwas. Dann konnten wir sehen, daß er auf seine Kopfhörer deutete. Funk? Nein, das haben wir nicht. Da keiner sonst Anstalten machte, ging ich aufs Vordeck und zeigte erst auf mein Ohr, dann das Telefonzeichen mit Daumen und kleinem Finger, dann die Unterarme zu einem X verschränkt (=kaputt). Er nickte und kam noch einige Meter tiefer. Dann deutete er nach vorn und zeichnete Hügel und Berge in die Luft, dann glitt die Hand wieder durch die Luft und zerschellte an einem imaginären Hindernis.
Per hatte sich neben mich gestellt und übersetzte laut: "da vorne sind Riffe und ihr werdet am Beton ordentlich aufknallen!" Wir nickten, daß wir verstanden hätten; er aber setzte den Hubschrauber vor das Boot und zog einen Kurs, etwa dreißig Grad nach backbord, dann wiederholte er es noch einmal. Wir nickten und der kleine Nikolaus schlug das Steuer übertrieben ein, damit er unsere Kursänderung sähe, damit er wisse, daß wir ihn verstanden hatten. Er wackelte einige mal mit dem Hubschrauber und verschwand wieder hinter den Dünen.
Per und ich standen vorne an der Reling und beobachteten das Wasser, während die Mädels, Alex und Matz das Vorsegel bargen. Der große Nikolaus kam sich alt und überflüssig vor, denn wir deuteten dem anderen Nikolaus am Steuer, als wir hellgrünes Wasser und die ersten Riffe sahen - gefährliche Dinger, sogenannte Negerköpfe, die wenige Zentimeter unter dem Wasserspiegel lauern und nur bei Ebbe gut sichtbar sind. Wir verlangsamten unsere Fahrt und glitten im Schrittempo durch die Einfahrt zwischen den zwei großen Gubal-Inseln, immer der Riffkante entlang.
Dann erreichten wir die Stelle, die Achmed vor einer Woche in die Karte eingezeichnet hatte: eine wirklich schöne, kleine und nach Norden geschützte Bucht. Der Wind fegte inzwischen mit 8 Windstärken über die flache Sandinsel, der Windmesser im Topp (der Mastspitze) zeigte konstant 8 Beaufort. Unten an Deck waren wir durch die Insel geschützt, es wehte nur ein leichtes Lüftchen.
Der kleine Nikolaus tastete sich vorsichtig vor, Alex und Per hantierten mit dem großen Hauptanker und ließen die Kette hinab. Dann griff der Anker, und Nikolaus ließ das Schiff zurücktreiben, um den Anker einzugraben. Ein Ruck, und wir trieben schnell ab - die Kette war gerissen! Nach einer Schrecksekunde taten wir, was wir gelernt hatten: Nikolaus warf die Maschine wieder an und fuhr wieder nach vor, zu der Stelle, wo der Anker liegen mußte; Matz und ich machten den kleinen Handanker bereit und ließen ihn zu Wasser. Der Anker griff, die Leine spannte sich; aber das konnte nur ein Provisorium sein. Mit diesem kleinen Anker würden wir hier nicht über Nacht liegenbleiben können.
Per, der das Reißen "seines" Ankers beinahe als persönliche Beleidigung auffaßte, zog sich bis auf die Badehose aus und sprang ins Wasser, um nach dem Anker zu tauchen. Dann tauchte er auf und hielt die Ankerkette hoch - leider hatte er sich aber bei dieser Aktion mit dem Druckausgleich vertan und das Ohr tat ihm noch einige Tage höllisch weh. Nikolaus hetzte in die Kajüte und suchte nach dem Anker-Reparatur-Kit (hier muß ich zugegeben, daß ich so ein Ding vorher noch niemals gesehen habe). Triumphierend hielt er ein Reparaturglied hoch; nun war es eine Frage von Minuten, bis die beiden Hälften der Ankerkette wieder fest verbunden waren. Das Schiff setzte langsam zurück, der Anker und die reparierte Kette hielten. - Daß wir an einem Tag zwei Anker verloren, war schon seltsam.
Wir blieben einen Tag und zwei Nächte auf der nördlichen Gubal-Insel, machten Landausflüge und erkundeten ein wenig die völlig unbewohnte Sandinsel. Wir tauchten am Riff, wobei es mir ganz mulmig wurde, da wir uns dabei voll auf den großen Nikolaus verlassen mußten, obwohl wir ihm eigentlich nicht mehr vertrauten.
Die gesamte Ausrüstung gehörte ihm, er war der einzige geprüfte Tauchlehrer (geprüft heißt hier: mit Urkunde) an Bord, und wir wollten ja bei ihm einiges an Tauchtechnik lernen, schließlich hatten wir ihn dafür bezahlt. Ich bin ein ausgezeichneter Freitaucher, doch wollte ich meine Kenntnisse im Gerätetauchen wieder auffrischen. Ich dachte mir einen (technisch bedenklichen) Kompromiß aus: ich würde nur so lange und so tief tauchen, daß ich im Fall eines "unerklärlichen Defekts" jederzeit die Ausrüstung abstreifen und auftauchen konnte. Ausdrücklich: machen Sie's mir nicht nach, man kann dabei ganz schön draufgehen! Später dann konnte ich den Kitzel voll genießen, als die Abenddämmerung kam und wir ohne Licht im immer dunkler werdenden Wasser tauchten.
Dann fuhren wir wieder ostwärts und überquerten das Rote Meer, fuhren die Westküste der Sinai-Halbinsel entlang nach Süden, bis zu ihrer Südspitze, dem Ras Muhammed.
Sie kennen die Gegend vermutlich aus dem Fernsehen, denn der damalige Präsident Mubarak hat dort neben dem Präsidialurlaubssitz ein Konferenzzentrum erbauen lassen, in welchem schon des öfteren israelisch-palästinensische Friedensgespräche stattfanden. Dort also fuhren wir bei gutem Wind ums Eck - vor uns lag der weite, wunderschöne Golf von Akaba. Oben, am Kap (Ras ist das arabische Wort dafür) steht neben dem Leuchtturm ein langgestrecktes Gebäude.
Kerstin, Pilotin und Fallschirmspringerin, blickte hinauf und meinte, für einen Free Jump genau das Richtige. Alex warf einen Kennerblick hinauf und meinte, das sei ein Gezeiten-Observatorium. Alexandra, die auf der Sitzbank lag und ihren Kopf auf meinem Schoß ausruhte, las im Kulturführer, was die Gegend an Interessantem bot. Ich spielte mit ihren blonden Strähnen und hielt meine Klappe, als sie halblaut den Titel der Folgeseite vorlas: Ras Muhammed - das neu erbaute internationale Hai-Beobachtungs-Observatorium eröffnet!
Der kleine Nikolaus hatte bald eine Einfahrt zwischen den Riffen ausgemacht und steuerte vorsichtig hinein, dann ankerten wir. Wir tauchten und tummelten uns im Wasser, fasziniert von dieser überreichen Unterwasserfauna und Unterwasserflora. Dort ist man im Wasser nur einer von vielen, vielen wohlschmeckenden Fischen. Hundert Meter über uns die Betonplattform des Observatoriums, kleine Menschlein stehen dort und winken und wacheln mit den Händen und rufen uns etwas zu. Wir winken und wacheln mit den Händen zurück und rufen auch Halli und Hallo und Hallali. Alexandra zupft mich unsicher am Ärmel, ob die da von oben mehr sehen könnten als wir von da unten?
Nein, hier gibt's natürlich keine Haie, weiß der große Nikolaus, der hier schon "ziemlich oft" tauchen war. Immerhin, bei den Übungen mit den Tauchgeräten ist er - zugegeben - versiert; wir frischen alle Verhaltensweisen bei Notfällen, wie man zu zweit mit einem Lungenautomaten zurechtkommt usw., wieder auf. Leider versagen unsere Unterwasserscheinwerfer, so daß seine Video-Aufnahmen und die Fotos, die ich schieße, von sehr minderer Qualität sind. Wir genießen die herrliche Unterwasserwelt am Sharks Reef und kommen erst nach Stunden aus dem Wasser, als wir zu frieren beginnen.
Am nächsten Tag tuckern wir bei Windstille dahin, fahren den Golf hinauf, bis wir die Stadt Sharm El Sheik (Ofira) erreichen, das sagenhafte Land Ophir, wenn Sie sich an das Königsbuch des alten Persers Al Firdausi erinnern. Sharm El Sheik ist unser Ziel, von dort werden wir wieder nach Kairo zurückfliegen, die PAPAGENO wird wieder auf die Westseite fahren und in Hurghada Touristen zum Tauchen karren. Die Stadt verdient eine vollständige Beschreibung: ein Hafen samt Kaserne, achtzehn Häuschen, zwei Geschäfte und 15 Fünfsternhotels. Am Strand zwei Tauchschulen, drei Mietbootunternehmen und ein Ausflugsboot "Visit the Shark's Observatory at Ras Muhammed!"
Sharm el Sheik ist bei aller architektonischen Bescheidenheit ein wichtiger Ort für die ägyptische Seefahrt und El Gism, das Heer. Das fast quadratisch angelegte Hafenbecken (new harbour) ist eine betonierte Badewanne, ein 17 Meter tiefer Swimmingpool, wohl 250 mal 250 Meter. Auf der schönen Sonnenseite, am Pier, liegen ein italienisches und ein spanisches Kriegsschiff. Wir werden von einer kleinen Barkasse erwartet und in die schattige, zerklüftete Ostseite des Hafenbeckens gelotst. Unser Anker liegt einfach wie hingeschmissen am glatten Betonboden, von Eingraben nicht zu reden. Für eine Landleine ist die Entfernung zu groß, aber der leidlich Englisch sprechende Lotse verbietet uns ausdrücklich, näher ans Ufer zu liegen. Kriegsschiffe und Kanonen beeindrucken uns Zivilisten doch, also schlucken wir jeglichen Protest hinunter und bleiben mitten im Swimmingpool liegen - seemännisch ein Schwachsinn, aber zu diskutieren trauen wir uns auch nicht.
Am Tag davor hatten wir eine Unfallmeldung über unsere Kollision geschrieben. Natürlich kein Wort über unseren unfähigen Wachführer, sondern eine einfache, genaue Beschreibung des Hergangs. Das einzige, was fehlte, war der Name des Tankers - in der Dunkelheit hatten wir es nicht lesen können. Unser Skipper, Per und ich erklommen das Beiboot und folgten dem Einheimischen zur Hafenmeisterei. Dort schickte man uns zurück, der Hafenmeister käme erst dann und dann. Wir blieben an Bord und machten Klarschiff, das heißt, wir räumten auf und wuschen das Schiff. Als die Zeit gekommen war, tuckerten wir wieder zum Hafenmeister.
Die Wände seines kleinen Büros waren mit Fotografien und Fototrophäen gepflastert. Sein Name war Colonel (Körnel gesprochen), alle sprachen ihn so an. Auf einigen Fotos konnte man ihn sehen, in toller Faschingsuniform; vermutlich war er doch ein echter Körnel; immerhin sprach er fließend Englisch. Man hatte uns schon kommen sehen, und gleich nach dem Niedersetzen erhielten wir heißen Pfefferminztee in dünnen Tonschälchen - muß ich übrigens mal dem Michael Häupl erzählen! Auf dem Tisch sein Namenskärtchen: Capt. Abdel Wahab M. Saleh. Vater des Wales, flüstere ich Nikolaus zu, und der flüstert zurück: ich kann auch lesen! (An der Wand hing eine buntbemalte Tafel: Abd el Wahab - Father of the Whales. Ob hier wohl Melville seinen Kapitän Ahab für MOBY DICK her hatte?).
Per legt unseren englisch verfaßten Bericht auf den Schreibtisch, der Körnel nimmt ihn gleich wieder weg, deutet entschuldigend auf das dicke, grün eingebundene Buch, auf die es Per gelegt hatte und meint lächelnd: dies ist der Heilige Koran! Dann nimmt er unser Papier und beginnt zu lesen. Hört gleich wieder auf (ich kann ja auch nicht Arabisch lesen) und sagt: "Nun, erzählt mal!" Nikolaus stellt sich vor, Schiff, Name usw., berichtet, daß wir von Port Said nach Sharm el Sheik wollten, (hier unsere Papiere), und wir hätten in der und der Nacht eine Kollision mit einem Tanker gehabt. (Die Unterhaltung ist mir so lebendig im Kopf, daß ich sie hier wörtlich wiedergeben will:)
Der Körnel lächelt. "Kollision?" - Offenbar malt er sich gerade schmunzelnd aus, wie wir mit gesenkter Lanze gegen einen Berg aus Stahl anreiten.
"Na ja," korrigiert Nikolaus mit rotem Kopf, "der Tanker hat uns gerammt!"
"Aha," sagt der Körnel befriedigt, "das klingt schon besser. Und - ist dem Tanker was passiert?"
Nikolaus verneint stumm.
"Aber Euer Schiff - ist es arg beschädigt?" Nikolaus zuckt mit den Schultern. Die Reling haben wir selbst in einigen Stunden repariert, das alte Beiboot können wir wegschmeißen, am Rumpf nur einige unscheinbare Kratzer - nein, das Schiff ist eigentlich nicht arg beschädigt, gute amerikanische Handwerksarbeit!
"Und - wurde jemand verletzt?" Nikolaus verneint abermals.
"Inschallah!" ruft der Körnel aus und schiebt unseren Bericht gefaltet und ungelesen wieder über den Tisch, "dankt Gott, daß nicht mehr passiert ist!"
Soviel zur Seegerichtsverhandlung. Nikolaus und Per machen zwar noch einen halbherzigen Versuch, ob man den Namen des Tankers herausfinden und die Angelegenheit versicherungstechnisch weiterverfolgen könne, aber der Vater der Wale hat sich längst verträumt in den Pfefferminztee zurückgezogen und antwortet nicht. Währenddessen versuchte ich krampfhaft, die Persönlichkeiten auf den Fototrophäen dingfest zu machen, aber leider-leider, die ägyptischen Nobilitäten waren mir samt und sonders unbekannt.
Der Körnel hat meine forschenden Blicke gesehen, nun nimmt er Bild für Bild von der Wand und erläutert, hier sei er mit dem Minister Sowieso, dort mit dem General Dingsda abgebildet, und hier sein vorletztes Schiff, 1.500 PS übrigens, das er dem Kaufmann Icksipsilon verkauft habe. Apropos - wenn wir Proviant, Wasser oder Diesel bräuchten, er könne uns alles besorgen, denn die Kaufleute in Sharm, das seien Halsabschneider, so richtig gemeine Betrüger, die dann noch fürs Zustellen extra Geld verlangten; aber bei ihm, da könne man bequem eine Liste der Waren abgeben, und er würde es kostenfrei aufs Schiff liefern. - Welcome to the Bakschischkanal!
Ich habe im Red Sea Pilot lange gekramt und hatte ein Problem, nun brachte ich es zur Sprache: "Herr Körnel, Sir, Eure Exzellenz! Wir möchten noch gerne heute und morgen dort und dort tauchen gehen - ist das okay?".
Der Körnel saß plötzlich stocksteif - er hatte offenbar noch nie einen Idioten gesehen, der freiwillig ums Bezahlen bat. "Natürlich nicht," sagte er erwartungsgemäß, "da brauchen Sie eine Sondergenehmigung!" Nun lächelte ich breit, denn darauf hatte ich losgesteuert, "hier ist sie!" und Nikolaus legte das Formular mit dem aufgedruckten roten Tauchermandl auf den Schreibtisch.
Der Körnel stutzte, studierte das Blatt ("ach, ihr wart beim guten alten Achmed!") und demontierte uns in der nächsten Sekunde: "Das ist eine 14tägige allgemeine Tauchgenehmigung für die gesamte ägyptische Küste, ausgenommen Ras Muhammed und die Bucht von Sharm bis zur Insel Tiran, die sind nämlich Naturschutzgebiete, seit zwei Jahren schon!"
Genau das hatte nämlich im Red Sea Pilot gestanden, und nun hatte ich die Bestätigung. Hatten wir gestern noch ahnungslos am Ras Muhammed verbotenerweise im Naturschutzgebiet getaucht, so konnten wir es nicht mehr, seit ich es wußte und der Körnel uns gesehen hatte; er war scharf wie ein Rasiermesser und mit so einem wollte ich dann doch nicht spaßen. Freundlich und wortlos griff er in die Schublade und nahm ein Formular zur Hand. "Ich brauche einen Ausweis oder Paß von Euch" sagte er, während er zu schreiben begann.
Nikolaus und ich kramten in unseren Taschen - nein, wir hatten nichts dabei. Per griff lässig unter sein Hemd und zauberte den blauen Wunderdienstpaß aus dem Beutel. "Ja, was ist denn das?" stutzte der Körnel und begann zu blättern. Unauffällig ließ er das Formular unter einem Stoß Zeitungen verschwinden, während er Per's Paß studierte. "Ein Diplomatenpaß!" stellte er mit Kennermiene fest, "damit war ich früher als Militärattaché auch unterwegs!" Er wurde plötzlich dermaßen jovial und kumpelhaft, daß es mir ein wenig mulmig wurde - das konnte ganz schön danebengehen.
Kurzerhand nahm er die "ungültige" Taucherlaubnis zur Hand, hieb freundlich grinsend einige unterschiedliche Stempel darauf und krixelte seinen Namen schwungvoll darunter. "So, jetzt könnt ihr überall tauchen," sagte er, "ich bin hier zugleich die oberste Naturschutzautorität, ich erlaube es Euch!" Er bellte seinen Türsteher an, und wenige Augenblicke später erhielten wir frischen Pfefferminztee. Der Körnel grinste breit, als er in die unterste Schublade seines Schreibtisches griff. "Allah wird es verzeihen" murmelte er und stellte den Cognac auf den Tisch. Wir verneinten, doch er goß uns randvoll Cognac in den heißen Tee.
Wie Katz und Maus umtänzelten er und Per sich im nun folgenden Smalltalk, beide erzählten sich nichts, aber rein gar nichts über ihre Aufgaben, nur daß sie eben beide für den Staat (jeder für seinen) arbeiteten. Per korrigierte das mit dem "Diplomaten" nicht, sollte der Vater aller Wale denken, was er wollte. In einer Pause deute der Körnel zu Nikolaus: "Er Skipper?" und wir nickten. Der Körnel deutete mit dem Kinn auf mich, ohne mich direkt anzusehen: "Er Security?" Ich verneinte: "No, Assistent" und der Körnel nickte verständnisvoll, zwinkerte zu Per. Ja-ha, Assistent.
Die Unterhaltung ging dann in Richtung Golfkrieg und die viele Arbeit, die die beiden Kriegsschiffe im Hafen verursachten (und so ganz nebenbei wurde Per behutsam abgeklopft, ob er lieferberechtigter, naschbereiter Diplomat mit Dreiprozentstatus sei oder nicht). Der arme Körnel mußte sie mit Wagenladungen von Proviant und verbotenen Getränken beliefern, "Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwer es ist, das alles hier aufzutreiben!" Im Stillen dachte ich mir, seinen Jammer und seine Prozente möchte ich gerne haben...
Wir waren wieder beim Thema angelangt; ein kurzer Blickkontakt, dann sagte Nikolaus, wir würden gerne an Bord, um unsere Einkaufsliste zusammenzustellen. Der Körnel verabschiedete uns und gab uns einen Mann mit, der die Liste entgegennehmen und die Lieferung abwickeln sollte.
An Bord heiterste Stimmung. Wir saßen um unseren Kaffee, tratschten und Nikolaus mußte die Geschichte vom Hafenmeister zum dritten Mal erzählen. Dann sagte Alex, daß das Boot nicht ruhig liege, der Anker schleife über den Grund. Das Boot sei schon mehrmals im Kreis gefahren, also sei die Kette verdreht und würde vielleicht wieder brechen. Nikolaus beschloß, daß wir uns vorsichtig Richtung Ufer bewegten und eine Landleine ausbrachten. Als die Ankerwinde die Kette hob, sah man unter Wasser, daß sie sich blödsinnig um den Anker selbst gewickelt hatte. Einer mußte hinunter, um das zu klarieren, bevor wir Schaden anrichteten.
Der große Nikolaus war gerade mittendrin, seine Taucherausrüstung anzulegen, als Per trocken meinte, daß die Soldaten auf dem Kriegsschiff uns mit Feldstechern beobachteten - und wenn du jetzt auch noch mit Taucherausrüstung ins Hafenbecken gehst, dann holen sie dich! Nikolaus, der Schnelldenker, hielt inne und ließ auch noch seinen Mund sperrangelweit offen. Helga mußte sofort in der Kombüse verschwinden, wo ich sie lauthals lachen hörte.
"Ich mach schon" sagte ich und ließ die Hüllen fallen. Per nahm seine Unterwasserkamera und stieg zu Alex ins Wasser. Ich sprang ins warme Wasser, tauchte die 17 Meter zum Anker hinunter, werkte und riß ein paarmal an der Kette, die beinahe sofort wieder frei war, dann zog ich wieder hinauf. Diese gelungene Tauchaktion hat Per in einer wunderbaren 8mm-Sequenz verewigt - in ihr sah ich mich selbst zum ersten Mal tauchen. Der große Nikolaus entledigte sich maulend seiner Flaschen und war mächtig sauer, "weil wir immer so gemein zu ihm sind".
Alexandra fragte, wie man da tue, so tief hinunterzukommen? Sie käme kaum einen Meter tief, die Luft im Bauch, in der Brust treibt einen ja gleich wieder hoch! Ich kommentierte erst das mit der Brust grinsend und meinte dann, daß ich halt vorher die ganze Atemluft herauslasse, doch Alex (neben Elektroniker auch unser Sanitäter) kommentierte, daß ich ein Narr sei, Luft auslassen und so, da kann man ganz leicht absaufen - deswegen sei ein Bleigurt auch sicherer. Alle stimmten ihm zu, nur Alexandra nicht. Wir übten ein ganze Weile, und mit einem Mal hatte sie es kapiert. "Uff", sagte sie keuchend, als wir wieder oben ankamen, "da muß ich ja kräftig hinaufschwimmen, und wenn mich die Kräfte verlassen, dann zieht es mich hinunter!" Ja, so ist das eben mit dem Freitauchen.
Nach dem Frühstück beeilten wir uns, das Schiff klar zu bekommen und folgten der Karawane der Ausflugsboote, erreichten nach einer halben Stunde jene Bucht, die in jedem Tauchführer als das Paradies der Taucher bezeichnet wird (Ras Umm Sid). Wir kamen als letzte in der Bucht an, aufgeregt standen wir am Vordeck, beobachteten die Ausflugsboote, die dort langsam im Kreis fuhren und die Taucher zu Wasser ließen. Der große Nikolaus, der jetzt am Steuer stand (!), denn immerhin, er "war schon ein paarmal hier in der Nähe Tauchen", fuhr forsch in die Mitte des Kreises, denn da sah man einen Felsen im Wasser.
"Haut's den Anker drauf!" befahl er, Alex und ich beeilten uns ahnungslos.
Plötzlich schreit einer von einem der Tauchschiffe herüber, ob wir denn von allen guten Geistern verlassen seien, mitten auf dem "Dom" zu ankern?! Trollt Euch, Scheißtouristen! (oder so ähnlich). Der "Dom", das sei hier angemerkt, ist ein etwa 15 Meter hoher Unterwasserstalaktit, einzigartig auf der Welt und allen Tauchern heilig. Manche nennen ihn "Tempel" und daß er eine Koralle sei, aber ich kenne doch Tante Amalies Korallenhalskette, die schaut aber ganz anders aus!
Per übernimmt das Steuer und fährt das Schiff außerhalb des Kreises. Alex schnorchelt voraus und winkt, da drüben, da sei guter Ankergrund. Wir verankern das Schiff und gehen tauchen. Da nicht genügend Geräte an Bord sind, teilen wir uns in zwei Gruppen: die Nikoläuse und Kerstin mit Flaschen, wir anderen tauchen frei.
Für mich ist das alles neu: der Dom, der wie eine riesige Kerze aus dem schwarzen Nichts heraufragt; die vielen bunten Fischschwärme, die bis auf Zentimeter herankommen; die kleinen frechen Zebragestreiften, die an unserer Haut und am Neoprenanzug knabbern. Zum ersten Mal sehe ich Barrakudas, zum ersten Mal fotografiere ich Drachenköpfe (Lion Fish). Leider sind die Bilder nur mäßig, da der Blitz in 10 Meter Tiefe nicht weit genug reicht. Wenn ich die Dias im Bekanntenkreis vorführe, dann muß ich erklären, warum alles so schmutziggrün ist und warum der (an sich feuerrote, giftige Drachenkopf) in sattem dunkelbraun mit weißen Federn erscheint. Nur sehr, sehr guten Freunden gestehe ich kleinlaut, daß ich mich einfach nicht näher hingetraut habe.
Matz, unser blinder Fliegerlotse, hat keinen Neoprenanzug dabei und friert gotteserbärmlich. Wir lassen ihn als Wache an Bord zurück und folgen den Nikoläusen zum steilen Abgrund, wo es an der Riffkante senkrecht ins schwarze Nichts hinuntergeht. Sie tauchen ab und bemerken in ihrer Unkameradschaftlichkeit nicht die Handzeichen Kerstins, der die Tiefe offenbar Angst macht und die oben bei uns zurückbleibt. Alex jagt einen Barrakudaschwarm, wir schwimmen schnell zu ihm und fragen, ob er nicht ganz dicht sei? Er grinst und meint, die tun einem eh nix, aber er läßt es dann doch bleiben. Alexandra und ich blicken uns an: wir sind schon mit einer verdammten Arschpartie unterwegs, meine Herren!
Per, Helga, Alexandra und ich bleiben zusammen, schwimmen in diesem wunderschönen Unterwasserland umher und bestaunen stundenlang diesen phantastischen Garten. Ich knipse und knipse, bis der Film zu Ende ist, bitte Helga, mal dieses und jenes zu fotografieren, denn es ist wie im Garten Eden. Die Sonne geht langsam unter, das Licht wird matt und die Raubfische erwachen. Nun ist es Alex, der vom Barrakudaschwarm gejagt wird und in einem rekordverdächtigen Kraulfinish das Schiff erreicht. Langsam finden sich alle an Bord ein und wir tuckern zum Hafen zurück. Der schönste Tauchgang meines Lebens (bisher).
Den kleinen Nikolaus bewundere ich heute noch. Mit wenig Geld und viel Arbeitseifer managt er die PAPAGENO im Alleingang, denn sein Kompagnon ist von allen guten Geistern verlassen und mehr lästig als hilfreich. Das Schiff hält er ausgezeichnet in Schuß und macht alles selbst, was möglich ist. Ich bin kein Gutachter, aber so weit ich es beurteilen kann, ist das Schiff tipptopp beieinander. Die defekte Elektronik betrifft ja nur überflüssigen Luxus und beeinträchtigt nicht die Seetauglichkeit.
Der Bakschisch-Kanal hat an seinen Finanzen gezehrt, meine Herren! Trotzdem verkündet der kleine Nikolaus, daß er uns heute, unserem letzten gemeinsamen Abend, zum Captain's Dinner in Sharm el Sheik einladen möchte. Wir werfen uns in Schale und tuckern quer über das Hafenbecken, das von der Kasernenmauer umgeben ist, gehen wieder einmal durch die "Paßkontrolle" und traben über einen kleinen Hügel zur Stadt. Dort - wir hätten es nicht geglaubt - finden wir kein Restaurant. Abgesehen vielleicht von den grausigen Hotels, wo bereits die Vorspeisen mehr kosten als ein Menü in Kairo. Diese Preismaximierung geht uns allen gegen den Strich, wir lassen die gierig händereibenden Speisesaalmanager stehen und gehen wieder in die Stadt. Nach langer Wanderung setzen wir uns in ein Straßenkaffee und trinken erst einmal, bevor wir weiterwandern.
Wozu weiterwandern, fragt uns der Kaffeehausbesitzer, bei mir gibt es heute Abend Hühnchen mit Reis, hinten im Gartenlokal. Dann senkt er die Stimme, damit Allah es nicht hört, und raunt leise: I have Beer and Wine, too. Wir sehen uns an, dann folgen wir ihm in den Garten, wo es absolut mit einem Wiener Heurigenlokal vergleichbar zugeht, davon abgesehen, daß die Trinker hier dunkelhäutiger sind. Der Platz ist eng, aber wir genießen das Menü, das zwar furchtbar fett und scharf ist, aber weitaus schmackhafter als die Spaghetti Bolognese und Spaghetti Papageno (und umgekehrt), die wir vom Schiff gewohnt waren. Hier hinten im Garten, wo Allah es nicht sehen kann, wird offen Wein (in Mengen) und Bier (in Dosen) serviert. Nach dem Essen versuche ich mit unseren Tischnachbarn, zwei dunklen Arabern, ins Gespräch zu kommen, aber es ist sehr schwierig, sehr schwierig. Sie winken, ich solle mich zu ihnen setzen.
Die Crew johlt, als Per lässig einwirft, jetzt traut er sich nicht, der Mister Security. Mehr brauche ich nicht, nicke kurz in die Runde und setze mich zu den zwei finsteren Gesellen. Unsere Unterhaltung kommt langsam in Schwung, ich langsam Englisch, sie langsam Arabisch-Englisch. Ich drei Kinder, und nein, keine Frau. Sie sind verwundert; jeder hat eine Frau oder mehr. Jaja, aber ich eben nicht, Freundin schon, aber nix Ring. Aha, nicken sie verständnislos, was nix Ring, das ist doch ein Ring? Jaja, sage ich, ein Siegelring, ein Schmuckring. Nix Ring für Frau. Aha.
Die beiden arbeiten in Kairo im Straßenbau, das kapiere ich schnell, sie kommen von der Insel Tiran. Die gehört eigentlich schon den Saudis, und sie sind auch Saudis, aber das sei hier nicht so genau. Um Mitternacht würden sie mit dem Bus quer über den Sinai nach Kairo fahren, morgen Mittag wären sie dort. Ich frage, ob ich sie auf ein Bier einladen darf - Kopfschütteln, Bier, um Allahs Willen, nein! Ich mildere ab auf Pfefferminztee: ja, gerne, das ist sehr freundlich. Beim bestellen deutet der eine auf meine Zigarette - nein, als ich ihm eine anbiete, macht er Handzeichen, daß er eine Wasserpfeife meint. Also, dann noch einen Tschibuk für den dunklen Gast, Herr Ober, und reichlich Tütün (Tabak) für drei. Karl May sei's gedankt.
Diese Tee-Einladung verändert die ganze Konversation. Plötzlich sind die arabischen Bauarbeiter nicht mehr so finster, lachen und schlürfen den heißen Tee. Fragen nach meiner Arbeit und den Gebräuchen in Österreich und langsam merke ich, daß ihr Bemühen, Austria richtig auszusprechen, langsam aber sicher zu einem Asturia wird und wir uns plötzlich beim Stierkampf in Barcelona wiederfinden. Nein, meine Herren, Österreich, nicht Spanien! Kein Stierkampf - außer vielleicht beim Opernball - und kein Fandango, sondern Schnadahüpfler! - Schna- Schanada - what!?
Die Wasserpfeife wird herumgereicht (die Pfeife selbst nicht, nur der Schlauch), das Metallmundstück wische ich vorsichtshalber mit der flachen Hand ab, Hygiene und so, aber sie quittieren meine Ängstlichkeit mit breitem Lächeln. Offenbar hat der habgierige Ober nicht genug Tabak gegeben (Tabak wird in kleine, kegelförmige Papiersäckchen gerollt und in den Tonkopf, in dem die glühenden Kohlestücke sind, gesteckt). Einer holt seinen eigenen Tabakbeutel heraus und gibt ein wenig obendrauf. Sofort verbreitet sich ein angenehmer, süßer Duft; wir ziehen und paffen den köstlichen Tabak, lachen und scherzen und versuchen, Wien wieder von Spanien nach Österreich zu bringen. Ich könnte zwar erzählen, daß das zur Zeit Karls des Fünften genau umgekehrt war, aber da reicht mein Arabisch-Gestikulieren vermutlich nicht...
Ich hatte inzwischen sicher schon die dritte oder vierte Runde Tee und Tabak spendiert, hatte der Dunkle brav seinen eigenen Tabak beigemischt, da kommt Alexandra herbeigeschlendert und setzt sich auf meinen Schoß, (natürlich nur, weil kein Stuhl frei war). Sie schnuppert und flüstert dann in mein Ohr: "Schatz, däsch isch doch Hasch!" und schaut mich groß an, weiß sie doch, daß ich derlei konsequent verabscheue. Die Worte habe ich noch im Ohr, aber damals drangen sie nicht bis in mein Bewußtsein, denn ich war so total gut drauf und sah alles durch einen süßen Nebel, alle waren so lieb und ich fühlte mich herrlich. Freundlich erkläre ich ihr, daß ich doch nur mit den beiden Gentlemen Tee trinke und Wasserpfeife rauche. Alexandra trollt sich wieder, unverständlicherweise schmollend.
Jedes Captain's Dinner hat sein Ende, so auch dieses. Wir gehen in die laue Vollmondnacht hinaus und ich wundere mich, wie weich und federnd die Sohlen meiner uralten Seglerschuhe sind. Ich tänzle und hüpfe vor den anderen, bergauf Richtung Kaserne, höre noch die Kommentare hinter mir, daß er jetzt wohl völlig hinüber sei und blicke mich um, wer denn mit "er" gemeint sein könne. Aber da ist außer mir keiner. Wir schlendern also heimwärts - ich tänzle mit meinen neuen Schuhen - , da erreichen wir das Kasernentor, vor dem drei Wachen stehen; zwei mit Kalaschnikows, einer ohne, denn das ist der Kommandante. Wir haben sicher schon zehnmal in diesen zwei Tagen unsere Pässe und das Hafenpapier für die PAPAGENO hergezeigt, aber jedesmal wollten sie sie unerbittlich aufs Neue sehen - Vurschrift ist Vurschrift!
Wie ich so im Veitstanz vor der Gruppe dahertänzele, sieht das offenbar bedenklich aus, denn die Milizionäre rücken eng zusammen und halten sich krampfhaft an ihren Schießprügeln fest: Achtung, ein Narr! Noch heute ist mir schleierhaft, aus welchem Eck meines unterdrückten Unterbewußtseins diese homophile Regung kam, jedenfalls umarmte ich überfallsartig den Kommandante und drückte ihm einen lauten Schmatz auf die unrasierte Wange. "Ich bin's, der liebe István!" ergänze ich überflüssigerweise. Erschrocken reißt er seine Augen auf wie ein Kalb im Schlachthof, dann deutet er unwirsch, wir sollten nun aber schauen, daß wir schnell durch das Tor kämen, aber dalli! Erfreut, daß es keine langweilige Paßkontrolle gibt, laufen wir lachend in den Hafen hinunter.
Die anderen brüllen immer noch vor Lachen, nur Alexandra schwört, mich nie nie nie mehr zu küssen, so ein Grausiger sei ich! Die anderen ziehen mich nun auf, daß ich so high sei, ich könnte mal zu den Italienern (ergänze: Kriegsschiff) fliegen und fragen, ob sie was gegen unseren Durst hätten. Ich ließ mich dann auch nicht mehr zurückhalten, als die anderen meine besoffene Entschlossenheit merkten und mit "war nur ein Scherz!" das Ganze abschwächen wollten; wie oft hat man uns gesagt, daß wir niemals zu den Kriegsschiffen dürften!
Nur langsam folgen die anderen, als ich in tänzelndem Schritt auf die Italiener zugehe. Vor der Passarella, dem Steg, der aufs Schiff führt, sitzt ein Korporal an einem Tisch und sieht mir gelassen entgegen. Heute ist es mir klar, denn ich werde wohl nicht der erste Bedröhnte gewesen sein, den er in seinen langen Dienstjahren gesehen haben muß, aber damals fiel mir doch auf, daß er völlig cool blieb, obwohl alle anderen bei meinem Anblick wieherten oder ausflippten. Schon von weitem begrüße ich ihn mit meinem verrosteten Schulitalienisch und bitte, nicht zu schießen - wir seien die müden und durstigen Segler von dem Trimaran da draußen und wollten nur fragen, ob wir einen Schluck Chianti oder sonst was Anständiges bekämen. Frechheit siegt, dachte ich.
In schnarrendem Englisch belehrte er mich, daß "die Italiener" die da hinten wären, er sei "die Spanier". Aber wenn ich wolle, ein Bier können wir schon haben; andere Getränke gäbe es nicht, weil der Hafenmeister horrendes Geld dafür wolle. Blitzartig stöbere ich im haschvernebelten Seetang, der mein Hirn ausfüllt und versuche mich in spanischen Brocken verständlich zu machen. Als ich ihm einen solchen zuwerfe, der Hafenmeister sei vermutlich ein Ladron (Dieb), da wird er zugänglich und grinst breit; na, dann kommt's mal mit!
Helga flüstert: "István, du bist der Größte", während wir an der Passarella warten, bis der Offizier mit zwei Kartons kaltem, schön kaltem Bier zurückkommt. Während wir unsere Dosen trinken, erzählen die anderen ihm in groben Zügen, wie unsere Fahrt verlaufen ist. Als Nikolaus mahnt, daß wir zum Schiff müssen, gibt uns der Spanier einen vollen Karton Bier "für später" mit.
Überflüssig zu erwähnen, daß ich nach der Ruderpartie zu unserem Schiff zurück klatschnaß war, überflüssig auch, zu erwähnen, daß das Bier den Morgen nicht erlebte, überflüssig aber auch zu erwähnen, daß irgendwann die nassen Klamotten ausgezogen werden mußten und daß Alexandra und ich auf dem Kabinendach Sirtaki tanzten - bei Vollmond, nackt und wunderschön! (Sirtaki, weil das die einzige noch spielbare Kassette an Bord war).
Die beiden Nikoläuse haben sich bald darauf getrennt - der große Nikolaus und Kerstin legten ihre Ersparnisse zusammen und kauften die SYMPAT, einen Trimaran, mit dem sie heute noch Charter fahren. Alex ging von Sharm (in mehreren Tagen) zu Fuß auf den Sinai zum Katharina-Kloster und mußte seine blutenden Sohlen anschließend in Kairo spitalsbehandeln lassen. Matz fuhr noch eine Zeitlang mit dem kleinen Nikolaus auf der PAPAGENO in Hurghada die Touristen spazieren, Alexandra fuhr nach Brasilien, Helga, Per und ich nach Wien.
Wir fahren heute noch manchmal gemeinsam zur See.
Vermutlich habe ich noch gar nicht erwähnt, daß ich den größten Teil meines Berufslebens in der Datenverarbeitung verbracht habe. Computer und so, you know. Natürlich kann man das eine Zeit lang machen, ohne gänzlich weltfremd oder eigen zu werden. Allerdings sollte man nicht darauf vergessen, auch noch etwas anderes zu machen, zumindest hobbymäßig. Mir fiel da nichts Besseres ein, als mich in dem Computer-Verein, dem ich beigetreten war, hochzudienen und eines Tages Chefredakteur der Vereinszeitung zu werden.
Na ja, ganz so schlimm war es eigentlich auch wieder nicht.
Vereinszeitung gab es nämlich noch gar keine; man verschickte zwei-dreimal im Jahr ein doppelseitiges, hektographiertes Blatt, in dem die wichtigsten Ereignisse des abgelaufenen Jahres und anstehende Termine etc. aufgezählt waren. Dann hatte der amtierende Präsident die Idee, mich um einen kleinen Beitrag für das nächste Blatt zu bitten, was ich dann auch tat. Leider schaffte ich es nicht unter 12 Seiten. Nun war guter Rat teuer, aber dem guten Mann konnte geholfen werden: so entstand die Zeitung.
Vielleicht dachte der Präsident damals noch, ich würde tolle Programmier-Tricks oder meisterhafte Codierungsbeispiele veröffentlichen, vermutlich hoffte er, ich würde damit 8 bis 10 Seiten zusammenbringen.
Bald wußte er es besser.
Monat für Monat füllte ich ab jetzt die Seiten, manchmal nur 48, üblicherweise jedoch volle 64 Seiten. Unter anderem hatte ich mir ja ausbedungen, daß ich meiner Feder freien Lauf lassen könne. Egal, ob es sich um die Ankündigung eines Kongresses ging oder um Vorträge mit Kapazundern von IBM, ich wickelte das alles fein säuberlich in kleine, lesbare Geschichten ein und meinte, daß man den Lesern auf diese Art die trockenen Fakten besser und humorvoller verabreichen könne. Meinem Hund wickle ich die Tabletten ja auch immer in ein Blatt Extrawurst ein, claro? Sie brauchen also nicht zu befürchten, daß Sie in den folgenden Geschichten irgendwo an unverständlichem Technik-Gebrabbel scheitern werden; es reicht völlig, wenn Sie wissen, daß es Computer gibt, daß es einen Computerhersteller namens IBM gibt und daß ebendiese IBM einen der weltbesten Computer erzeugte, die sagenhafte AS/400.
Der Rest ergibt sich logisch; ein Verein von Computerfreaks, die sich in irgendwelchen Großstädten zu Kongressen oder sonstigen Vorträgen treffen; ein Chefredakteur, der ihnen den Mund erst wäßrig machen muß, damit überhaupt irgendwer zu den Kongressen und Treffen kommt und ein Präsident, der nächtelang über den unbezahlten Druckereirechnungen für die Zeitung, die der schreibwütige Chefredakteur produziert, brütet...
Das heiße Thema des Jahres 1996 war natürlich das Jahr 2000, die weltweit zur größten Computerumstellung führen sollte. Tausende Redaktionen weltweit schrieben sich die Finger wund, denn allgemein wurde ein Desaster, ja vielleicht sogar ein Chaos befürchtet.
Nicht so in unserer kleinen Einmann-Redaktion. Wir (genauer gesagt, ich) hatten ja rechtzeitig vorgesorgt und hatten gar kein Jahr-2000-Problem. Trotzdem mußte die Redaktion auf die allgemeine Problematik und Nervosität eingehen und brachte einen einfachen, heiteren Artikel zum Thema Zwotausend sowie den bevorstehenden Kongreß; doch leider hatte sich der Herr Redakteur auf Seite 3 vertippt, was nicht ohne Folgen blieb. Ersteres (der heitere Artikel natürlich, nicht der Kongreß) brachte mir einen mehrseitigen, lobenden Leserbrief ein, dessen Anerkennung in einem schmeichelhaften Vergleich mit den Werken des berühmten israelischen Humoristen Ephraim Kishon gipfelte.
Die Freude über diesen und der Ärger über die vielen Reklamationen betreffend den dummen Tippfehler, der mein allzu lasches Recherchieren dermaßen schamlos preisgegeben hatte, verwirbelten sich zunächst reichlich mit Cognac, dann verwirbelte sich mein Name zu einem Pseudonym; und all diese Verwirbelungen führten danach zu folgender schwermütiger Betrachtung (und weiteren Cognacs, of course).
Möge mir E.K. verzeihen!
Ornella Muti, die mir sehnsüchtig ihre Arme entgegenstreckt, zerplatzt in tausend Stücke, als die elende Gurke zu zirpen beginnt. Ich tappe im Dunkeln hastig nach dem Gerät (die Gurke, wie Sie sicher gemerkt haben, ist mein Handy) und versuche gleichzeitig, die Leuchtziffern auf meiner Armbanduhr zu entziffern: ½ 3! Welcher Idiot ...
"Ja, bitte?" flüstere ich und schiele besorgt Richtung andere Betthälfte, wo Ornellas Vorgängerin kurz unruhig wird, dann aber weiterschläft. "Hier ist Ephraim K., der berühmte Humorist" knarrt die Stimme am anderen Ende der Leitung, "ich möchte den Chefredakteur sprechen!"
Der kalte Schweiß bricht mir augenblicklich aus. Taxi Flughafen Schwechat Flugzeug Tel Aviv Hotelzimmer drei Koffer. Wie zum Henker...?
"Der Herr Chefredakteur und meine Frau haben sich bereits privatim zurückgezogen, da kann ich unmöglich stören, Exzellenz" sage ich heiser und setze sicherheitshalber hinzu: "Ich bin nur der Erste Sekretär. Aber wie kommen Sie darauf, daß wir heute überhaupt in Israel sind?"
Ich sehe vor meinem geistigen Auge Ephraim K., den berühmten Humorologen, verschmitzt lächeln: "Ich habe da so meine Verbindungen. Nein, im Ernst: mein Freund Jossele hat ihn samt Frau und Kofferkuli heute Abend am Flughafen Tel Aviv gesehen".
"Das war der AUA-Kabinensteward," entgegnet der Kofferkuli, "der meine Beste und uns zum Hotel begleitete; wir sind hier wegen des Annual Meetings, das im Juni in Jerusalem stattfinden wird."
"Weiß ich, weiß ich! Also was ist, kann ich jetzt den sogenannten Chefredakteur sprechen?"
"Leider nein, Euer Gnaden, ich kann jetzt wirklich nicht stören". Eine wohlig-warme Welle der Macht durchflutet mich, die geknechtete Kreatur. "Aber ich könnte natürlich etwas ausrichten", füge ich vage, in einem Anfall von Großmut und Bauernschlauheit, hinzu. Der Köder wirkt — zumindest bei Wiener Lokalpolitikern — immer.
"Also gut, notieren Sie" knurrt Ephraim K., der berühmte Humoriker, und ich nestle am Fußboden nach der Zigarettenpackung, zwischen Socken, Bierdosen und Resten der Jerusalem Post. "Im letzten Heft hat sich der große Meister gewaltig vertan; die Sache mit den Schaltjahren hat er anscheinend nicht nur nicht kapiert, sondern auch noch irreführende Angaben auf Seite 3 veröffentlicht. Wenn das keine Blamage ist! Also, ich will ihm — sozusagen von Kollege zu Kollege — ein wenig unter die Arme greifen; obwohl er anscheinend noch nie etwas von mir, dem größten Humoranten, gehört haben will" setzt ER etwas pikiert hinzu.
"Hören Sie mir überhaupt zu?" fragt er und ich beeile mich, "Hmm-Hmm" ins Telefon zu brummen, während meine Augen gierig herumirrend nach dem vermaledeiten Feuerzeug suchen.
"Nur zu, Eminenz, ich habe mir nur schnell meinen Notizblock geholt" lüge ich fröhlich und mache selig einen tiefen, ersten Zug.
"Also, Sie brauchen sich nicht, wie in Ihrem Blättchen erwähnt, jetzt schon für 8 Jahre vom 29. Februar zu verabschieden. Das Jahr 2000 ist nämlich ein Schaltjahr!" Ich will vorlaut sagen, daß er der elfte Anrufer in dieser peinlichen Sache ist, aber dann halte ich rechtzeitig meinen Mund. "Vielleicht sollten Sie einige Aufklärungsarbeit zum Schaltjahr leisten" sagt Ephraim K., der bekannteste Humoristiker zwischen Elbe und Euphrat, gönnerhaft.
"Den >Papst Julian< müssen Sie als erstes verschwinden lassen, dieser Ausrutscher ist einfach zu peinlich. Es gab da einen Papst Julian etwa um 300 herum, und dann wieder einen um 1700, also vergessen Sie´s. Sagen Sie Ihren Leuten, daß der Begriff "julianischer Kalender" nach Julius Cäsar benannt ist und es der große Cajus Julius Cäsar (100-44 v. Chr.) war, der 46 v. Chr., siegreich vom Feldzug zurückgekehrt, in Rom einen elendig ungenauen, von den Persern geklauten Militärkalender vorfand und sich ärgerte, daß sein Sieg, den er vor sechs Wochen erfochten hatte, eigentlich erst in drei Tagen stattfinden würde. Wütend legte er fest, daß dieses Jahr (46 BC, notabene) 455 Tage und damit 15 Monate währen solle. Dann schmetterte er den Vorhang in die Türfüllung und ließ sich nach Ägypten galeerrudern. - Haben Sie das?" "Natürlich, das sind ja wahrlich interessante News", heuchle ich, gähne und beobachte interessiert den Minikäfer, der auf sechs Beinchen über das Bettlaken strampelt.
"Also, der Julius hat in Ägypten nicht nur der Cleopatra hofiert, sondern sich auch in den pharaonischen Archiven herumgetrieben (man braucht ja zwischendurch Pausen, haha). Da fand er doch tatsächlich das Dekret des Pharao Ptolemäus III. aus dem Jahre 238 v. Chr., in welchem der begnadete Astronom Canopus das tropische Sonnenjahr mit 365,2422 Tagen und den synodischen Mondmonat mit 29,5306 Tagen errechnete und daraus messerscharf folgerte, daß auf je drei Jahre mit 365 Tagen eines mit 366 Tagen folgen müsse. Cajus J. C. freute sich über diese Entdeckung und lief gleich zu Cleopatra, der Schönen, und baldowerte mit ihr seinen neuen römischen Kalender aus: 11 Monate mit 30 bzw. 31 Tagen, ein 12. Monat Februar mit 28, in jedem vierten Jahr mit 29 Tagen, sowie ein aufgeweckter Knabe namens Cäsarion waren das Ergebnis dieser fruchtbaren Zusammenarbeit, hahaha." Ich weiß nicht, wieso er zwischendurch immer so lacht, aber ältere Mitbürger und -innen finden manches ach so lustig.
"Aber war dieser Kalender auch genau genug?" werfe ich ein, Interesse heuchelnd, während ich in der hebräischen Gideon-Bibel, die ich im Nachtkästchen des Hotelzimmers gefunden hatte, frustriert herumblättere, um wenigstens herauszufinden, wo eigentlich vorne und wo hinten ist. Außerdem ist mir das ganze Kalendergewäsch zuwider: als ob der römisch-christliche Kalender der einzige wäre! Da gibt's noch den jüdischen, islamischen und wasweißich-Kalender, wieso kümmert er sich nicht um die auch?
"Junger Mann," doziert die humorige Größe weiter, "Sie haben ja keine Ahnung, was Julius in Rom hinterlassen hatte. Nein, es war nicht nur das unselige 46er Jahr mit seinen 455 Tagen. Die Römer hatten ja schon viele Jahre zuvor den persischen Kriegskalender umgewürgt; das Jahr endete am 24. Februar mit dem Fest des Gottes Terminus (zwar mit "Bahnhof" nicht verwandt, aber der Anlaßgeber für unsere Sylvesterknallerei) und begann noch vernünftig-persisch am 1. März, wurde aber mit unterschiedlich langen Sonnen- und Mondmonaten fortgesetzt und endete in einem Februar mit 22 oder 23 Tagen. Die Monate selbst hatten drei Fixpunkte, den 1. Tag (Kalenden), die Nonen (5. oder 7. Tag) und die Iden (am 13. oder 15. Tag). Die anderen Tage wurden in Bezug auf den nächsten Fixpunkt angegeben (der 11. war "zwei Tage vor den Iden"). Dabei haben die Römer natürlich auch so etwas wie einen Kurzschaltmonat erfunden (der Mercedonius begann nach dem 23. Februar), um die Ungenauigkeiten auszugleichen. Diese Schalttage zwischen dem 24. Februar und dem 1. März (lateinisch "bis sextum ante calendas martias") finden sich noch heute im Französischen (année bissextile) und im Italienischen (anno bisestile) für das Schaltjahr. Außerdem verlegten die Römer nach Cäsers Ermordung den Jahresbeginn anno 43 v. Chr. auf den 1. Jänner, den Amtsantrittstag der Konsuln, (so hießen die Wiener Lokalpolitiker im alten Rom), wo er bis heute ist. Trotzdem hatte selbst dieser geniale julianische Kalender einen Haken, der erst anderthalb Jahrtausende später berichtigt werden sollte: das Jahresmittel war um 12 Minuten, genauer gesagt 11 Minuten und 12 Sekunden, zu lang." Ephraim K., der berühmte Humorolytiker, macht erschöpft eine kurze Pause, die es mir ermöglicht, den vom Bett gefallenen Minihebräer wieder behutsam aufs Bettlaken zu legen, damit er weiter auf den vergilbten Schriftzügen HOLIDAY INN JERUSALEM herumirren kann.
"Jetzt kommts!" ereifert sich der Meister des Humors, "notieren Sie das gefälligst wörtlich! Im Jahr 1582 hat es Papst Gregor XIII. (der Dreizehnte, setzt E. K. belehrend hinzu), endgültig satt, das Mittagessen bereits um halb zehn vormittags serviert zu bekommen, das Angelusläuten statt um fünf schon um viertel vor drei zu hören, ja, schlimmer noch: Zinsen für 11 Minuten und 12 Sekunden bei der Banco di Roma jährlich extra zu zahlen. Also, während er eines Tages zufällig und ganz ohne Hintergedanken den pausbäckigen, blondgelockten römischen Ministrantenbuben beim Sackhüpfen in der sixtinischen Kapelle und Maestro Michelangelo beim Freskenmalen zusah, kam ihm die plötzliche Erleuchtung: eine rasch in den jahrhundertealten Staub gekritzelte Division zeigte die Richtigkeit des päpstlichen Geistesblitzes: man brauchte nur jede vierte der alle 100 Jahre stattfindenden Säkularjahre (die Jahrhundertwechsel) ebenfalls zu Schaltjahren zu machen, und schon hatte man ca. 12 Minuten (auch an Zinsen) gespart bzw. eingeholt. So wurden die Regeln sofort, also 1582, verfeinert: Jedes vierte Jahr eines Jahrhunderts ist ein Schaltjahr, nicht jedoch die Säkularjahre (die mit 00 am Ende, Sie Kulturferkel), außer, diese sei glattweg durch 400 teilbar. So wurde 1600 ein Schaltjahr (mit den Zinsen finanzierte Gregor XIII. einen kleinen Wochenendfeldzug, um den Pisanern eins aufs Haupt zu geben), und 2000 wird auch eines."
"Dann ist ja alles in Butter," sage ich, drehe den kleinen zappelnden Ministrampler auf den Rücken und versuche ihn mit Zigarettenrauch zu anästhesieren, "damit haben wir also seit gut 400 Jahren einen tadellosen Kalender ..." doch der wortgewaltige Verfechter des Humorismus unterbricht mich sofort: "Wo denken Sie hin! Nix ist in Butter! Natürlich ist auch das nur Stückwerk, diese Vierhundertjahrregel löst das Problem nicht wirklich, denn schon im Jahr 4300 wird man einen zusätzlichen Schalttag benötigen, um diese päpstliche Korrektur erneut zu korrigieren! Außerdem, was heißt hier, seit 400 Jahren? Ach so, Sie mit Ihrer AS/400-Zahlenspielerei! Nein, in Wahrheit galt diese Kalender regelung ab 1582 nur für das päpstliche Einflußgebiet; der Schweizer Kanton Wallis etwa zog erst 1583 nach, die Japaner 1873, und die Griechen überhaupt erst 1923. Und Ihr Chefredakteur vermutlich erst 2012" ätzt der Humorgrande und lacht kurz und meckernd, als ob das ein Witz wäre.
Wir tratschen dann also noch eine Weile herum, ob der Canopus nur Berater und Astronom oder vielleicht gar ein Bruder des Pharao war, usw. gähn-gähn-gähn, dann lasse ich die Gurke schläfrigen Auges langsam zu Boden gleiten und denke an Ornella, ihre schräggestellten grüngrauen Augen, ihre vollen Lippen, wie sie durch ihre süße kleine Zahnlücke lispelt: "...laß daß Sssßaltjahr Sssßaltjahr sein, ßüßer kleiner Rußty..." und die Stimme des größten Humoristerikers aller Zeiten quäkt weiter aus dem Handy, immer leiser und ferner und leiser....
Rust van Idas,
Erster Redaktionssekretär
statt dieses episch breiten Feuilletonbeitrags hätte ein Vierzeiler genügt:
"Berichtigung: in unserer letzten Ausgabe, Seite 3, hat sich beim Jahr 2000 ein kleiner Fehler eingeschlichen: der julianische Kalender wurde 46 v. Chr. von Julius Cäsar entwickelt. Die Berichtigung der jährlichen Differenz von 12 Minuten erfolgte 1582 durch Papst Gregor XIII: jedes durch 400 teilbare Jahr ist ebenfalls ein Schaltjahr, Punkt."
M.M. G., Redaktionärsgattin
Wieder stand ein Zeitungstermin an, wieder hatte ich nur Geldverdienen, Autoreparaturen und Kind in die Landschulwoche begleiten im Kopf gehabt und keinen einzigen Artikel geschrieben.
Atlanta beherbergt nicht nur Coca-Cola, sondern auch Forschungsstätten der IBM und unseren nächsten Computer Kongreß. Die beste Computer-vereinszeitung, die mich jemals zum Chefredeakteur hatte, lag lasziv ausgestreckt auf der Festplatte und harrte, meine Botschaften freudig zu empfangen. Die Zeit drängte, und ich mußte wirklich schnell etwas unternehmen — in einer Einmannredaktion ist das, was ich beim Kurs über das richtige Delegieren gelernt hatte, nur schwer umsetzbar — ich weiß auch nicht, warum. — Trotzdem gibt sich ein richtiger Vollblutredakteur nicht geschlagen und hilft sich mit Hilfe des Internets, die Seiten zu füllen.
In diesem Beitrag ist nicht alles wahr — mit der einen Ausnahme vielleicht, daß meine Computerzeitung vermutlich die Beste war, die Sie jemals gelesen haben. — Manches ist richtiggehend frei erfunden, Markenbezeichnungen sind durcheinandergeraten, Hersteller ebenso — man will sich ja keine Klagen einhandeln. Trotzdem werden Sie einiges bereits oder bald aus eigener Anschauung wiedererkennen. Sie werden doch irgendwann ins Internet gehen, oder etwa nicht? Sie haben doch e-Mail, haben Sie? Sind Sie auch schon "drin"?
Irgendwann muß einmal zur Sprache gebracht werden, daß so mancher altgediente Programmierer Schiffbruch auf diesen neumodischen Data Highways erleiden konnte. Und daß das weniger häufig am altgedienten Programmierer lag, als Sie denken oder man uns glauben machen will.
Der guten Ordnung halber sei angemerkt, daß das alles natürlich "damals, seinerzeit" passiert ist. Heutzutage sind die Internet-Verbindungen ja völlig problemlos und rasend schnell, die Modems und die Leitungen funktionieren einwandfrei und natürlich bringt immer noch der Storch die kleinen Kinder....
Vielleicht haben auch Sie so ein Postkastl wie ich: im Flur beim Hauseingang sind alle Postkastln der Hausbewohner in einer langen Reihe aneinandergereiht. Kommt man heim, nimmt man den Aktenkoffer in die eine Hand, das Handy in den Mund und den Schlüsselbund in die andere Hand. Dann sperrt man das Postkastl auf, klappt das schmale Türchen auf, jawohl, es ist schon wieder viel gekommen, und dann zerrt man die Luder bündelweise aus dem Postkastl. So sie sich zerren lassen.
Manchmal schickt jemand ein dickes Handbuch oder Microsoft seine neueste Preisliste, dann kann das schon ein größeres Packerl sein, und dann zerrt und reißt man so lange an diesem Trumm herum, bis es — mehr oder weniger unbeschädigt — herauskommt. Uff, geschafft, aber beinahe wäre alles in der engen Tür hängengeblieben.
Letzte Woche war es wieder soweit. Man ist natürlich kein Lochkarten-Dinosaurier mehr, und man empfängt natürlich seine Post nicht mehr via Postkastl, man ist ja im e-business! Natürlich poste ich schon die letzten Jahre mehr oder weniger toll über die mail-Einrichtungen des Internet. Ärger gab es schon hie und da, aber alles in allem funktioniert es (wenn es funktioniert, und das öfters eben nicht). Objektiv gesehen, hat sich meine Kommunikationswut eher gesteigert, denn es ist jetzt wirklich ganz leicht, ein paar Zeilen über den Atlantik zu schicken. Früher endete ein solcher Anruf beim Blick auf die Swatch (in Toronto ist's jetzt 3:15, nachts) oder bei den ersten Seiten des Telefonbuchs (die Minute kostet 27,50).
Aber das e-business bringt's! Als Redaktion eines marktbeherrschenden Fachmagazins (Sie halten es in Händen) habe ich zu den meisten Autoren/Redakteuren e-mail-Verbindung, das ist mein e-business. Ja, auch die Leser können mich direkt und ohne bürokratischen Firlefanz (geh'nS, da ghörat no a Siemfünfzik-Stempl markn auffe, göön'S?) über unsere Internet-Homepage oder meine persönliche e-Mail-Adresse erreichen. Vielleicht sollte ich mein erstes Mal in der Rubrik "Mein erstes Mal" (BRAVO hat ja auch eine Rubrik "Mein erstes Mal"!) veröffentlichen:
Meinereiner, telefonverkabelter PC-Pendejo, kann schon mit rund 25 $ mit von der Partie sein. Eine recht zwanglose Identifikation bei IBMNET, Diskette einschieben, INSTALL eintippen. Schnorch schnorch, und völlig überraschend: es installiert sich ohne ominöse MRI-xxxx oder andere Fehlermeldungen! Freude! Rührung! Vaterstolz! Wie wollen Sie heißen, welches ist Ihr nächster IBM-Einwahlknoten (wähle aus drop-down-list die Telefonnummer), Ihre Scheckkartennummer oder wollen Sie abbrechen (früher hieß das: Geld oder Leben), und das war's im Wesentlichen. 30 Tage zur Probe, danach wird´s ein Monatsabo von, wie schon erwähnt, etwa 0,25 Kilo-Schillinge bzw. 25 $ pro Monat. Und das wäre es auch wert, wenn.
Beziehungsweise, wenn nicht.
Freude in der Redaktion. Babysekt und ein Sackerl Erdnüsse werden den Göttern geopfert. Fast alle Personen und Institutionen im Umkreis der Redaktion haben ja inzwischen Internet-Adressen. IBM-er natürlich alle, und wer kein Internet hat, der ist nicht mehr ganz in.
Eitel Wonne & Grießschmarren. Atlanta, ich komme! Tja. Wie sehr auch die Atlanter werben mögen, das CoCoLaLaLight schmeckt mir einfach nicht. Am besten sind noch, wie ich meine, die alten 0,2-l-Fläschchen, die, halb geleert, sich mit White Coruba Rum auffüllen lassen. Das nur so nebenbei, in Wahrheit übertrifft Courvoisier Dreistern beide.
Natürlich kämpfe ich immer noch mit den Tücken dieses Zwergcomputers. Frage mich, wie ungerecht die Welt doch sei, daß Produkte wie Windows-for-Workgroups oder WINDOWS in dieser Qualität einen Mann wie, sagen wir, Bill G., zum reichsten Privatmann der Welt machen; andere, sagen wir, ich, schreiben sich die Finger wund und kaufen dann einen gut eingefahrenen Neuwagen (vierjährig) mit nur 120.000 km Kilometerstand. Seufz! Addio, mondo cane!
Aber — wo war ich stehengeblieben, ach ja, ich wollte was zum Internet sagen. Es braucht natürlich schon eine Weile, bis man sich mit den Werkzeugen anfreundet, so als altgedienter Bildschirm- Voodoo-Künstler mein' ich. Natürlich, so richtig surfen konnte ich bisher noch nicht, mein Netscape kollidiert nämlich mit dem Netscape meines Mitbenützers, der eine universitäre Ausführung zum verbilligten Studententarif und mich zum Vater hat. Es wird Ihnen natürlich sicher genauso wie mir sofort einleuchten, daß Netscape natürlich nicht mit Netscape kompatibel sein kann, klar doch! (Noch Fragen?)
Ich habe ja auch nicht herumzusurfen, ich muß ja arbeiten und Dukaten sch... — ähh, verdienen. Alsdann, ich nehme halt den E-Mail-Part des Internets für mich in Anspruch, die bunten Bildchen von Hugh Hefner schauen wir uns halt mit "seinem" Netscape an. O.K. Wenn Sie sich bisher noch nicht gefragt haben sollten, aus welchen Wortstämmen Netscape wohl zusammengesetzt sein mag (net = Netz, scape = abgek. Escape = Flucht), dann ist das sicher gut so, denn Sie sind ja Computerspezialist, und nicht Etymologe.
Das E-Mail-Programm (EULALIA ist sein Name) ist ganz nach meinem Geschmack. Toll, wie sich hinter dem Begriff "Hilfe" per Mausklick eine (1) Zeile auftut, die grün ist. Dunkel entsinne ich mich, daß in OS/2 grün in den Help-Schirmen "mehr dahinter" (also: Hypertext hinterlegt) bedeutet. Also frohgemut mit dem Patschhändchen (der Pfeil ist längst passé) auf den grünen Text geklickt, und es erscheint ein kostenpflichtiges Anmeldeformular der Firma Qualcommdoch für's EULALIA (ersparen wir uns Details). Freudestrahlend verkündet dieses Anmeldeformular, daß man per E-Mail dann from Zeit to Zeit more E-Mails dieser Company received, man braucht only dieses form in to fillen und per button zu submitten. Thank you for using EULALIA. Hilft mir aber nicht wirklich weiter, ich bräuchte ja jetzt schon Help, um mir meine E-Mails anzulooken.
Nun gut, wozu hat man Freunde. Ein solcher kommt gerade meinen Kühlschrank besuchen und sagt: "Griaßdioidawigetzda." Freudestrahlend berichte ich ihm von meinem EULALIA, mit dem ich allerdings noch nicht viel anfangen kann. Er holt sich noch geschwind ein Kleines aus meinem Kühlschrank, dann setzt er sich breitbeinig vor den PC und fängt an, dies und das anzuklicken. Plötzlich ist ein Namensverzeichnis (NICKNAMES) da, er sagt: "geh, gib mal Eure Adressen her" und tippt einige der Namen samt Internetadressen ein. Dann klickt er wieder hier und dort und rechts oben auch, und dann steht hier "New Mail, No Subject, No Recipient". Mein Englisch reicht gerade noch, um "Neuer Brief, kein Betreff, kein Empfänger" zu vermuten, dann legt er los und schreibt an die zufällig oberste Adresse "Tscharli. servas ooida hab grad beim Ischwan eulalia zum laufn brocht der hirsch weiß ned amoi wo er was ei-tippn soi. Pfiatdi, xandl" und bevor ich noch "gicks" sagen kann macht er Affengriff-SEND-Klick und ab geht die Post. (Seither nichts mehr von Tscharli gehört).
Sehen Sie, so leicht geht das. Ich frage ihn, wie das mit Handbuch usw. bei EULALIA sei. Mit breitem Grinsen (erlaube ich nur Freunden vorbehaltlos) quetscht er "nitschewo, nix Handbuch, intuitive Benutzeroberfläche" heraus. Aha! sage ich und verstehe nichts. Irgendwie hat das mit seinen ewigen Autobeispielen zu tun; ach ja, "wer eines fahren kann, kann alle fahren." oder so. Bringt allerdings mindestens drei Monate, wanns di derwischn .... Intuitive Benutzeroberfläche, und ich Esel schreibe 30 Seiten Handbuch für die intuitiven Oberflächen meiner Kunden und -innen. Na ja, das kann ich ja noch verbessern.
Als er vom Kühlschrank wiederkommt, frage ich, was denn nun das schon wieder sei, ich bin komplett verstört. Der "Dämon" schreibt mir einen "Non-Delivery-Report" oder quasi "Nichtablieferungsbericht des bösen Geistes". Ich werde aufgeklärt, daß die von mir eingegebene Adresse "I4atdiaus.abaI@traumi.net. komm" falsch ist. Mühsame Suche, ach ja, kleiner Tippfehler. Dröhnendes Lachen und ein krachender Schlag auf meine linke Schulter; er scheint Monikas Mail-Adresse auch zu kennen. "Brinxtma noa Bia, dann erklär I Dir ollas", und so geschieht's auch. Alsbald (der Morgen graut bereits, scheint mir) kann ich doch eine Message an Freund Alex schicken, einen Word-Text hinter meine Begleitzeilen anhängen (attachment), und es kommt auch an.
Zumindest glaube ich das.
Weit gefehlt. Nach anderthalb Stunden meldet mir ein anderer DAEMON, daß jenes Schreiben nicht umgesetzt werden konnte. Nach Entzifferung des englischen Kürzelsalats, das am Anfang eines jeden Mails steht (wenn man so will, weiß ich), stellt sich heraus, daß der Word-Text vom Empfänger (einer AS/400) nicht umgesetzt werden konnte. Ach ja, Kompatibilität. Schon wieder vergessen, daß man nicht Benzin in einen Diesel füllen sollte (danke für dieses hilfreiche Beispiel, lieber Alex!)
E-Mail, die wunderbare Flaschenpost. Schreibe ich eine Message auf meinem völlig veralteten vorgestrigen Terminal, dann kommt sofort und ohne Zeitverzögerung die Fehlermeldung, falls die User-ID falsch oder der Anwender nicht online sein sollte, usw. Man wird sich umgewöhnen müssen.
Freund Alex kommt noch mal kurz aus der Küche vorbei ("Servas, i geh jetzt. Wäu a soo geht däs näd. Immer wann I kumm, is Dei Küüschrank laaah. I waaß wirkli ned, wos Du unta Freindschaft vastehst. Pfiat."). Ich bin auch verwundert, daß der Kühlschrank schon wieder leer ist.
Inzwischen sind zwei Monate vergangen. Rund 300 Mails lagern in meinem PC, so um die 700MB. Vermutlich werde ich eine neue Platte anschaffen müssen, oder mich von diesem oder jenem Schriftstück trennen müssen. Ausdrucken wäre auch eine Alternative zum papierarmen Büro. Fein, daß alles bereits so gut überlegt worden ist.
Vor einer Woche entdecke ich: jetzt kann ich nur mehr schreiben. Jawohl, lesen kann ich nicht mehr, zu deutsch: meine Post abholen. Da meldet sich ein POP3.CA.US....undsofort, und sagt, es gibt mich nicht mehr! User RUDAS does not exist, please enter your password: ******.
17 mal versuche ich, Post abzuholen (CHECK MAIL). 17 mal nix. Also keine Verbindung, die Post gibt nichts heraus ohne — ja, ohne was eigentlich? Mein password KAKERLAK habe ich ein Dutzendmal eingegeben, immer kam das OK, dann meinte ein gewisser MIME SERVER you do not exist, der Flaschengeist, der traurige! Oder wie beschimpfen Sie den DAEMON einer Flaschenpost?!
Also, beim Terminal, da weiß ich mir zu helfen, rufe den Operator an und sage: das und das tut nicht, mach was, bittschön!
Wird wohl beim Internet nicht anders laufen; sollte mein Paßwort abgelaufen sein oder was Ähnliches, dann soll er mir halt ein neues geben. Halt — wer, zum Teufel, ist eigentlich der Internet-Operator? Und, nur so, weil's mich interessiert, wo ist er? Ich weiß ja nur soviel, daß Internet ein System aus vielen vielen Tausend zusammengeschlossenen Computern ist. Aber welcher ist "das System"?
Jetzt muß ich auch mal zum Kühlschrank (ist wieder aufgefüllt) und mir einen guten Rat holen. Nach dem zweiten oder dritten Rat fällt mir ein, daß im Internet-Dialer links oben so ein lustiges icon einer Rezeptionsglocke ist (you remember: Franco Nero bimmelt an der Theke in "Für eine Handvoll Dollar", bevor er losballert). Inzwischen bin ich verzweifelt genug, um mit egal welchem Rezeptionisten äh Operator zu verhandeln, und sei er Django oder Quasimodo himself. Nichts wie angeklickt (jetzt müßte die Glocke bei ihm läuten) und — ein Formular erscheint. Open a new account, change an existing account .... nein, das war's wohl nicht. Ja, wo isser denn?
Dann entdecke ich ganz unten HELP. Klick, und viel Text kommt mir entgegen. Arbeite mich durch, erfahre viel über die Leute, die bei IBM diese Texte verfassen, auch sie handbüchern lieber, und nach längerem Lesevergnügen (Handbuch sometimes better als Intuition) finde ich die U.S.-Telefonnummern, wo man auch gebührenfrei anrufen kann. Natürlich gilt das wieder mal nicht für mich (diese Erfahrung habe ich schon im Satellitenfernsehen gemacht: die tollen Girls kann man von Österreich aus nicht tollfree anrufen, so gut sich das auch lesen mag). Ach, da ist noch was ... local support. Ha! Nach dem unvermeidlichen Klick erscheint eine dropdownlist (also, es klappt eine Liste in einem Fensterchen heraus) mit den Nummern der weltweiten Country Helpdesks. Yeah! Austria 0660 und irgendwas. Rufe an: da ist keiner außer dem Düütdüüt. Helpdesk light! Ob bei IBM selbst auch nur einer glaubt, daß diese neuen HelpDesks auch nur einen müden Schilling wert sind? So richtig "Valuable"?
Jetzt wird guter Rat teuer, ein Kommerzialrat sozusagen ist angesagt. Der Kühlschrank vermeldet einen Rohrkrepierer, Jennifer borgt mir meinen Schlüssel zum Barschrank, gnädigerweise. A propos Kommerzialrat! Die rettende Idee: ich schreibe einer bekannten Persönlichkeit in der IBM. Gesagt, getan. Ich kenne meine Pappenheimer, er wirds morgen kriegen, dann anrufen usw. Da soll noch einer sagen, daß sich ein Besuch in Istváns Bar nicht lohne!
Am nächsten Tag klärt sich dann alles wunderbar auf (das wird sicher morgen sein, nehme ich jetzt mal an, denn ich kann mit dem Artikel nicht länger zuwarten, bis die HelpDesk sich endlich bequemt), und mein IBMer ist mir dann sicher einen oder zwei gute Rats schuldig. Gern! Doch was trinkt einer, der keinen bei IBM kennt?
Ach so. Was das Internet light in der Überschrift soll, fragt mein Korrektor. Nun, ich bin diese zeitraubenden Querelen inzwischen sehr light. Es ist eine lightvolle Erfahrung, bis man diese Mailsache halbwegs im Griff hat. Und mir tun all jene light, die es noch vor sich haben.
Treffen sich zwei Jäger im Wald (zugegeben, ein sehr kurzer Witz); treffen sich also Friedl und ich im Internet, "ja, hoi, servas, wiegetzda? Kannst mir wieder was für die Zeitung schicken? — Ja, ich maile es Dir, bin gerade in Budapest. — Okay, also bis später dann!". — Eigentlich einfach, dieses e-business, nicht?
Tags darauf, während meiner heiligen Morgenstunde, in der Aufstehzigarette, Kaffee, Duschen, Joghurtmüsli und die geheiligte Postabholzeremonie (in der das "abholze" nur zufällig enthalten ist: aber die automatische Rechtschreibprüfung schlägt hier immer "Abholzen" vor...) eins nach dem andern abgewickelt werden wollen, stutze ich, und zwar derart heftig, daß mir der Tschik knapp an der Kaffeetasse vorbei ins Müsli fällt: Post aus Ungarn! Aha, der Friedl schickt seine Tips und Tricks für die Zeitung!
Kurze, aber wichtige architektonische Abschweifung zwecks Darstellung meiner Intimsphäre: meine Wohnung wird durch einen langen, schmalen Gang in zwei Teile geteilt: das Büro/die Redaktion und der Maschinenraum auf der einen, die Privatgemächer (großer Audienzsaal, Schlafkemenate der Prinzessin, Küche und Vorratsraum sowie die Naßzellen) auf der anderen Seite.
Also, ich wandere in U-Hosen ungeduldig zwischen Büro und Blauem Salon (Fernsehzimmer) hin und her, um das "Ping! You have new Mail!" des mail-Programms abzuwarten, linse zwischen Internet und Eurosport hin und her. Das Ding überträgt und überträgt und überträgt und macht dann endlich Ping! aber nur, um mir lakonisch mitzuteilen: Error 10060 timed out by SMTP-Server.
Ach, das kenn ich schon. Also, schnell noch das Müsli in der Küche neu abgemischt, dann wieder zum PC und frischfröhlich "Check Mail" angeklickt. Mein Mail-Programm hakt sich mächtig in das IBM-Net ein, schlängelt sich an Paris und Oostende vorbei direkt nach Rosslare in Irland und von dort unterm Atlantik nach New York, um sich beim smtp-pop3-Server von ca.us.ibmnet einzuklinken, das flinke Teuferl!
Ich stehe auf, um mein Joghurt-Nuß-Nektarinen-Müsli zu holen, erstarre aber mitten in der Bewegung, die zu einer Standbildpirouette wird: Ping! Error 10060 Timed Out by SMTP Server.
"Schaaatz," flötet es aus der Kemenate, "kannst net mal die Steckdose richten, der Haarfön tut nicht mehr!" Vorsicht ist geboten, wenn in einem Satz ein "net" vorkommt, also, erst mal Zeitgewinn (Doppelklick auf Hang up, dann Do you want really to hang up at this time, Yes + Click) und nichts wie ab ins Schlafgemach. Ein leichter Schlag mit dem Ellenbogen auf die Steckdose, die Steckerenden des Haarföns werden kurz auseinandergebogen (warum die Ingenieure beim Hersteller nicht gleich standardmäßig solche verbogene Stecker für defekte Steckdosen herstellen können!?), und dann surrt sie wieder, meine Zuckermaus, ich aber husche wieder ins Büro hinüber.
Zwei Time-outs bei zwei Müsli, so viel Pech auf einmal hatte ich schon lange nicht mehr! Ich wähle mich nochmals in den Weltenbrand ein (IGNIS, die Abkürzung für IBM Global Network and Information Services, bedeutet auf lateinisch: Feuersbrunst oder Weltenbrand). Versuch zwei und drei schlagen nach jeweils 20 Minuten unerwarteterweise fehl, und meine beste Hälfte verabschiedet sich mit "tut's net, Schaatz? Ach, mach nicht zu lange, Du hast um 9 Uhr einen Termin!", dann entrauscht sie in einer gewaltigen Parfümwolke. Unermüdlich starte ich Versuch 4 und 5, dann ist meine Geduld und die nächste Dreiviertelstunde zu Ende, und ich verfluche innerlich den Absender eines solch time-outenden Konvoluts. Zum Henker, was schreibt er denn da so großmächtig, daß der Server sich andauernd verpingt?
Um dem Ganzen eine besondere Note zu verleihen: ich habe ein mächtiges Kundenproblem zu lösen — jetzt, und zwar rasch, bitte!, scheine die Möglichkeiten der lokalen IBM-Betreuer ausgeschöpft zu haben und erwarte schon seit Tagen eine hilfreiche Antwort vom IBM-Labor aus Übersee. Und starre bei jedem der Versuche auf den Bildschirm, wo zu ersehen ist, daß hinter diesem dicken Ei noch 5 weitere Poststücke auf's Abgeholtwerden warten. Innerlich scharre ich vor Ungeduld mit den Hufen.
Schon am Spätnachmittag verlasse ich voller Unruhe den Kunden und klinke mich wieder ins Mailsystem ein. Ahh, jetzt geht's aber! Gebannt starre ich auf den Bildschirm, beobachte, wie der blaue Balken langsam den Ablauf der Zeit signalisiert. DECODING TIPSUND6.DOC, steht inzwischen dort, denn die ersten 5 Versuche gingen ins Nirwana. Als dann der Zeitbalken so gegen 75% geht, ein kurzes Aufblitzen des Schirms, und der Error 10060 ist wieder da, zum Kuckuck!
Hang up, um die Telefonkosten zu optimieren, und ich gehe ein paar Schritte auf und ab. Eine neue Form der Mahnung? Nein, ich lasse ja bankeinziehen. Ist meine Mail-Software im ...? 'tschuldigung. Nein, sie ist noch nicht mal zwei Jahre alt und kommt damit erst in die Pubertät, oder? Was könnte sonst noch störend wirken? Mein Blick fällt auf das Sicherungsgerät (ZIP-drive). Auf den Joystick. Die Maus. Das Mikrophon. Die Doppellautsprecher. Den Farbflachbettscanner, den Laserdrucker. Natürlich, der arme PC muß ja das alles überwachen, während ich das Postkastl ausräumen will! Also schnell das Werkzeug aus dem Maschinenraum geholt, ein paar Drehs mit dem Akkuschrauber hier, ein paar dort, und der Joystick, der Scanner, das ZIP, die Lautsprecher, das Mikro (ja, das auch, ich kann ja die DOS-Befehle tippen, anstatt sie zu bellen) usw. werden abgehängt, bis das Gerät endlich wieder befreit aufatmen kann. Verschwitzt ziehe ich den Pulli usw. auch aus, ich will ja auch frei atmen. Dann schalte ich den PC wieder ein und lasse das Mail-Programm, nunmehr ohne Zügel und Zaumzeug, frei wie ein Wildpferd auf den POP-Rechner los, nur, um postwendend (und das war kein Wortspiel) wieder den 10060 mit Ping! zu bekommen.
Mein Aufschrei muß dem Todesschrei der Komantschen ähnlich gewesen sein, denn die Bürotür wird heftig aufgerissen: "Schaaatz, was machst Du denn da, nackend vor dem Bildschirm?!" Ich bedecke mich notdürftig mit einer 8''Diskette (eine 3 ½''Diskette hätte es auch getan, Anm. d. Red.) und erwidere: "die Post geht nicht mehr!" Sie, nunmehr neugierig geworden, schleicht mit verdächtig glänzenden Augen näher und fragt: "Ach, und wo sind denn nun die bunten Bildchen, Schaaatz?". Die nun folgende Stunde blende ich mal aus.
(später:) Ich sitze vor dem abgestrippten PC, höre Ravels Bolero und grüble. Time Out Error — irgendwo geht irgendwem die Zeit (welche Zeit?) aus. Ich sehe das Postkastl vor mir. Über SMTP (Simple Mail Transaction Protocol) langen die Nachrichten beim Server ein, werden schön brav eine nach der anderen gereiht, um dann später mittels POP3 (Post Office Protocol 3) abgeholt zu werden. Und da liegt nun als erstes ein dickes Packerl. Der POP3 kommt daher, nimmt seinen Aktenkoffer in die eine Hand, das Handy in den Mund und schließt mit dem Schlüssel in der andern Hand das Postkastl auf, und kriegt dann das dicke Packerl nicht und nicht durch die Tür. Vielleicht kommt dann ein Nachbar (sagen wir, der alte POP2, zum Beispiel), und will auch zu seinem Postkastl, aber da steht der POP3 breitbeinig vor meinem Postkastl und will das dicke Packerl vom Friedl herauszerren, aber es geht weder vor noch rückwärts — da haut der alte POP2 dem POP3 eine über und keift: "Ich will auch! Will auch! Will auch!" und schmeißt ihn mit einem Error 10060 Timed out raus.
Ja, so muß es sein. Rasch noch ein Jaki (russischer Kosename für Cognac) eingeschenkt, dann den Bildschirm fixiert, tief Luft geholt, und der nächste Versuch endet wieder — erwartetermaßen — mit einem Ping! Was würde mir jetzt Mr. Spock wohl raten?
"Captain, Menschen neigen dazu, anstelle der Problembewältigung sich mit Jaki vollaufen zu lassen. Ein sehr merkwürdiges Verhalten, Sir!"
Ach, halt doch den Rand, ich muß mich konzentrieren. "Nein, im Ernst, Sir, durch Ihre übermäßige Konzentration werden die Schwingungen Ihres überlasteten — und ich muß hinzufügen, durch Alkoholgenuß beeinträchtigten — Gehirns auf den Kommunikator übertragen, so daß intermittierende Interferenzen..." Schweig, Spitzohr! Von wegen Allolo...Alloho...Alkolo...
Na, gut. Ich setze mich ganz entspannt auf den Drehsessel, lasse die Füße cool herunterbaumeln, tippe nur ganz leicht mit der Maus auf den "Kommunikator", unterlasse jegliche Intermissi... Intermisisi... ähh und grinse ebenso cool Richtung Mr. Spock, der sich schweigend auf seine Konsolen konzentriert. Da!, nach zwanzig Minuten, schon wieder! 10060 — Ping! Nun, Master Spock? Any suggestions?
Über die Alpträume (Albträume, nach Duden möglich) dieser Nacht verliere ich kein Wort, außer, daß weder Friedl noch IBM noch der SMTP-Server ungeschoren davonkamen, insbesondere der keifend—drängelnde POP2-Nachbar bekam voll eins drauf... Wieso IBM, weiß ich auch nicht, aber wenn sie diesmal unschuldig sein sollte, dann war's halt für was anderes.
Am Morgen knurre ich meine Beste an, als sie mir den Kaffee zum PC bringt, an dem ich bereits seit einer Stunde herumdoktere. Geräuschlos enteilt sie zur Arbeit, nicht ohne vorher einen Knoblauchring über die Türe zu hängen. Dreimal höre ich sie über die linke Schulter spucken, als sie über die Schwelle geht, und ich weiß, daß sie die bösen Geister und die Intermi... Interfe... Interdingsda verscheuchen will. Wa(h)re Liebe.
Einer spontanen Idee folgend maile ich nun Friedl an, berichte über mein Ungemach und bitte, das Mail evtl. verkleinert oder gar im richtigen Format für Word 6.0 nochmals zu schicken. Die Kürze meiner Nachricht muß ihn alarmiert haben, denn kurz darauf sehe ich in meiner Posteingangsanzeige, daß nunmehr 6 Poststücke des Abgeholtwerdens harren. Innerlich kochend denke ich mir, die Mail-Programmierer hätten doch wohl einen Knopf (F2 oder Klick/ da) einbauen können, damit man ein bestimmtes Poststück "nach hinten reihen" kann. Wär' aber zuviel verlangt. Denke mit Wehmut an das (weitaus komfortablere) Web-Mail-Programm, mit dem mein Sohn arbeitet, welches zuerst die Liste aller Poststücke in einer Liste anzeigt und wo man selbst bestimmen kann, ob etwas übertragen werden soll oder nicht. Das würde mir die momentanen Sorgen ersparen...
Die Antwort aus den USA muß schon längst da sein. Vielleicht warten die noch auf ergänzende Antworten von mir, oft sind solche Kommunikationen ja richtiggehende "talks". Verdammt, ich muß es weiterversuchen! Versuch 10 und 11 sind so schnell beendet, daß ich die gleichzeitig laufende Berichterstattung über das Lebenswerk von Aldo Castignani, dem Schöpfer der Superleggera-Sportwagen, kaum mitbekomme. Ja, ich gewinne sogar den Eindruck, daß das Ping! genau in dem Moment kommt, als ich mich gerade gemütlich in den Fernsehsessel setzte. Wer weiß, vielleicht?
Versuch 12: vosichtig-cooles Starten der Kommunikation, unbeteiligt pfeifend hinausschlendern, dann neben dem Fernsehsessel im Roten Salon stehengeblieben. Es wirkt! Nur nicht hinsetzen! Hurra! Der blaue Balken wird länger und länger, Aldo übergibt die Carozzeria der Superleggera gerade seinem Sohn Sergio, und Ping!, ist's wieder passiert. Also hat das Fernsehen doch nichts mit dem Mailproblem zu tun, Gates-sei-dank!
Während des Versuches Nr. 13 bleibe ich geduldig neben dem PC stehen, schalte mittels Fernbedienung das Interview mit Sergio stumm und gebe keinen Mucks von mir. Der Balken wird lang und länger und ich halte es vor Hunger nicht mehr aus. Auf Zehenspitzen schleiche ich auf den Gang, schwenke rechts zur Küche und Ping! Es ist vorbei. Tränen der Wut mischen sich in den Senfaufstrich, machen auch das Gurkerl naß und ich bin wütend, verdammt wütend, und beiße mir vor lauter Wut fast in die eigene Zunge, während ich das Marmeladen-Senf-Gurkerlbrot kaue.
Was war denn immer gleichbleibend? Laßt uns analystisch vorgehen. Timed out. Was, wenn der Programmierer eine verwahrtackelte Fehlernummer eingegeben hat? 10060 — könnte auch genausogut heißen, er will keine unvorschriftsmäßig gekleidete Person vor dem PC sitzen haben. Ich war ja zum überwiegenden Teil nur spärlich adjustiert, und wie z.B. Militärs darauf reagieren (und das selbst dann, wenn nur ein einziger Uniformknopf offen ist), weiß ich aus eigener Erfahrung: Fall um auf Zehne! (=zehn Liegestütze, falls Sie nicht beim Heer gewesen sein sollten). Ich dusche und kämme mich und meinen Bart gründlich, ziehe mich an und spraye noch ausgiebig Eau des Marineurs Bleus Supérieur unter die Achseln.
Versuch 14, wohlduftend, perfekt gekleidet und gekampelt, wird eine totale Niete. Trotzig schalte ich den PC aus, schwinge mich in meine Carrozza "Net-ganz-Superleggera" und schnurre zum Kunden. Ein recht vernünftiger Mensch, der uns nicht mit e-business unglücklich macht.
Abends habe ich eigentlich keine Lust mehr, mich mit der Postsache herumzuärgern. Starte lustlos Versuch 15, gehe in die Waschküche (pardon, aber das ist die Küche, in der auch eine Waschmaschine steht) und räume diese ach so perfekt arbeitende Maschine aus (ein intelligentes, noch nicht internettendes Produkt) und warte und warte auf das Ping!, aber es kommt net! Ja, gibt´s denn sowas? Kann ich's glauben? Nachdem ich meine hausfraulichen Tätigkeiten abgeschlossen habe, schleiche ich auf Zehenspitzen über den Gang, ums Eck, und starre auf den Balken, der langsam wächst und wächst. Wie ein Indianer (sagen wir Winnetou, oder besser noch Tecumseh, den kennen nicht alle) lasse ich mich langsam niedersinken und schleiche mich auf allen Vieren über das Büroparkett an die Postmaschine an, winde mich langsam am Drehstuhl hoch und
Ping! Tja, ich muß mich erst verschnaufen, hundert Kilo Indianer und das auf allen Vieren, das kostet Kraft, nicht? Während ich meine Augen schließe, beobachte ich, wie tausend kleine Explosionen hinter meinen Augenlidern den rasenden Puls des alarmierten Gesamtkunstwerks "István" signalisieren. Retinalreflexionen des Augenhintergrunds, jawohl, Herr Professor. Reflexionen des Hintergrunds? Hellwach öffne ich meine Augen, drohe dem Kommunikator, Mr. Spock und Chief Tecumseh mit der Faust und starte den 16. Versuch. Ich weiß, der wird's. Als ich dann im Postserver bin, steht wieder dieses Fenster da: PROGRESS "Decoding Tipsun16.doc". Wenn ich nun die Maus (Pfeil) über PROGRESS hinauswandern lasse (dabei blitzt durch mein Hirn, daß eines der Teile der defekten russischen Raumstation MIR auch PROGRESS heißt), verwandelt sich dieser Pfeil in eine Sanduhr (Bill muaßt heißn, und vüü Zeit haben!). Währenddessen ruckelt der blaue Balken, der den Fortschritt des Vorgangs anzeigt, unmerklich um einen Zehntelpunkt nach rechts — das ist es, Reflexionen vor dem Hintergrund.
Ich sitze da, ruckle die Maus mal hoch, mal runter, der Pfeil wird zur Sanduhr, die Sanduhr zum Pfeil .... der Balken wächst und wächst. Langsam ziehe ich mich mit der anderen Hand vollständig an, während der Pfeil und die Sanduhr sich abwechseln, schicke Stoßgebete zu Mr. Spock und knie mich tecumsehmäßig neben den Drehsessel und der Balken wird langsam lang und länger und es ist mir piepewurscht, daß meine Allerallerliebste inzwischen wie versteinert in der Bürotür steht und offenen Mundes diesem ungewöhnlichen Mummenschanz zuschaut, Hauptsache, der Balken wächst und wächst...
45 Minuten und 23 Sekunden dauert dieser Ritus, bis der Balken ganz rechts ankommt und das zweite und ichkannsnichtglauben dritte und hurra! die vierte und die fünfte und die letzte Mail in rascher Abfolge übernommen werden und ein neues Bild erscheint: "You have new mail! Ping!"
96 Prozent der Mitglieder unseres Computervereins waren nicht beim Jahreskongreß in Dublin; vermutlich würden Flugangst, die weite Strecke oder der Jammer um so viel vergeudetes Kerosin als Haupthinderungsgründe genannt, würden wir danach fragen (aber wir tun's nicht, weil wir nicht blöde sind und ganz genau wissen, daß es an ganz anderen Dingen liegt). 4 Prozent jedoch — furchtlose Flieger, denen der Kerosinverbrauch völlig wurscht ist — waren dort, so daß es unzweifelhaft niederträchtig wäre, würde ich sie hier mit meinen subjektiven Kongreßeindrücken erneut langweilen. Der, das darf erwähnt werden, weder meine seglerischen Interessen noch meine natürliche Neugier auf das Balzverhalten des Großen Siebengepunkteten Maikäfers befriedigte, sondern mit trockenen Themen wie Java, Internet, SMTP-Server und Programmiersprachen recht wenig an nautischen oder zoologischen Informationen hergab.
In dieses Dilemma schlägt die Tatsache, daß ich gleich nach dem Kongreß in Dublin eine einwöchige (wunderbare) Rundreise durch Irland unternahm, wie Deep Impact ein: keine einzige Sekunde meiner wertvollen Freizeit verschwendete ich auf AS/400, OS/400 und sonstwas/400. Statt dessen gab ich mich Land und Leuten hin, öffnete mich (und meine Geldbörse) dem lieblichen irischen Volk und vergaß darüber völlig, daß mich in Wien eine System-Umstellung, die nächste Zeitung und das ungelöste Problem einer kubischen, achtdimensional verschachtelten Vertriebsstatistik erwartete. Lehnen Sie sich also zurück und lassen Sie uns gemeinsam nachlesen, was mein Thinkpad hergibt.
Vorauserklären muß ich zwei Frauennamen: Deirdre ist jene besserwisserische, ältliche Sekretärin und Graue Eminenz unseres Vereins, mit der ich seit dem Kongreß in Jerusalem eine erbitterte, öffentlich geführte Diskussion lieferte, da ich nicht einsah, warum man Kongresse ausgerechnet in Orten abhielt, wo die Bomben sprechen. — Fiona hingegen ist deren freundliche, tüchtige (designierte) Nachfolgerin, mit der ich mich — schon aus Trotz — bestens verstand....
Diese Überschrift entstand, als ich einen der liebenswürdigen irischen Sprücherln, die mir unterwegs begegneten, zu übersetzen versuchte: "If you slip down the Bannisters of Life, may the Splinters not point the wrong way" oder so ähnlich, also "Wenn Sie das Stiegengeländer des Lebens hinunterrutschen, mögen die Holzsplitter nicht in die verkehrte Richtung zeigen!"
Deirdres erstaunliche Frage: "...und wo sind jetzt Deine Bomben, hä?!" konnte ich vorgestern in Dublin noch nicht beantworten. Allerdings, heute, am Sonntag, den 21. Juni 1998 tönte es stündlich aus dem Radio (Belfast Channel, FM 100,6): "Eine Bombe explodierte heute nacht in Belfast, hunderte Scheiben gingen zu Bruch. Gott sei Dank kam sonst niemand zu Schaden, da rechtzeitig eine Warnung der IRA einging. — Ein Mann, 27 Jahre alt, wurde mit 4 Schüssen in Kniekehlen und Knöcheln schwer verletzt. Es dürfte sich um traditionelle(!) punishment shots (Bestrafungsschüsse) handeln. — Eine Autobombe in Armagh zerfetzte heute, am 25. Juni 98, zwei Menschen und verletzte ein Dutzend weitere. Die Nationale Befreiungsfront INLA bekennt sich zu diesem Anschlag am Vortag der Abstimmungen in Nordirland...". Da sind sie, Deirdre, da sind sie, auch wenn Du auf Deinem Golfplatz wenig von dem mitbekommst. Ich nähere mich Irland respektvoll, aber hellhörig; nicht am Golfplatz, sondern in der Fußgängerzone, bei den Trinkern, Bänkelsängern und Straßenhuren: dort findest Du mich.
Mit Deirdres zweiter erstaunlichen Frage (und Deirdre, das wissen Sie sicher auch, kann wirklich erstaunlichst fragen) will ich meinen Bericht beginnen: "...na, und wo sind jetzt Deine vielen Weiber, mit denen Du Dich immer umgibst, hä?!". Arnold, Beatrix und Wolfgang blicken mich stumm an, und ich sitze mit betretenem Gesicht da. Was für eine Frage! Erstens: die kommen noch! Zweitens: meine Leserinnen und Leser haben längst erkannt, daß meine Frauen (klingt nicht so schäbig wie Weiber) exactly hier, in der Zeitung, sind: wundervolle, exotisch-erotisch-banale Geschöpfe meiner Phantasie, die ich auf eine derart beschwerliche Reise natürlich nicht mitnehmen konnte. Soviel, liebe Deirdre, zu Deiner "oben ohne" gestellten Frage. Nun, um die Überleitung zu meinem weiteren Bericht abzurunden: als ich beim Autoverleiher antrabte, um selbiges abzuholen, lachte ich so plötzlich und hellauf auf, daß mich der arme Ire, der mich bediente, leicht verstört und besorgt ansah: Deirdre, stell Dir nur vor, ich habe diese Reise nicht mit Michiko, dem exotischen japanischen Fotomodell, sondern mit einem japanischen Starlet, einem richtigen Starlet (aus dem Hause Toyota) gemacht! Auch wenn mir sofort bewußt wurde, daß ich ein erzürntes Mail von Dir riskiere, habe ich auf Deine Kosten sehr, sehr herzhaft gelacht.
Zugegeben, sie war sehr eng gebaut, mein Starlet, dreißig Liter Übergewicht wollen ja hinter dem Lenkrad verstaut werden. Aber das kenne ich ja vom Prater: go-cart Fahren in Irland! Zweite Feststellung: es ist viel, viel anhänglicher als jene. Passiert auf dem Parkplatz eines road restaurants: ich steige aus und schlendere los, da rollt es mir einfach nach, das Schaf! Kann gerade noch eine gekonnte Einlage als Starletfänger einlegen und das dumme Ding wieder an seinen Platz zurückschieben. Ab da heißt das Starlet Dolly, das dumme Schaf, das am Parkplatz immer sorgfältigst angepflockt werden muß, aber ab da habe ich auch gewußt, wozu dieser lästige Hebel zwischen den Vordersitzen eigentlich gut ist: blöde nur, daß sich auf manchen Parkplätzen das Abschleppseil beim Anpflocken als viel zu kurz erwies!
Sitze da mutterseelenallein auf einem Baumstamm in der irischen Steppe und grübele, was ich so ins Thinkpad schreiben soll, da höre ich plötzlich diskretes Hüsteln neben mir. Obwohl gerade eben noch keine Menschenseele da war, sitzt jetzt glatt ein faschingsmäßig gestylter Alter neben mir.
"Ich bin Muirlinnhe", sagt er, und ich ergänze aus spontanem Impuls: "Ach ja, Du bist Merlin, der diese ollen Steine in Irland geklaut und nach Stonehenge gebracht hat! King Arthur und so..."
"Pssscht, nicht so laut!" knurrt Merlin und linst nervös nach allen Seiten, "das läuft erst nächste Woche, und wenn uns die kriegerischen Pikten (für Nicht-Lateiner: die alten Iren) hören, wird's wieder nix mit den Steinen! Außerdem heißt Arthur bei uns noch Saint Camber, früher nannten ihn die Lateiner Rhiathamus, und im 11. Jahrhundert erst werden ihn die Franzosen King Arthur nennen."
"Merlin, altes Haus, Du weißt aber wirklich schon alles im voraus! Wie geht's Dir eigentlich, und wie bist Du überhaupt hierher gekommen, wo Dich doch die böse Morgane La Fay in den Zauberwald bei Douarnenez eingesperrt hat und ..."
"Erinnere mich nicht an diese unselige Geschichte! Ja; ich irrte blind und ziellos im Zauberwald umher, aber nach tausend Jahren löste sich plötzlich der Bann wie von selbst und..."
"Oh, das kenne ich!" unterbreche ich Merlin vielleicht etwas unhöflich, "der Zähler geht auf 998, 999 und dann kommt 000! Dann heißt es: Bingo, machen Sie ihr Spiel, rien ne va plus! Wir nennen es das Y2K-Paradoxon. Y2K steht für Year 2000, das Jahr 2000-Problem", klugscheißere ich noch.
Da machte es "Plopp!", und Merlin war weg.
Nach sicher einer Stunde Zickzackfahrt durch Dublins belebte Straßen (lauter Geisterfahrer, sag` ich Euch!) fiel mir ein, daß die hiesige Präsidentin (Frau Mary Robbins) im "Jahr der Frau" etwas für die Frauen tun wollte: also ordnete sie an, daß ab sofort die Frauen auf dem Fahrersitz sitzen dürften, die Männer wurden (etwa gleichzeitig) auf den Beifahrersitz verbannt. Da aber die Autoindustrie aus der Statistik wußte, daß in vielen Familien nur die Männer einen Führerschein haben, plazierten sie unauffällig auch das Lenkrad zum Beifahrersitz. So entstand über Nacht die hier geltende Linksfahrordnung, die uns auch von den Engländern her bekannt ist und unsereinem reichlich seltsam vorkommt, andererseits aber den sonst schwer unterdrückten irischen Mammis das Gefühl, am rechten Platz zu sitzen, gibt. Nein, rechts sitzen die Pappis! Die Muttis sitzen links, ebenso der Aschenbecher. Also, jetzt ist die Verwirrung komplett, aber da kann ich nichts dafür. Fragt einfach Mary Robbins.
Statt Ampeln gibt es Kreisverkehr. Stellen Sie sich vor, statt jeder Ampel einmal eine Runde fahren und den richtigen Ausgang suchen: wenn Sie also z.B. vom Südbahnhof zum Floridsdorfer Spitz müssen, dann pfürti gute Nacht, Sie werden ganz dröselig ankommen, mein Wort darauf! Allerdings meinte meine Köchin nach meiner Rückkehr, daß ich nicht jedesmal einen ganzen Kreis fahren muß, sondern nur den Teil bis zu meiner Abzweigung, aber da frage ich Sie: warum heißt's dann, bitteschön, Kreisverkehr? — Na, eben! Ihnen, liebe LeserInnen, verrate ich mein Linksverkehr-Rezept: ich habe dort einfach alles falsch gemacht, und damit war alles wieder total richtig. Capiesch?
Auf der Schnellstraße von Dublin nach Galway gewöhnte ich mich langsam an diese seltsame Geisterfahrerverordnung und lebte mich ein. So ist zum Beispiel die Straßenmitte nicht nur mit den auch bei uns üblichen Mittelstreifen, sondern auch mit kleinen runden Metalleinlagen, die nachts reflektieren und auf englisch bumpers heißen, markiert. Blöde nur: wenn man die Fahrstreifen wechselt, dann bumpern die Reifen jedesmal, wenn sie über so ein Metalldingsda rumpeln (drum heißen sie ja auch bumpers), was mich doch etwas nervös machte. Mein Starlet ist ja noch ganz jung, nicht mal 600 Meilen (oder Kilometer?) alt. Also beginne ich, mich mit einem inbrünstigen Training geschickten Slalomfahrens diesem Bumpern zu entziehen, ja, gewinne sogar eine gewisse Meisterschaft darin, ohne zu Bumpern die Fahrstreifen zügig zu wechseln. Bis mich die Garda, die örtliche Polizei, nach zwei Stunden, einem verschärften Alkotest und um 50 irische Pfund leichter wieder weiterfahren läßt. Spielverderber!
Den continental driver, den Fahrer vom Festland also, wo die Muttis rechts sitzen (usw., ach was, lesen Sie doch einfach oben nach), erkennt man an der angestrengt vornübergebeugten Haltung, dem verkniffenen Mund und dem ach so typischen Langsamfahren. Diese Fakten kennend fuhr ich also zügigst durch die Lande, meist Hamburger Kneipenlieder oder Shanties vom Neusiedlersee grölend und drückte brav die Schultern durch. Strahlend grüßte ich jovial winkend jeden Traktorfahrer wie auch Trekkingbiker, bevor mein Fahrtwind sie in den Graben wehte. Wie sehr jauchzte ich, als ich — von den Twelve Pins Bergen herabfegend — die langsam bergauf kriechende Autoschlange touristelnder Continental-Driver erblickte! Da hättet ihr mich sehen müssen, wie ich einem Gewitter gleich den Berg in einer Wahnsinnsstaubwolke hinabtoste und lauthals das Andreas Hofer-Lied schmetternd die verdutzten Kontinentalkriecher in den Graben verwies! Fußballweltmeisterschaft, ich? — Nee, brauch` ich nicht!
Schwierig ist auch das mit der Sprache. Nein, es ist gar kein Problem, da das Land zweisprachig ist: irisch (das heißt keltisch/ gälisch) und englisch; Sie können sich's also aussuchen. Aber was für ein Englisch! Ein Ire redet nun mal nicht gerne mit Engländern, wenn sie aber einmal kapiert haben, daß es in Österreich keine Känguruhs gibt, dann tauen sie auf und reden. Schnell, falsch und ununterbrochen. So erging es mir auch im Tauchsportzentrum Kilkee, etwa 30 km südlich der Cliffs of Moher (Achtung: Mohair sind die Kraushaarschafe bzw. deren Wolle, das Wort selbst ist persisch und hat mit den Klippen von Moher nichts zu tun, wie ich erstaunt lernen durfte).
Also, da sitze ich in Kilkee am Pier, füttere die Möwen (deren Namen Sie noch genauestens erfahren werden) und kucke dem geschäftigen Treiben der Taucher zu. Die Leute vom Marine Rescue Centre (See-Rettungs-Zentrum) sind aufgeregt, kreischen mit den Möwen um die Wette und rennen hin und her. Ich meine, da muß doch was passiert sein, ein Schlauchboot kommt mit Hurra um die Mole geschossen, die wild durcheinander gestikulierenden Schlauchbootfahrer springen heraus, eine Bahre wird gebracht, der neoprenverpackte Körper eines Verunglückten wird daraufgehievt! Ein Retter rennt wild walkie-talkend zum Rescue Centre, andere tragen die Bahre, und eine junge Retterin pumpt laut 1, 2, 3, go! zählend das Herz des Verunglückten.
Ich jette aus meinem Liegestuhl (Ihr kennt doch Euren István, da muß er doch ganz vorne mit dabeisein!) und renne handyzückend die paar Schritte zur Rettungshütte hinauf, frage einen der wichtig Aussehenden: Braucht Ihr einen Arzt? und denke, jetzt kann ich endlich einmal die 112er Nummer ausprobieren und herausfinden, ob sich ein Ire oder ein Österreicher meldet. Der Wichtige sieht mich an, dann sagt er: Come on, Doctor und führt mich in die Hütte. Sind Sie Arzt, fragt mich der Wichtigtuer nochmals, und ich sage wahrheitsgemäß, ich wäre nur Hobbygynäkologe. Da zuckt doch die "Tote" (denn, daß es eine sie ist, sah man deutlich) völlig aus und brüllt lachend und prustend in die Runde: hey, he is a spare time gynecologist! Wie sich herausstellt, kommt sie, Jutta, aus Deutschland und ist quicklebendig. Das Ganze ist nur eine Übung, und ich Esel stehe mit meinem Handy da und glotze. Jutta hakt sich unter, quetscht mich in Minutenschnelle aus, wo ich und warummen denn herkäme, was ich täte etc., dann darf ich der immer noch schräg grinsenden Mannschaft ein Krügerl spendieren und verziehe mich kleinlaut.
Jutta holt mich aber am Parkplatz wieder ein, beruhigt mich, daß es ja gut sei, wenn auch Außenstehende spontan hilfsbereit wären, und führt mich durch das Rettungs-Zentrum; anscheinend freut sie sich, einen Gleichsprachigen zu treffen. Beim Abendessen zeigt sie mir, wie man Cornish Crab Crawls (Krabbenzangen) mit dem Nußknacker öffnet und das Krabbenfleisch mit einer plattgedrückten Stricknadel aus den Zangen puhlt. Nachher mußte ich noch zu McDonalds, weil das mit den Krabben zwar viel Arbeit, aber nicht satt macht.
Bed and Breakfast (Zimmer mit Frühstück) ist die richtige Art, Irland kennenzulernen, allerdings wäre es mir lieber gewesen, ich hätte das Breakfast nicht mit Jutta teilen müssen. (Deirdre, bitte: es ist nichts wahr, nur eine Geschichte! Erfunden! Nix Jutta! Nur Frühstück!).
Das irische Frühstück ist eine Beschreibung wert. Also, zunächst Kaffee mit Milch und Zucker, aber ohne die schädlichen Kaffeebohnen. Milchsuppe mit Kerndln oder Cornflakes zum Orangensaft. Einige Scheiben Brot und Toast und leicht gesalzene Butter; zur gesalzenen Butter noch Honig und Marmelade für die ganz Depperten. Danach frisch und heiß: ein Spiegelei (für mich), ein Scheibchen schwarze Blutwurst (iiihx, das kriegt Jutta), zwei Würstchen (eins für mich) und zwei Scheiben Speck (beide für mich). Zum Abschluß eine tief und genußvoll durchgezogene Marlboro (Jutta dreht sich einen Joint, aber nur, um Deirdre zu ärgern).
"Ich heiße Henry", sagt das großäugige Schaf zu dem sich quietschend einbremsenden Starlet, "und da drüben sitzt die Thusnelda."
"Tüüt", sagt das Starlet, "tüüt, tüttüüüt!" Energisch drückt der Mensch nochmals auf den Airbag. "Tüüüüt!"
"Ja, das hatte Vetter Angus auch, Du solltest vielleicht drei Tropfen Honig in Deinem Tee probieren!" sagt Henry, und Thusnelda wendet den Kopf zum Starlet und meint: "Diese affektierte Großstadtbraut! Pahh! Hat ein rotlackiertes, glattes Fell, gehört wahrscheinlich dem alten O'Brien. Pfühhh, und was sie für große Glotzeeen hat!"
Henry trottet langsam zu Thusnelda und raunt ihr zu: "Ein wenig mehr Haltung vor Fremden, meine Liebe, wenn ich bitten darf, und meckere nicht wie eine Ziege!", und zum Starlet gewendet meinte er: "Ach, wissen Sie, sie hat es mit der Verdauung, daher liegt sie jetzt auf der warmen Fahrbahn, das erleichtert ihr das Abgasen."
"Tüüt", sagt das Starlet ungeduldig, "tüüt, tüttüüüt!" Beim Toyota hupt man mit dem Airbag, funny, ist es nicht?
Henry schüttelt das zottige, gelbweiße Fell, das mit einem blauen Sprayfleck markiert ist, und zieht sich langsam zu Thusnelda zurück. "Sie sind aber heute nicht sehr gesprächig, Ma'm'selle", sagt er noch zu dem Starlet, bevor er sich langsam auf der Fahrbahn neben Thusnelda niederläßt. Das Starlet brummt noch einmal kurz auf, bevor es verstummt, und drinnen sieht man einen Menschen verzweifelt auf den Airbag eindreschen.
"Sieht gut aus, die Lady" meint Henry mit Kennerblick zu Thusnelda, "ihr glattes, rotes Fell scheint jetzt städtische Mode zu sein, ist es nicht?" "Ach, ihr Männer! Du schaust doch eh nur auf ihre Reifen, Du geiler alter Bock!" seufzt Thusnelda bekümmert, Tränen steigen ihr in einer plötzlichen Welle des Selbstmitleids in die Augen, also wendet sie sich ab und starrt zu den Bergen hinauf, damit Henry, dieses liebe alte Scheusal, es nicht sähe.
Inzwischen hat sich der Mensch vorsichtig aus dem Starlet gehievt, da meint Henry etwas verächtlich: "Sieh Dir nur den an, meine Liebe, der ist aber nicht gut in Wolle! Schau doch nur, sein kahler Kopf.....", aber weiter kommt er nicht, denn es war mir zu dumm geworden, und ich schubste und drängelte die beiden blöden Viecher von der Fahrbahn, um danach meinen Weg fortzusetzen.
Es ist überhaupt nicht schwer, seinen Weg durch Irland zu finden. Man braucht ja nur den Tafeln nachzufahren, die Wegweiser sind in Englisch, Keltisch oder in beiden Sprachen angegeben, manchmal aber auch in italienisch (Beispiel: Pizzeria Da Giovanni, 2km; sprich: due chilometri). Hier sind also polyglotte Menschen in einem gewissen Vorteil, wenngleich Sprachen ja noch nicht alles sind: Entfernungsangaben in Kilometern und/oder/aber Meilen sollten an sich auch keine Schwierigkeit darstellen. Täten sie auch nicht, würde da nicht der Restrealist im Urlauberhirn ständig umrechnen wollen, denn die Meile hat ja bekanntlich so um die 1.600 Meter und ein paar zerquetschte. Oder doch nicht?! Heute kam ich zu einer Tafel: an Ceirinn 7½, darunter: 21km. Mich laust der Affe, das sind keine nautischen und auch keine statute miles, wo zum Henker kommen also die 21km her? Ich habe dann einen Autostopper mitgenommen, er lachte kurz auf, als ich ihn danach befragte, dann meinte er (wenn ich es richtig verstanden habe): Schau doch nicht auf die Tafeln, fahre einfach der Straße entlang, dann kommst Du schon irgendwo an! Das tat ich dann auch.
Baggerfahrer aus Dingle war er, roch bereits streng nach Guinness und bekreuzigte sich anfänglich bei jedem Kirchlein, an dem wir vorbeikamen. Im weiteren Verlauf unserer Fahrt bekreuzigte er sich dann zusätzlich vor, später auch nach jeder Kurve bzw. beim Drifting durch die Torffelder und schien überhaupt leicht zur Seekrankheit zu neigen, dieses bleichblasse Kind der Grünen Insel.
Besser noch konnte ich mich auf die Karte verlassen (freundlich beigesteuert von Fiona). Ich mußte sie allerdings auf dem Rücksitz ausbreiten, um die richtige Leseentfernung zu haben. Brille? Ach ja, wo war sie doch gleich — Moment bitte, ich krame in meinem Touristenbauchbeutel — ach, Herrjemine, die Brille ist im Koffer in der Gepäckaufbewahrung in Dublin, zusammen mit Anzug, Krawatte und Tagungsunterlagen. Bravo, Meister! Aber die Reservebrille, die ist wenigstens im Handschuhfach (nur steht mein Auto mit besagtem Handschuhfach leider in Wien...).
Macht nichts, bin ja weitsichtig (manchmal sogar weitblickend), also blicke ich erst nach vorne, lese den Wegweiser, blicke dann nach hinten, um den Ort auf der Karte ausfindig zu machen, dann kuppeln und ratschend den nächsten Gang rein, Blinker nach links und forsch rechts abbiegen! Einen noch besseren Eindruck schindet, wer dabei noch das Handy ans Ohr drückt (muß aber nicht unbedingt eingeschaltet sein). Man kann wirklich das Weiße im Auge des Entgegenkommenden sehen, ehrlich!
Erstaunlich, was für Automatismen der Mensch im Lauf eines Lebens aufbauen kann. Da meinte ich anfangs, daß der Linksverkehr (also, wenn die Muttis am Fahrersitz sitzen, Sie wissen schon) die größte Schwierigkeit darstellen werde: weit gefehlt! Als Fußgänger in Irland habe ich sicher doppelt so oft in die falsche Richtung gekuckt. Am schwierigsten war es, sich auf den Aschenbecher "links" umzustellen. Nein, lachen Sie nicht, mir ist's ernst! Autofahren und Rauchen sind in meinem Kopf offenbar zwei verschiedene Paar Stiefel, um nicht zu sagen Filzpatschen (links) und Taucherflossen (rechts). Lenkrad statt mit der Linken mit der Rechten drehen: geht. Mit der Linken schalten bzw. die Handbremse beim Schleudern im Torffeld betätigen, geht auch (die für uns Urlaubs-Rennfahrer so wichtige Abschwingzone nach engen Kurven ist in Irland zumeist als Torffeld ausgelegt, allerdings sind die Auffangzäune aus Stacheldraht!). Aber wenn ich dann den Tschik mit der Linken übers Lenkrad greifend in die rechte Türfüllung presse und das Plastik mit einem häßlichen Geräusch stinkend verzischt, dann weiß ich: hoppala, das war nicht der Aschenbecher! Dieser Aschenbecher (nämlich der rechts von mir) ist in Wien! — Sie sehen: nobody is perfect.
Zurück zur Brille. Nein, nicht zurück nach Dublin zur Gepäcksaufbewahrung, sondern zurück zum Thema Brille und Kartenlesen. Ich habe ja in einem Dubliner Pub zu fortgeschrittener Stunde mit Freunden darüber gescherzt, daß die französische Wein-Genossenschaft Le Ventoux neuerdings ihre Weinflaschenetiketten mit Blindenschrift (Braille-Schrift) versieht: man könnte ja auch Autokarten und Verkehrszeichen mit Braille-Schrift versehen... Man sollte sich aber das mit den Weinflaschenetiketten und der Blindenschrift noch einmal, und diesmal ganz sorgfältig, durch den Kopf gehen lassen. Immerhin, so könnte man es ja auch sehen, könnte dies als Warnhinweis verstanden werden: wer diese Brühe trinkt, könnte daraufhin ja...
Jetzt war ich also brillenlos und auf mein Konfabulationsvermögen angewiesen (nein, Sie brauchen gar nicht erst im Lexikon nachzusehen: konfabulieren heißt, sich etwas zusammenzureimen; für uns Vereins-Funktionäre übrigens unerläßlich).
Also, was haben wir da. Ein großes Blaues, aha, der Atlantik. Dann so ein kleines gelbgrünes Würstl, das ins Meer ragt: die Connemara-Halbinsel. Ein dunkles Braunes darin — das sind vermutlich die Twelve Pins-Berge. Jö, schau, ein Stricherl! Das ist sicher die Straße durch die Berge! Wo steht die Sonne? Links. Also (ich drehe die Karte auf den Kopf) das Meer muß jetzt links von mir sein (ja, stimmt, da hinten fährt ein Öltanker), rechts vor mir die Berge, und jetzt muß da doch wo eine Straße sein?! So kam es zu der denkwürdigen Begegnung mit Henry und Thusnelda.
Angenehm war dort oben, daß ich weit und breit der einzige Verkehrsteilnehmer war, die anderen drängelten und schlängelten sich alle unten durchs Tal, während ich hier oben grüne Weiden und manchmal auch ein Torffeld (nach engen Kurven) vorfand.
Ärgerlich war nur, daß diese Straße irgendwie aufhörte, ja, Sie lesen richtig, die Straße verendete kläglich im Hochmoor. Die schwarzblau heraufziehenden Gewitterwolken dieser Nacht (es wird hier erst gegen Mitternacht zappenduster) konnten mir keine Bange machen, ich war ja vollkaskoversichert. Ums Bed war's zwar schade, aber zum Breakfast würde ich sicher rechtzeitig auftauchen.
Ächzend mühte sich das Starlet mit glühenden Augen durch die Hügellandschaft, grub die Reifen tief ins weiche grüne Gras; wenigstens konnten später Nachkommende eine ordentlich gespurte Loipe (um es schifahrerisch auszudrücken) vorfinden. Kurz und gut, ich kam dann doch noch ins Bed, habe aber dafür das Breakfast verschlafen (da ging ich ja erst zu Bed, klar?).
Ich beschloß also, mir trotz schlechtem Gewissen Fiona gegenüber eine Landkarte zu kaufen. Die Frau im Geschäft war freundlich, ja, genau, mit larger scale will er sie haben, der Gent aus Austria. Sie kramte und kramte und brachte dann das mit dem kleinsten Maßstab (= der größten Auflösung, würden wir Bildschirmgeschädigte sagen). Das Meer war riesig, und statt eines Würstls war da eine richtige Landzunge zu sehen. Hochbefriedigt bezahlte ich die Karte und ging ins Cafe, um sie mir dort genauer anzusehen.
Bitte, da ist jedes Dorf drauf, jede noch so kleine Straße zieht sich wie ein fetter Borkenkäferkanal durch die Baumrinde. Jedes noch so kleine Rinnsal ist ein dicker blauer Strich, jede noch so kleine Hütte zumindest ein kleiner schwarzer Punkt. Die Berge braunrote Flächen, durchzogen von grünen Wald und hellgrünen Moor-Flächen. Die Karte ist so toll, ich kann mich an ihr gar nicht satt sehen! Nur sind die Ortsnamen in so winziger, unauffälliger Schrift gehalten, daß ich jetzt wieder reumütig Fiona's Überflieger verwende...
Fiona und ihre Karte, das war schon so eine Sache! Beinahe wiederstrebend überließ sie mir in Dublin ihre Straßenkarte mit der entschuldigenden Anmerkung, daß sie einmal ein Grillhenderl gegessen habe, und da wären einige Flecken auf die Karte gekommen. Ich versicherte ihr hoch und heilig, daß mir das nichts ausmachte, ich würde vorsichtig um die Flecken herumfahren.
Vielleicht war das doch etwas zu voreilig, denn als ich am ersten Abend nach einem langen Stadtspaziergang in Galway wieder aufs Zimmer kam, wild entschlossen, mein Übergewichtsproblem nun einmal ernsthaft anzugehen und heute nichts mehr zu essen, wirklich nichts, höchstens ein paar Snickers, die eine oder andere Tafel Schokolade und eine Dose Cola, da duftete mir das ganze Zimmer grillhendlartig entgegen. Ich wurde beinahe wahnsinnig vor Leidenschaft, vor meinem geistigen Auge zartknusprige Keulen, rostrotknackige Flügerln und hormongeschwellte Brüstchen! Fiona! Keine zwei Sekunden später war ich schon wieder unterwegs und ließ Snickers sowie alle guten Vorsätze hinter mir.
Gesättigt saß ich dann vor meinem Bierchen und zündete mir eine Thank you for not smoking an. Zog den Rauch tief ein, schloß die Augen und stellte mir Fiona vor, ein zart geröstetes Schenkerl mit spitzen Fingern haltend und krachend in die Hautkruste beißend.... nein, an diesem Bild stimmte was nicht! Besah mir nochmals die Karte, die Flecken, die wohl Dutzend Fingerabdrücke neben der Kreuzung von Galway nach Dublin: ja, so mußte es gewesen sein! Jetzt sah ich Fiona, wie sie das Opfertier auf der Karte dreht und wendet, magische Sprüche murmelt und ene-mene-schnick-schnack auszählt, ob sie nun links oder rechts abbiegen solle. Das, und nur das, will ich glauben: sie hat — wie schon die Auguren im alten Rom — aus den Eingeweiden des Grillopfers lesend die Götter nach dem rechten Weg befragt! Kartenlesen in Irland.
Endlich hatte ich all die Sehenswürdigkeiten hinter mir, das Wetter war dementsprechend irisch geworden; Regen, Nebel und heftige Windböen machten es mir nicht leichter. Aber endlich war ich am Ziel. Pflocke das Starlet am Parkplatz an, nahm Schirm, Altbrot, Telefon und Läppi in die Hand und wanderte durch die Dünen.
Nun, manche von Ihnen wissen ja, daß ich's mit den Vögeln hab`. Dies war hier wohl der bemerkenswerteste Punkt Irlands, ein wahres Vogelparadies. Ich stieg einem Bachbett entlang hinaus auf die Sandbank, dann über einige Steine zu den vorgelagerten kleinen Vogelinseln und war dann mitten unter ihnen, meinen Vögeln. Ich zückte den Laptop, nahm den Schirm zwischen die Zähne und legte die CD "The Birds of Ireland" ein. Und da waren sie alle.
Links ein Shag (lateinisch: phalacrocorax aristotelis, keltisch: Seaga), der mit einem Cormorant (lat: phalacrocorax carbo, kelt: Broigheall) um ein Stückchen Seetang raufte, rechts eine Snipe (gallinago gallinago, Naoscach), die mit schiefgelegtem Köpfchen auf Futter von mir zu warten schien. Das Lapwing-Pärchen (vanellus vanellus, Pilibin) turtelte trotz des beißenden Windes heftigst und machte sich offenbar nichts daraus, daß ein Oystercatcher (heamatopus astralegus, Roilleach) ihnen dabei ungeniert zusah. Der Arctic Tern (sterna paradisaea, Geabhrog artach) versuchte den geilen Spanner durch wildes Gezwitscher wegzuscheuchen, aber sein Vetter, der Sandwich Tern (sterna sandvicensis, Geabhrog dhuscotlach), meinte nur: "Laß sie doch, die jungen Leutchen heute wollen halt auch mal alles ausprobieren, du verklemmtes Aas!" Der Common Gull (larus larus, Faoilean ban) zog majestätische Kreise über der Kolonie von Blackheaded Gulls (larus ridibundus, Faoilean ceanndhubh), während die Great Black-Backed Gulls (larus marinus, Droimneach mor) laut und wüst die Herring Gulls (larus argentatus, Faoilean scadan) beschimpften, denn deren letzter Raubzug hatte die Brutkolonien arg in Mitleidenschaft gezogen.
So stand ich also fast schon eine Stunde zwischen meinen gefiederten Lieblingen, tippte eifrig auf dem Laptop und streute zwischendurch altes Toastbrot (von Jutta übriggelassen, liebe Deirdre), damit sie nicht fortflögen. Da hatte ich plötzlich das Gefühl, von hinten geschubst zu werden. Nun, ich weiß genauso wie Sie, vögelliebhabende Leserin, auch solcherlei liebender Leser, daß ich da auf den Vogelinseln ganz allein mit jenen war, es konnte mich also niemand von hinten schubsen. Aber dennoch, das Gefühl blieb. Hartnäckig. Sie kennen das: kein Fehler im Programm-Code, und trotzdem ist das Ergebnis falsch.
Ich blickte mich um. Die steife Brise blies mir kräftig ins Gesicht, die Wellen tobten, wie sie immer toben, und die Vögel kreischten as usual, sie haben ja nichts anderes gelernt. Und der Bach, drüben, bei den Dünen, floß im Bachbett friedlich aufwärts.
Halt! Wie bitte? Der Bach fließt aufwärts?! Ich blickte nun erbleichend meinen Hosenbeinen entlang hinunter, und tatsächlich: ich stand schon fast bis zu den Knöcheln im Wasser. Die Flut stieg rapide, und ich Oberspezialist habe nicht aufgepaßt. Die Furt Richtung Heimat war inzwischen mindestens Knie- oder noch tiefer, also blieb mir nichts anderes übrig, als auf der Vogelinsel höher zu klettern. Der Shag und der Cormorant hauten unter empörtem Gekreische ab, (die anderen Vögel wollen Sie bitte oben selbst nachlesen, die hauten nämlich auch ab, als ich hochkeuchte), und ich stand schlußendlich auf dem obersten Granitblock, überschlagsmäßig etwa 20 Minuten bis zum Eintauchen schätzend.
Gutes Rad sein teuer, wie Freund Miro einmal sagte. Ich blickte auf meine inzwischen völlig durchweichten Treterchen von Bally und wunderte mich, daß diese das alles derart anstandslos überstanden hatten. Weiter oben, in den Dünen, der Parkplatz mit einem Bus von Peter's Reisen aus Kassel (was die hier wohl verloren haben), aber natürlich kuckt wieder kein Schwein.
Vielleicht fotografieren sie mich nur (getitelt: Ire auf vorgelagerter Insel). Weiter unten, in den Dünen, einige bunte Anoraks, unentwegte Irlandfahrer, die sich von Wind und Wetter nicht von ihrem Abendspaziergang über den Sandstrand abhalten lassen und sich höchstens kopfschüttelnd über die lebende Reklame für IBM Thinkpads auf der Vogelinsel wundern.
Dazwischen, in der Mitte, die Flut, und in deren Mitte ich und mein Inselchen, das rapide an Quadratmetern verlor. In der Bucht schwojte (drehte sich) ein Fischerboot langsam, und ein Mann winkte mir freundlich zu, natürlich winkte ich zurück. Heftig.
Konnte kein Wort verstehen, was er mir zurief. Ich rief einfach auf deutsch zurück: Ja, Du mich auch! und dachte, wie oft ich im Neusiedlersee abtreibende Gummimatratzen-Fahrer im Stich gelassen habe (eigentlich nie).
Mike — damals wußte ich natürlich noch nicht, daß er Mike hieß — Mike also schwang sich in sein Beiboot und ruderte langsam auf meine Vogelinsel zu. Etwa eine halbe Kabellänge vor der Insel — oder waren es nur 20 Meter? — bremste er sich ein und begann zu parlieren. Ich bekam nur so viel mit, daß er keltisch, nicht englisch sprach. Sofort wußte ich, daß dies ein Sprachentest war, denn würde ich englisch (britisch) antworten, dann würde es eine lange und nasse Nacht werden. Ich nahm all meine Kraft zusammen und rief: "I am from Austria!" — Mike dachte kurz nach, dann rief er: "Rainhard Fendrich!" Und ich rief, ganz baff: "Yea, that's correct!" So ruderte Mike heran, ließ mich einsteigen und brachte mich sicher an Land. Breit grinsend erzählte er, daß er pro Saison mindestens 5 oder 10 Touristen rettete. Außerdem war er ein Fan eines gewissen Wulfgeng Embrous, und ganz zum Erstaunen der Kasseler Pensionistenrunde grölten die "zwei Iren im Gummiboot" lauthals und so-lala "für immer jung, für immer ju-hu-hung!" Am Ufer fragte ich, wie ich mich revanchieren könne: um "half nine" im "Wagoneer" in Kilmare, sagte Mike (ein Brite hätte half past eight gesagt) und entruderte. (Vorhang).
Es wurde mein teuerster Abend in Irland, Leute: als Mike erschien, gewaschen, gekämmt und offenbar sehr durstig, da wurde der Barkeeper blaß und ließ sich vertreten. Mike, der alle Kellnerinnen des Lokals kannte und mich allen geziemend vorstellte (that bloody guy from Austria got wet at Kings Head, you see). Mike, der vier Pints (Krügeln) ohne Pi-Pause leeren konnte. Mike, der mich bemitleidete, weil ich nicht mehr als zwei kleine Bierchen verdrückte. Mike, dessen 150 Liter Lebendgewicht gegen Mitternacht von seiner gotteslästerlich fluchenden Jungfer Mary und mir heimgeschleppt werden mußte. Mike, der mir unterwegs mindestens ein Dutzendmal versicherte, daß unser Bundespräsident, ein gewisser Mister Hölmut Cole, ein ganz wonderful Mr. president sei. Und daß er him very much love, den Cole, den Hölmut.
Ich war heilfroh, als ich die Socken und Jeans in meinem Quartier waschen und zum Trocknen aufhängen konnte. Die Witwe Plunkett, bei der ich nächtigte, bot mir Schottland gegen Marokko als Videoaufzeichnung in ihrem Wohnzimmer an, außerdem ein Plaid (schottisch gemusterte Wolldecke) für meine Lenden, "sonst erkälten Sie sich noch, my dear!". Es ist wirklich nur unabsichtlich passiert, ehrlich, daß ich bei einem gemeinen Foul eines marokkanischen Spielers reflexartig aufgesprungen bin, dann habe ich es aber schön brav bleiben lassen, obwohl sie diese Stelle noch drei Mal zurückspulte. Man hat ja seine Prinzipien.
Ich schaue gerade den Fischern zu, die im Hafen ihre Boote auf Vordermann bringen, die Netze reinigen oder einfach nur herumstehen und eine Rauchpause einlegen. Gerade will ich weitergehen, da spricht mich ein Typ an: "Hallo, wie geht's?" und quatscht munter drauf los, wo ich herkäme, wie mir Irland gefiele usw. usw. Im Lauf der Unterhaltung frage ich ihn höflichkeitshalber, was er denn von Beruf sei, (ahnend, daß keine ehrliche Antwort kommen würde, da mir seine unstet verschwimmenden Schnapsäuglein schon aufgefallen waren und ich vermutete, das Ganze würde im obligaten Bakschisch für die nächste Pinte enden), da ergreift er pathetisch meine Hand und sagt: "Ich bin ein Seher (visionary)." Dann, nach einer weiteren dramatischen Pause: "Der Visionär von Clifden." Ich habe Mühe, ein Schmunzeln zu unterdrücken, und meine: "Meine Kinder sind auch Visionäre — Televisionäre." Er lächelt gequält, versichert mir, daß ich eine schöne Reise haben werde und steuert unsere Schritte unauffällig Richtung Pub. Als ich ihn zuerst eintreten lasse, scheinen ihn seine seherischen Fähigkeiten kurzerhand verlassen zu haben, denn viel zu spät merkt er, daß ich hinter ihm eine Kehrtwendung gemacht hatte und schaute, daß ich weiterkam.
Oben auf dem Paß war mir der heftige Regen, die Kurvenfahrerei im dichten Nebel und die ziellos auf der Straße umherirrenden Schafe zuviel, ich suchte mir einen Platz in der Wiese und döste ein wenig auf dem Liegesitz. Doch kaum hatte ich meine Augen zu, da klopfte so ein Alter mit seinem Knotenstock an meine Scheibe.
"Failte, willkommen!", sagte er, "ich bin Muirlinnhe, der Berater des Königs."
"Failte Dich auch, Merlin, alter Freund" sagte ich müde, aber doch erstaunt, "Du schon wieder? Was verschlägt Dich denn um diese Zeit hierher, Du solltest doch eigentlich im Zauberwald bei Douarnenez in der Bretagne schmoren?!"
"Die böse Morgane La Fay hat mich dort für tausend Jahre eingesperrt," meinte der weise alte Merlin, "aber ich weiß auch nicht, wie das ging, auf einmal war der Zauber gebrochen..."
Auflachend unterbrach ich ihn: "Hey, das hatten wir doch schon, nach 998 kommt 999 und dann 000, Bingo! Year2000! Erinnerst Dich denn nicht?" Ploff, machte es wieder, und Merlin war verschwunden.
Ich döste noch ein wenig und dachte über Morgane und den offensichtlichen Programmpfusch in den Dark Ages nach, als es wieder an mein Fenster klopfte. "Okay, Merlin, wat is denn nu?" fragte ich aufwachend. Doch der Alte draußen im Regen sah gar nicht wie Merlin aus, eher wie ein alter Schafhirt mit der unvermeidlichen irischen Paddy-Mütze auf dem Kopf.
"Der Name ist O'Brien," meinte er etwas mißbilligend und fragte, ob ich ihn bei diesem (piep!) Wetter runter zu Mollys Pub bringen könne, seine (piep!) alten Beine wäre halt nicht mehr so fit, und es wären doch gut an die drei Meilen, (piep!) und (piep!) noch einmal! Als wir dort nach wortloser Fahrt anlangten, stieg er aus, bedankte sich und fragte: "Warum hast Du mich vorhin Merlin genannt?" Ich konnte ihm keine Antwort geben, und kopfschüttelnd verschwand er in Mollys Lasterhöhle, (piep!) Ausländer murmelnd.
In Wexford schaute ich nicht schlecht, als ich vom Mittagsspaziergang im Hafen zum Auto zurückkehrend einen Gutschein der örtlichen Polizei (Wert: 50 Pfund) hinter dem Scheibenwischer vorfand. Für 50 Pfund (einem schlappen Tausender vergleichbar) gehe ich meilenweit, genauer gesagt rund zwei Kilometer bis zur Polizeistation, bergauf. Dort angekommen, verwandelte ich mich blitzschnell in einen minderbegabten, ängstlichen Alpenländler, nospiek inglisch. Kann nix Verkehrstafeln lesen. Nix verstehen, Herr Inspekta, was ist das für'n Gutschein?
Aufgeregtes Summen im Bienenstock. Telefonate, ein Funkgespräch: "Jamie, Du hast einen depperten Touristen erwischt! Was können wir da machen?" Ich drücke mir die Daumen und bete leise zum Hl. Brendan, dem Schutzpatron irischer Seefahrerinnen und -fahrer.
Der Constable hinter der Glasscheibe linst zwei dreimal zu mir, nickt heftig, beschreibt mich ausführlich (kann ich hier nicht wiedergeben, aber den Kerl kaufe ich mir vielleicht noch...). Gebell am anderen Ende, dann nickt der Mann und legt auf. Zu mir gewendet sagt er: "Okay, Du das nix zahlen, nix fifty Pfund, wir machen Blablabla mit Autovermieter." Na, der wird sich bedanken, denke ich, aber wozu bin ich denn vollkaskoversichert?!
Dann sagt er noch: "Du gehen zu Auto, Jamie warten dort."
Mich irritiert das leicht amüsierte Irrlichtern in seinen Augen (da hat's was, gell, aber was?!), nehme all meine Sprachkünste zusammen und verabschiede mich "unterthänigst". Und raus aus dem Tempel, hatsche zum Auto, das inzwischen beinahe drei Kilometer weit weg steht, weil ich eine Abkürzung nehme.
Unterwegs male ich mir aus, daß Jamie, der Knilch, wahrscheinlich einen Drink oder so werde haben wollen. Auch gut, die zwei-drei Pfund ist mir die Sache noch wert. Aber ich sollte den Tag nicht vor dem Abend loben.
Beim Wagen stand Jamie, das war schon von weitem sichtbar.
Genauer gesagt stand Jamie da, und ganz klein daneben duckte sich mein kleines rotes Starletterl aus Japan im absoluten Halteverbot. Meine Füße stockten anfänglich, als ich Jamie sah, aber dann ging ich wohl oder übel weiter.
Als ich dann einlangte, die Augen etwa auf Höhe von Jamies Gürtelschnalle, brachte ich nicht viel mehr als "Hi, Ma'am!" raus.
Jamie reckte ihre Schultern zurück, so daß sich die beiden gewaltigen Kuppeln des Duomo di Milano über mir wölbten, und dröhnte herab: "Also, Sie sind das, der meint, er könne die irischen Tafeln nicht lesen! He, Leute, seht her, das ist das Dromedar aus dem fernen Austria, das diese Tafel, bitte sehr, diese Tafel hier, nicht lesen kann!" und wies dabei anklagend auf die runde blaue rot-gerandete Tafel mit rotem X darinnen (Sie können sich ja eine beliebige Halteverbotstafel in der Mariahilferstraße anschauen, wenn Sie nicht wissen, wie das absolute Halteverbot ausschaut, Sie Dromedar...).
Es folgte nun eine zehnminütige Belehrung über Verkehrszeichen und Bodensignale. Wie man geht, wie man steht. Wo man links, wo man rechts guckt. Wann geblinkt wird und wann nicht — außer, man kommt vom Kontinent, wie Jamie höhnisch vermerkte. An welchen Sonn-, Feier- und Banking days man wo warum nicht mehr halten darf, außer, es wäre an einem Dienstag. Doppelte gelbe Linie: "Hier darf auch einer aus Austria nicht stehenbleiben!" Einfache gelbe Linie: "Hier darf man kurz zum Be- oder Entladen stehenbleiben!" — "Ma'am", sage ich, "Ma'am, da ist aber nur eine gelbe Linie!" Jamie hält inne, sieht ungnädig auf mich kleinen Erdenwurm herab, der sie zu unterbrechen wagt: "Jetzt schnattern Sie nicht, da sind zwei gelbe Linien!" Ich gebe nicht auf. "Ma'am," sage ich, "da vorne sind zwei gelbe und da hinten auch, aber hier, wo ich und mindestens noch zehn andere Autos stehen, ist nur eine gelbe Linie!" Jamie knurrt etwas nichtenglisches, (vermutlich (piep!)), geht kurz straßauf-straßab, beugt sich neben den Autos hinunter und konstatiert schließlich: " Das muß beim Asphaltieren des neuen Belags passiert sein, da, sehen Sie, es sollte eigentlich doppellinig weitergehen, aber da hat man den Belag einfach drübergeklatschgert (spoiled over, wenn Sie nicht glauben, daß ich weiß, was klatschgern auf englisch heißt)!"
Jamie schrumpft ein wenig, ich wachse ein wenig, nun kann ich bereits die verschwitzten Abdrücke ihres Wonderbra unter dem Uniformhemd erkennen. Wäre sie nicht so verkrampft um Amtlichkeit bemüht, sie wäre eine ganz nette Lady. Ein bißchen streng zwar und auch etwas kantig, aber wenn ich sie mir so in Leder, mit Maske und einer Peitsche vorstelle ... "Sie amüsieren sich" konstatiert Jamie streng und zugleich unsicher, wie sie mein freches Grinsen deuten soll. Ich sage: "Wissen Sie, Ma'am, ich bin jetzt einige Tage in Irland: ein wunderbares Land! Aber noch mehr bin ich ein Bewunderer der irischen Frauen geworden, die haben das Herz am rechten Fleck, verbeißen sich tapfer in ein Problem und bleiben dran wie Bullterrier. Das ist etwas, was mir sehr gut gefällt!"
Bingo, sie fährt sich einmal ordnend durchs Haar: "Kein Ire sieht die Frau, wenn man eine Uniform anhat, im Dienst sollen sie mich ja auch nicht als Frau sehen. Und was die Bullterrier anlangt" mir bleibt für eine Sekunde das vorlaute Herz stehen, "das sehen Sie zu übertrieben. Ich bestehe ja nicht auf einer Doppellinie, wenn sie nicht gut sichtbar ist, aber das wären dann trotzdem zwanzig Pfund!" Die Hälfte von Fünfzig Pfund sind zwanzig Pfund, klar.
Bevor ich einen weiteren falschen Weg über Uniformen und "mein Gott, siehst Du aber gut darin aus" einschlage, noch ein wenig Süßholz nachlegen: "Natürlich sind Sie in erster Linie Polizist und so sollten Sie im Dienst auch gesehen werden (Entschuldigung, den Text habe ich aus einer dieser unsäglich langweiligen Samstag nachmittag-Soaps, Cagney und Lacey oder so. Doch jetzt kommt die Original István`sche Überleitung, die Sie, liebe Leser und — innen, schon bestens kennen:). Aber wenn ich Sie mir so ohne Uniform vorstelle (hoppala, zu früh), also in Zivil oder in Casual dress (Korrektur gelungen), dann sehe ich eine fesche Irin mit Herz und Charakter."
Jamie rückt inzwischen einen guten Schritt von mir ab, einige Leute stehen um uns herum und gaffen. "Don't imagine me without the uniform!", droht mir aber lächelnd mit dem Zeigefinger und dreht sich mit einer koketten, zackigen Wendung ab, schlendert Richtung Hafen und guckt noch zweimal unauffällig zurück, ob dieser schlüpfrige Typ aus Austria endlich verschwindet. Was der auch glatt tut.
An diesem Abend, lieber Arnold, belohnte ich mich mit einem dreimal so großen Steak wie Du damals im Planet Hollywood bekamst und habe das letzte Viertel erst nach einer längeren Rauchpause geschafft, (The Coach House, Roundwood bei Newtown Kennedy, 9.95 Pfund inkl. Gemüse, Salat, jungen Kartoffeln UND Pommes), und für den Rest habe ich das eine oder andere Bierchen auf das Wohl von Jamie gehoben (dieses grausliche Alkoholfreie von Schmeck's, wegen des Starlets, you know?).
Später erzähle ich Mike, wie ich im Hochmoor beim neolithischen Steinring dem an sich friedlich grasenden Bock auswich, der, vom Blitz meines Fotoapparates aufgeschreckt, einen harmlosen Hornstoß in meine Richtung vortäuschte, so daß ich, nun meinerseits erschrocken, einen heftigen Satz zur Seite machte, nicht bedenkend, daß ich auf im Moor plazierten Steinen stand: dabei fiel mir doch glatt das Handy ins Moorwasser (liebe Fiona, das sind 9 (neun) Kommas, und die bleiben bitte auch!). Reflexartig griff ich nach diesem Kleinod schwedischer Handwerkskunst und rettete es vor dem Untergang. Nach einer Schrecksekunde wußte ich, was zu tun sei: hinsetzen, sofort Wien anrufen, daß das Handy wahrscheinlich perdü bzw. ertrunken sein wird, damit jene nicht meinten, ich wäre verschollen. — Wenn mich allerdings jemand aus Irland anriefe, daß ihm gerade sein Handy "ertrunken" sei, nun, ...
Mike haut sich auf die Schenkel und erstickt fast vor Lachen, als ich ihm schildere, wie dieses Bild ausgesehen haben muß: inmitten des alten heidnischen Druidendenkmals sitzt ein Irrer, handyphoniert auf deutsch und aus seinem Handy tropft Moorwasser. Die 4 oder 5 Italiener, die gerade ums Eck biegen, starren fassungslos, als der telefonierende Typ zu allem Überfluß auch noch sagt: "Questoqui è un Druidofono — funziona solo con acqua, veramente!" und dabei das Wasser aus dem Apparat tröpfeln läßt. Für Mike übersetze ich: "Das da ist ein Druido-Phon, es funktioniert nur mit Wasser, wirklich!"
An diesem Abend läßt mich Mike die Geschichte wohl zehnmal erzählen, jedesmal, sobald neue Freunde im dröhnendlauten Pub auftauchen. Dazu trinkt er Bier in Quantitäten, und ich schreie seiner Jungfer Mary, die zwischen Mikes und meinem Barhocker eingeklemmt auf unseren Oberschenkeln sitzt, ins Ohr: "Mike muß aber eine verdammt große Blase haben!" und meine damit natürlich, daß er bislang nicht ein einziges Mal Pipi gegangen ist.
Mary wird wieder Erwarten vom Haar bis zum Brustansatz rot und blickt zur ausgestopften Auerhenne über der Bar; offensichtlich habe ich etwas sehr Falsches gesagt. Mike fragt nach, also erkläre ich, daß ich mich wundere, daß er nicht Pi geht nach 4 oder wieviel Litern Schwarzwasser von Guinness. Er grinst, kramt aus der Tasche eine Ein-Penny-Münze und sagt: das ist ein Pi. Ich wittere Spaß und krame eine Zwei-Penny-Münze heraus: das ist ein Pi-Pi. Mike kramt nun ein Fünf-Penny-Stück hervor und hält es Mary unter die Nase: na? Aber Mary schenkt uns zweien nur giftige Blicke und setzt sich weg. Irischer Humor, den ich nicht so ganz begriff, aber Mike lachte laut und lang.
Immer wieder muß Mike Lieder von W. Ambros, Franz A. Heller oder R. Fendrich singen, mehr falsch und laut als schön brülle ich auch mit: niente Sandale, lauter Skandale, undsoweiter, den Text werden Sie ja wohl kennen (ich natürlich nicht). Dann erzählt Mike von seiner Reise nach Österreich: in Wiesen war er, bei einem Jazzfest. Und ein tolles Essen gab es auch bei seinen Freunden in Niederösterreich: am besten haben ihm die " Saumösen" geschmeckt. Ich verkutze mich fast an meinem Dünnbier und sehe ihn tief luftholend an: say it again, please! Bitte ihn dann, sich "Saumaise, Maise Maise Maise" zu merken und das andere No-no-word nicht mehr zu verwenden. Als ich No-no-word sage, erwacht Mary's Interesse, und jetzt will sie unbedingt wissen, was es heißt. Auf ihrem T-Shirt prangt Jon Bon Jovi's Portrait, also greife ich vollmundig etwa dorthin, wo — in Gedanken verlängert — Bon Jovis Bauchnabel sein müßte und sage: das ist es! Ich bin dann allerdings selbst etwas verdattert, weil sie mich ohne mit der Wimper zu zucken ganz gelassen ansieht und nicht im Geringsten verlegen wird. Irische Mädchen, die ich nicht ganz begriff, aber wir lachten dann beide laut und lang.
Intermezzo (gewidmet all jenen, die mich zu kennen glauben): also, ich weiß ja nicht, wie es Ihnen damit geht, aber immer, wenn ich mich verliebe, wird`s himmeltraurig! Das ist ja der Grund, warum ich hier durch die regennasse Landschaft brause und Bäume zärtlich umarme: entweder eine unglückliche Liebschaft, die mich ganz besonders schmerzt. Oder ein unglücklicher Schmerz, den ich ganz besonders liebe. Oder eine ganz besonders Unglückliche, die ich schmerzhaft liebe. — Ich umarme noch einen bemoosten Baum (der Tradition zufolge soll dies die Fruchtbarkeit steigern) und rase weiter durch Südirland. Natürlich wird sich der eine oder andere nachfolgende Autofahrer etwas gedacht haben, aber mir ist es gleich: sehe ich einen bemoosten Baum, bremse ich mich voll ein, lasse den Motor weiterlaufen und springe hinaus in den Regen, umarme und küsse den Baum und dann geht's gleich wieder weiter. Soviel Zeit muß für die Fruchtbarkeit sein, finden Sie nicht? — Welch ein Aufwand, denke ich beim letzten Baum vor dem Paß, mein Gott, wenn es wenigstens nicht so regnete! Was soll's, da muß ich durch, muß leiden und weinen und weiter Bäume umarmen. Der bittere Schmerz des Verliebt-Seins nimmt proportional zur moosgrünen Verfärbung meines hellen Pullovers ab — ach, ist das alles kompliziert! Istváns Privatleben, das wahrscheinlich niemand versteht, aber bitte lacht trotzdem alle laut und lang.
Heute morgen werde ich schon zum dritten Male überfallen. Clyde hält mir seine Knarre an den Schädel, Bonnie hält etwas unsicher ihr orangefarbenes Lasergewehr an meine Brust, von dessen Lauf etwas Wasser auf meine Hose tröpfelt. Clyde quetscht zwischen den zusammengekniffenen Lippen eastwood-mäßig hervor: "Fremder, 20 Pi für Snoopies (Süßigkeiten), sonst hat Deine letzte Stunde geschlagen!". Ich krame in meiner Hosentasche und lege die Münze in seine kleine, frech fordernde Hand. "Und noch 20 Pi für Eli...äh, Bonnie, sie kriegt auch was Süßes!" und wieder krame ich eine Münze heraus. Bonnie beißt sich etwas unsicher auf die Lippen, sieht dann zu ihrem großen Bruder hinauf, und als der nickt, steckt sie nun die Beute flink wie eine Möwe (Larus larus, ach was, sehen Sie doch selbst nach!) ein. Der Bandit sieht mich mit einem erbarmungslosen Blick an und meint: "Es ist trotzdem aus, Stranger, bete Dein letztes Avemaria" und "päng päng päng!" spritzt er mir die volle Ladung aus seiner Wasserpistole ins Gesicht.
Bonnie drückt verzweifelt auf ihrem Lasergewehr herum, aber das will nicht so richtig. Ich helfe der Siebenjährigen und drücke ein paarmal auf den Pumpmechanismus, der wirklich etwas klemmt, und dann bekomme ich meine volle Salve. Aaargh! Wie ein getroffener Godzilla würge ich die Luft mit meinen rudernden Armen, sinke in die Knie und verröchle elendiglich zuckend im weichen Gras. Wild kreischend rennen Bonnie und Clyde mit tropfenden Colts (rauchend wäre wohl nicht passend) um mich herum und johlen.
"Kevin, Eliza, kommt ins Haus, laßt den Gent aus Österreich zufrieden!" ruft Witwe Plunkett und eilt besorgt auf den tödlich getroffenen Alpenländler zu. "Warten Sie, ich bringe Ihnen schnell ein Plaid (Wolldecke, siehe oben), geben Sie mir die nassen Sachen zum Aufhängen!" Ich beschwichtige die Witwe Plunkett, lehne aus bestimmten Gründen (siehe oben) das Plaid und die Hosentrocknerei kategorisch ab. Die Witwe Plunkett ist, das wird Ihnen sicher bekannt sein, eine direkte Nachfahrin des William Robert (eig. Joseph) Plunkett, einem der Rädelsführer des Sinn-Fein-Aufstandes von 1916, wo er und viele andere unter der Führung der polnischen Gräfin Mankiewicz (!) in der St. Stephens-Green-Parkanlage von Dublin um ihre (welche? wessen?) Freiheit fochten. W. R. Plunkett (hier tränte und schniefte die Witwe zum Gotterbarmen, so daß ich beruhigend eine Hand um ihre bebenden Schultern legte), also W. R. Plunkett wurde danach von den Inglesi folgerichtig füsiliert, die Todesstrafe der adeligen Mankiewicz aber wurde in 6 Jahre Haft (nach zweien vorzeitig entlassen) umgewandelt (hier bebte die Witwe Plunkett voll Zorn ob der sozialen Ungerechtigkeit und schüttelte meine therapeutisch umgelegte Hand energisch ab, setzte mich schniefend und schneuzend vor die Videoaufzeichnung England gegen Marokko, legte mir behutsam das Plaid auf die Knie und entschwand mit meiner nassen Hose in ihrem Reich).
Nein, Deirdre, nein! Nur um Deiner Seelenruhe willen werde ich jetzt nicht abschwächen, wie z.B.: "Die Witwe Plunkett, bei der ich übernachtete, war sehr liebenswürdig, geschwätzig (siehe William Robert usf.) und geschäftig; ihre Kinder waren mindestens in meinem Alter, rotgesichtige, arbeitslose Trinker mit mäßigem IQ, die von Mutters Bed & Breakfast lebten und mich beim Frühstück hinterhältig belauerten, als ob ich ihnen etwas wegfräße." Darüber hinaus, liebe Deirdre, wären meine G'schichterln absurd, würde ich mit zwei Fünfzigjährigen Wildwest mit Wasserpistolen spielen (höre schon Mrs. Plunkett's Kommentar: "jetzt saan die total deppert wurn! Spüüln Bonnie und Clyde im Garten! — Dann schon lieber Alzheimer!"). Sodala, und nun fahre ich weiter (jetzt kann das mit dem Bäumeküssen wieder kommen).
Außerdem lieben es einige wenige Iren, uns Touristen wie blödes Federvieh zu rupfen. 25 Pfund (ca. 450 öS) für ein riechendes, mäßig reinliches Bett, eine nicht funktionierende Dusche und der schlechten Kopie des oben beschriebenen irischen Frühstücks lassen Rachegelüste aufkommen. So reichte ich eines morgens den Brotkorb mit dem Hinweis, das Brot würde bereits grün schimmeln, im ganzen Frühstückszimmer beifallheischend herum. Die Dame des Hauses tauschte es hastig gegen frisch Getoastetes aus. Beim Zahlen ließ sie mir 5 von den 25 Pfund nach und entschuldigte sich tausendmal, kopfschüttelnd, daß sie wirklich nicht wisse, wie denn das Brot schimmeln konnte... Ich verließ ihr Hochpreisetablissement und dachte im Stillen, daß ich ganz gut daran getan hatte, damals nicht alles an die Vögel verfüttert zu haben....
Im Nachhinein muß ich stumme Abbitte jenem armen Iren leisten, der mich im Coffee Shop gegenüber dem 1741 errichteten Palast Richard II in Waterford (heute Bischofssitz) sehr freundlich und höflich ansprach: "Und, wie geht es dem Papst so in Wien?"
Ich bin in solchen Situationen erfahren und souverän und erläuterte geduldig, daß der Papst in Rom sei.
"Nein, in Wien", meinte er halsstarrig, so daß ich ihm eine etwas weiter ausholende Abhandlung über Habsburger, Hofburg, Spanische Reitschule und Lipizzaner verordnete, gipfelnd in der — an sich nicht falschen — Belehrung, daß der Papst in Rom, genauer gesagt im Vatikanstaat, lebe und das seit dem Staatsvertrag, geschlossen mit Italiens König Emanuele im Jahr ...
Nein, der Pope sei in Vienna, nicht in Rome, beharrte mich(!) unterbrechend(!!) der Knilch, und Emmanuelle sei in Irland auf dem Index, ein sexistischer Schund sei das, jawohl, er habe das Video nur einmal und da auch nur widerstrebend bei seinem Neffen Brian....
Mir schwoll der Kamm und ich zischte ihm ziemlich giftig zu, Emmanuelle könnte man frühestens ab den Folgen mit Laura Gemser als Schund bezeichnen, und der Papst würde ganz sicher in Rom leben, ich hätte ihn dort selbst etwa um 1967 gesehen, und er solle doch mir bitteschön nicht erzählen, wer nun in Wien sei und wer nicht....
Zu meinen Lipizzanern, die aus Jugoslawien und nicht aus Italien kommen, meinte der Besserwisser, daß die doch bekanntermaßen aus Spanien und dorthin mit den Mauren aus dem nördlichen Afrika gekommen wären, die Habsburger nebenbei seien Schweizer aus dem Aargau; nur die Hofburg ließ er mir gnädigerweise. Als er dann auch noch Fußballkenntnisse vorzuweisen meinte und ich ihm triumphierend entgegenhielt, wir Österreicher bräuchten die ersten 89 Minuten gar nicht, uns genüge die eine und damit 90. Minute, um zu siegen, da verstummte er kopfschüttelnd und ließ mir endlich meinen Pope in Rome.
Im Flugzeug erst traf mich dann beinahe der Schlag, als mir beim Einstieg die Kronenzeitung entgegenlachte: Papst wieder nach Rom abgereist — Schönborn nächster Papst?
Das, vermute ich heute, war meine letzte Begegnung mit Muirlinnhe, dem seltsamen Zauberer König Arthurs.
Endlich liefen meine Geschäfte so gut, daß ich mir einen eigenen, neuen Computer leasen konnte — die Freude hielt aber nicht lange, denn der Hersteller hatte offenbar im Übereifer der Kosteneinsparungen doch die falschen Leute hinausgeekelt, und die Billigkräfte, die noch bleiben durften, kamen weder mit den Kunden noch mit den Programmen zu Rande. Unter uns gesagt, die Verwaltung war ganz schön im A....ähh, Argen.
Mein Dilemma war ein mehrfaches. Einerseits war ich zahlender Kunde und wollte mich nicht mit einer derart miserablen Behandlung zufriedengeben. Darüber hinaus hatte ich Projekte mit Computern desselben Herstellers und konnte nicht gut ins eigene Nest pissen. Drittens aber war ich Chefredakteur der einzig wahren und schönsten Zeitung, die der Verein der Fans dieser Computerreihe unterhielt. Natürlich ist der Begriff Chefredakteur in einer Einmannredaktion vielleicht etwas hoch gegriffen, aber was wahr ist, muß wahr bleiben.
Das war das vierte Problem. Es war wahr, daß dieser Hersteller den zu jener Zeit besten Computer erzeugte. Es war aber auch wahr, daß einige seiner Verwaltungsmitarbeiter offensichtlich völlig überfordert waren und die Kunden tief verärgerten. Die Zeitung mußte berichten, aber wie?
Not macht erfinderisch; also bat ich meinen Freund Quintilius Tertius Faber aus der lateinischen Provinzstadt Vindobona um einen Gastkommentar. Nicht ahnend, daß diese humorvolle Glosse mir das Genick als Chefredakteur brechen sollte...
von Quintilius Tertius Faber, Unio COMPUTANDI Latina
Quintilius Tertius Faber amici sui ad Unionem COMPUTANDEM salutat —
Apollonia, die erstbeste aller Ehefrauen, hatte eigentlich die Idee: "Der Verein ist Ihre Lobby, Ihre starke ..." zitiert sie aus irgendeinem Zettel, den sie wahrscheinlich am Markt oder sonst wo zugesteckt bekam — in Wirklichkeit hat das alles mit uns nichts zu tun, verlassen Sie sich drauf. "Außerdem haben sich ja die bisherigen Redakteure verdrückt" zieht sie ein Schnoferl, "da können wir nun der Aufforderung, über unsere Erfahrungen zu schreiben, nachkommen!" Ja, wir. Wir, das sind ich.
Ein Wort zu meiner Person: Ich leite die Beschwerdeabteilung unserer kleinen Firma (uns bedeutet hier: Apollonia), alles andere leitet sie. Vom Design über die Produktion bis hin zur Auslieferung. Allein in Rechts- und Geschäftsfragen läßt sie sich fallweise von mir consultern (Eheliches ausgeschlossen). Als Ehemann habe ich eine schwer zu beschreibende nicht-aber-doch-irgendwie-Funktion in ihrer unserer Firma.
Am liebsten sitze ich in meinem Büro, in der Reklamationsabteilung, und schaue den Friedhofsspatzen zu. Apollonia hat mir dringend aufgetragen, unsere Firma in diesem Beitrag auf jeden Fall zu erwähnen, man weiß ja nie. Ich vielleicht schon. —
Fallschirmschneidermeister hätte ich damals werden wollen, jawohl, aber dann traf mich Apollonia, Tochter eines reichen Steinmetzen, und ich legte Zwirn und Ahle zur Seite. Ich kann ja so schlecht nein sagen, weiß Gott! Also, da sind wir, Apollonia und ich, mit unserer FABER GRABSTEIN CONSULTING GmbH. Wir liefern prompt und frei Haus (also, sozusagen hinüber zum Gottesacker), zu besten Konditionen, Grabsteine in allen Größen und Varianten, in echtem Marmor, echtem Marmorersatz oder in echtem Kunststoff, marmorlooking.
Vielleicht reicht das, Apollonia würde hier sicher mehr sehen wollen, aber ich denke an Eure Zeitung, wo man ja nicht zu viel Eigenwerbung machen soll. Trotzdem, noch als Letztes: solltet Ihr — so wie wir es mit unserer Unio Computeris Latina machten — diese dereinst zur letzten Ruhe betten wollen, dann bekommt Ihr grabsteinmäßig die besten Konditionen von uns. Uns, das sind eigentlich nur Apollonia, denn ich stehe nur der Reklamationsabteilung vor (Hinterbliebene ausgeschlossen!).
Eines Tages beschlossen wir also, unsere alte PRAETOR-Rechenanlage von Rufus durch eine moderne von Businoxx Machinibus Internationalis (BMI) abzulösen. Die Beratung verlief glatt, alles war in Ordnung, der Businoxx-Verkäufer strahlte und wir fragten uns schon, ob er uns nicht so etwas wie das Grabmal Julians verkauft hätte. Aber hinweg mit den trüben Gedanken, denn der horrende Einmalzahlviel-Preis wurde durch ein attraktives Ratenzahlweniger-Angebot der Businoxx gemildert, wir hätten nur zwei Handvoll Sesterzen jetzt und später kleine Händchenvoll Sesterzchen monatlich zu zahlen. Wir fragten noch Apollonias Onkel, einen gallischen Hinkelsteinlieferanten, was er zu diesem vorteilhaften Vertrag meine, aber dann bestellten wir — trotzdem.
Schneller als ein phrygischer Schnellläufer schnelllaufen kann flatterten Bestellscheine und Verträge von Businoxx herein, und Apollonia witzelte noch: no job is done until the paperwork is done, ein Spruch, den sie vermutlich von einem der skythischen oder piktischen Sklaven aufgeschnappt haben mochte. Wir öffneten die sorgsam versiegelten Papyrii. Und erstarrten.
Die nun folgenden, gar gotteslästerlichen Flüche will ich Euch hier ersparen, soviel sei nur gesagt, daß von Gottvater Jupiter bis hin zum germanischen Loki alle ihr Fett abbekamen. Was sollte das?! Die Verträge — es waren V, — waren auf V (fünf!) unterschiedliche Firmen ausgestellt, von J.F. Faber, Verkauf automotiver Bicycli über Gutemine Faber, Senatorin bei der Businoxx selbst, bis hin zum Gemüsehandel Faber & Faber, ja und richtig, auch Faber Castellum, der Schreibfedernerzeuger, fehlte nicht.
Ein erboster Anruf ließ den Schreibsklaven bei Businoxx erbleichen, jedoch riet ich Apollonia zur Mäßigung, denn der arme Kerl könne am wenigsten dafür. Doch konnte ich seinem Gestammel entnehmen, daß dies eine manchmal auftauchende Fehlfunktion der Textverarbeitung sei, nein, man verwende nicht die eigene von Businoxx bei Businoxx, sondern jene von Microproxx, die ach so beliebt sei allenthalben und allüberall, selbst bei den Piraten in Taiwanium. Apollonia und ich kuckten uns an: ja, hatten wir vielleicht doch das Falsche bestellt? Die schlaflose Nacht, die ich — um der Wütenden zu entkommen — inmitten bzw. auf unseren kalten Eigenprodukten verbrachte, vergesse ich nicht so schnell.
Jedenfalls, nach einigen Tagen erhielten wir durch eine freundliche Businoxx-Sklavin die Nachricht, daß die Verträge nun berichtigt und alles bereinigt sei; dies war dann auch tatsächlich der Fall. Also waren wir beruhigt, unterschrieben und siegelten alles (Consul T. Ing. Faber klang gegenüber Consulting Faber sehr geschwollen, vermutlich war die Businoxx-Textverarbeitung bzw. jene von Microproxx wohl wieder mal eingedröhnt und durchgeknallt).
Die lauen Märztage gingen ereignislos vorbei, ich saß spatzenbeobachtend in meinem Büro und war froh, daß vom Gottesacker kein Reklamant zurückkam — da passierte wieder etwas.
O Freude, o Jubel, o Heiterkeit! Die oops! (objekt-orientierter Paketservice) lieferte den in Kartonpapyrus eingepackten Abacus Electronicus AE/CCCC samt allem Zubehör einschließlich vieler Papyrii, Cartonii und Manualii, aber auch dem ELP/CCCC (erstes lebendiges Programm/400) auf vielen kleinen Discii Compacti, mit dem man der AE/CCCC erst einmal das künstliche Leben einhauchen mußte, installare necesse. Apollonia und ich mußten aber erst den auf die vielen Bacchanalien, Saturnalien und sonstigen Feste folgenden Grabsteinstreß überstehen, bevor wir uns — ausgenüchtert — dem neuen Abacus zuwenden konnten.
Welch eine Freude, diesen wahrhaft virilen schwarzen Genossen inmitten unserer ebenfalls nicht unattraktiven schwarzen Marmor-, Marmorersatz- und Kunststoffgrabsteine stehen zu sehen!
Doch bevor ich noch meine vage Idee eines neuen Grabsteinmodells in Abacusform fertig denken konnte, meinte Apollonia, sehen wir uns doch mal die vielen Papyrii an, vielleicht ist was Wichtiges dabei, ein Ridmi-först, oder wie die Leute bei Businoxx so sagen. Wir sahen also alles für die neue AE/CCCC durch, soweit schien ja alles in ordine zu sein, aber uijegerljeeh, die Lizenzsiegelung aller Programmdiscii Compactii lautete (diesmal einheitlich) auf Gutemine Faber, der bekannten Senatorin bei Businoxx selbst, eine herzensgute Person mit großer Allgemein- und ebensolcher Spezialbildung, mit der wir aber in keinster Form verwandt sind und deren Geschäfte mit unserem Geschäft, der FABER GRABSTEIN CONSULTING GmbH (ich soll das hier wieder erwähnen) rein gar nichts zu tun haben.
Also wieder Anruf bei Businoxx, fingerknöcheltrommelnd, gepreßt keuchend, brustwogend. Nein, wir sind nicht die, für die wir gehalten werden. Wir haben Kunststoffsteine im Marmorlook und solche aus echtem Marmorersatz sowie auf Anfrage auch echtes Marmor, aber wir sind nicht die ehrsame Senatorin Gutemine F., sondern A. & Q.T.F. Ob man das nicht irgendwie fixieren könne, es gehe ja nicht an, daß wir bei jeder neuerlichen Sendung über oops! oder Littercom rätseln müssen, ob wir nun wir sind oder nicht. Die freundliche Schreibsklavin hauchte ihr "aber ja gerne" in die Telemuschel und versprach, die Sache ein für alle Mal auszumerzen. Ja, mehr noch, sie schickte ein e-Mailium über das UUU (Urbi Urbani Ubique, das weltumspannende Römernetz) zu uns, nach Hibernia und auch sonst noch wohin, um alle über die Fabers und deren Namensrechte aufzuklären. Nicht zuletzt schickte sie uns augenzwinkernd ein digitalzertigesiegeltes e-Mailium, in dem versichert wird, daß wir, die echten Fabers, die Produkte von Businoxx Machinibus Internationalis zu Recht auf unserem Abacus Electronicus /CCCC einsetzten. Jawohl.
Nach diesem letzten e-Mailium gaben Apollonia und meine Wenigkeit ein kleines Fest, es gab Auerochs-Kaldaunen in Honig und — ach was, das gehört wirklich nicht hierher. Jedenfalls freuten wir uns, die Fabers zu sein, FABERS GRABSTEIN CONSULTING GmbH, um genau zu sein (Verzeihung, aber das muß sein). Fredericus aus Carinthia und Antonius aus Pannonia und viele andere Freunde sprachen der Cervisia aus Noricum bis zum frühen Morgen zu. Dann kam die Littercom und brachte einen Eil-Einschreibeletter. Von Businoxx.
Nachdem sie den (erstaunlicherweise richtig) an uns adressierten Letter gelesen hatte, riß sich Apollonia die Toga vom Nabel bis zum Knie auf, schrie Mord und Totschlag und drohte, den funkelnagelneuen Abacus Electronicus mit einem Zwölfermeißel zu malträtieren. Nur mit Mühe gelang es den nubischen Dienerinnen (copyright by Wolf, Gang), sie zu beruhigen und ins Budovarium zu geleiten. Die Gäste und ich staunten nicht schlecht, als wir lasen, daß die Businoxx uns eine 1. Mahnung auf den für den letzten Monat fälligen Ratenbetrag über eine Händchenvoll Sesterzen schickte. Aber — wir hatten doch vertraglich vereinbart, daß nach der Anzahlung die erste Rate an den nächsten Saturnalien fällig sei, also etwa in 14 Tagen?!
Entschlossen setzte ich mich gleichentags hin und verfaßte einen nicht ganz humorlosen, jedoch ernst gemeinten Letter an die Businoxx, direkt an Quirinus Schlapfus, den Hüter der Sesterzen und sonstiger Pecunia. Ich teilte ihm die Faktenlage mit, kopierte die Originalia und schickte alles mit einem zuverlässigen Eilboten.
Tagelang saß ich nun vor meinem Büro, sah eher lustlos meinen Spatzen zu und wartete ungeduldig auf Antwort. Statt eines Boten, des erwarteten, kam wieder ein Uniformierter der Littercom und brachte einen Einschreibeletter an die Fabers. Das sind wir, wie alle inzwischen wissen. Wieder war der Letter von der Businoxx, und nichts Gutes ahnend, öffnete ich ihn, ohne Apollonias Rückkehr abzuwarten.
Die bei Businoxx müssen wohl völlig verrückt geworden sein: eine 3. Mahnung (wo blieb die 2.?) über die nämliche Händchenvoll Sesterzen, eine in grauenhaft-gequältem Latein maschinenverfaßte Warnung, daß die Businoxx nun all dies leider-leider einem Advocatus übergeben haben werde müssen und noch soundsoviel an Verzugszinsen einheimsen werde, da wir säumige Fabers die Sesterzchen, die bis zum Vor-Vor-Vormonat fällig waren, nicht berappt hätten!
So wahr ich Quintilius Tertius Faber heiße: mir blieb der Mund offen ob solch einer Frechheit, die mir bisher weder bei hibernischen Faustkämpfern noch bei fränkischen Austernlutschern begegnet ist (diese Vergleiche mögt Ihr bitte nicht als rassistisch einstufen). Anderseits mußte ich befürchten, daß sich Apollonia gar ihrer ganzen Toga entledigen würde in ihrem Schmerz, also griff ich wild entschlossen zum Sprechophon und rief den Hüter der Sesterzen und sonstiger Pekunia, Quirinus Schlapfus, zornig an, ließ Schnörksel und Humoriges weg und fragte ihn frank und frei, ob er denn einen Archaeopterix oder gar Helikopterix in der Birne habe: eine dritte Mahnung mit Advocatus, obwohl die erste Rate laut Vertrag erst in 10 Tagen fällig werde?! Er blieb cool und wolle sich die Sache erst ansehen, doch hinter seiner Coolness spürte ich sein gelangweiltes Desinteresse an mir imperialem Sub-subjekt. Als ich beiläufig erwähnte, daß ich letzthin einen lybischen Löwen mit bloßen Händen zerrissen habe, versicherte er eilfertig, der Sache sofort nachzugehen und zurückzurufen — er muß ja nicht wissen, daß es sich um eine Abbildung auf einem Zeitungspapyrus gehandelt hatte...
XL Minuten später zirpte mein Handyphonium, Quirinus war dran. Tja, er habe sich alles angesehen, der Mahnungstext wäre ja überhaupt total falsch, denn es ginge eigentlich um die Anzahlung, die diesem Abacus fehle, aber (hier unterbrach er meine aufbrausende Unterbrechung schnell) er wisse, daß wir die Anzahlung schon vor Monaten geleistet haben, weil er dies in einem anderen Abacus Electronicus sehen könne. Nur sei halt dies der eine Abacus und das der andere Abacus, und — er legte die scherzhafte Platte ein — Sie wissen doch, diese uralten Lochkartenprogramme, nichtwahr? Und nöö, ich bräuchte nichts weiter zu tun, er habe inzwischen in allen Abaci Electronici den Sachverhalt korrigiert; die Mahnungen könne ich getrost und ohne weiteres Nachdenken rezyklieren. Als ich endlich zu Wort kam, verstand er überhaupt nicht, was ich damit meinte, die Businoxx möge sich gefälligst selbst einen guten Abacus kaufen und gute Programme noch dazu. Ein Schuster könne doch auch nicht in abgetretenen Sandalen, ein Fleischer nicht mit Fleischvergiftung und ein Grabsteinhändler — ähämm, da war's dann mit meiner Argumentation auch schon aus.
Also, Apollonia habe ich das alles erst erzählt, nachdem definitiv alles ausgestanden war. Sie war mir einerseits dankbar, daß ich ihr diesen Nervenzusammenbruch erspart habe. Andererseits habe ich vor kurzem mitbekommen, daß sie, während sie im Budovarium ihre Zehennägel mit rotem phönizischem Purpur anmalte, mit ihrer Freundin Elena handyphonierte und so beiläufig darüber sinnierte, was es uns kostete, von Businoxx auf Microproxx umzusteigen — diese sei zwar auch nicht besser, aber billiger?
Liebe Feunde von der Unio Computandi, Ihr habt vielleicht diese Probleme mit Eurem Abacuslieferanten nicht, aber wir hier in der Urbs Latina müssen eine starke Lobby aufbauen, um Businoxx klarzumachen, daß nur sie selbst mit vorbildlicher Verwaltung dazu beitragen kann, daß man ihren Produkten für die Verwaltung Vertrauen schenkt.
"Haltet Ihr es aber für denkmöglich, daß dies auch bei Euch passiert?" Nehmt teil an unserem einmaligen GEWINNSPIEL, indem Ihr diese eine Frage beantwortet und mir ein e-Mailium schickt: einer von Euch kann einen wunderschönen Kunstmarmorstein mit individueller Goldinschrift, garantiert handgelötkolbt, gewinnen; zugleich könntet Ihr mich auch wissen lassen, ob Euch mein Erstlingswerk gefallen hat.
Möge Hermes Eure Geschäfte lenken, Apoll Euer Antlitz glätten und Hebe Eure Frauen segnen
Euer Quintilius Tertius Faber.
Die Sache mit Quintilius, Apollonia und dem Abacus führte ziemlich direkt dazu, daß ich mich aus der Zeitungsredaktion zurückzog, nachdem die Zensurabteilung unseres Vereins dem Chefredakteur die Veröffentlichung energisch untersagte. Nicht im Traum hätte ich jemals gedacht, daß wir so etwas wie Zensur hätten.
Jedenfalls schüttelte ich den Staub von meinen Sandalen und kehrte diesem unwürdigen Haufen den Rücken. Denn natürlich war es wieder einmal so, wie so oft bei den Machthabern dieser Welt: brennt ein rotes Warnsignal, dann wird das Birnchen herausgedreht, aber nicht der eigentliche Fehler behoben...
Anderthalb Jahre lang erhielt ich Monat für Monat die Mahnungen von Businoxx. An einem sonnigen Dezembermorgen saß ich im Flugzeug nach Zypern und mußte zwangsläufig die Unterhaltung zweier Geschäftsleute mit anhören, deren einer Angestellter ebenjenes Herstellers war und seine Company über alles lobte. Ich konnte mich nicht gut einmischen, obwohl ich beim unfreiwilligen Anhören dieser Lügenmärchen beinahe vor Zorn erstickte, beschloß aber sofort, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben.
Hier ist sie.
Ich hab's Ihnen ja angekündigt: Sie bekommen hier die ultimative, herzzerreißend-emotionalste Weihnachtsgeschichte, wo gibt, aber echt! Das einzig wirklich vollständige Kompendium vorweihnachtlicher Dichtkunst, da tröffen selbst Selma Lagerlöf oder Karli Waggerl die Lefzen!
Der Weihnachtsmann im Schlitten, mit Rentieren, Schneegestöber und Stau auf der A2, kleine Putto-Engerln, die aufgeregt um die Krippe flattern und unter deren Kittelchen die kleinen, verfrorenen Pöpschlein...
???
Einen Moment bitte, es läutet an der Tür, ich glaube, es ist die Post!
Ursprünglich hätte es eine richtig schöne, schnulzige Weihnachtsgeschichte mit Weihnachtsmann, Rentieren, Schneegestöber und Tschinglebells werden sollen. Aber dann klingelte der Postmann zweimal...
Die europäische Weihnachtssensation!
e-XMas vom Feinsten!
Download, now!!!
Quintilius ruft mich vor einer Woche oder so an, aufgelöst und ziemlich hektisch.
"Ich bin auf dem Flughafen, aber ich muß dir das vorher noch erzählen!" Offenbar schleppt er gerade Apollonias Koffer keuchend durch die Abflughalle. Geduldig warte ich, bis sich das Krachen seines garantiert rauschfreien Handys legt, dann fordere ich ihn auf: "Na dann tu mal!"
Quintilius scheint sehr entnervt und verwirrt zu sein, weil er zurückfragt: "Was denn?"
Sie kennen mich ja, liebe Leser, meine sprichwörtliche Geduld ist so leicht nicht zu strapazieren, also schweige ich demonstrativ und tippe weiter ".....schte, und dann legte die Lappenmutti dem Lappenpappi das kleine, herzallerliebste Lappenbaby in den ..."
"Ach so, ja!" sagt Quintilius, "also, was ich sagen wollte, ist, daß wir heute früh, wie du weißt, in den Urlaub fliegen und da klingelt es plötzlich und die Post bringt eine eingeschriebene Mahnung von der Businoxx und ich glaube, mich trifft der Schlag, was du sicher verstehst!"
"Bitte, lieber Quincy, nicht so viele 'und's, außerdem, wieso weiß ich, daß du in den Urlaub fliegst? Und - wer hat das genehmigt?"
Diesem meisterhaften rhetorischen Haken war Quintilius natürlich nicht gewachsen, und in der nun folgenden Pause korrigierte ich noch die Stelle "...aber sosehr sich Santa auch mühte, das Rentier paschte seitlich ins Gebüsch ab..." und höre Quintilius wieder zu.
"Mir ist nicht nach Scherzen zumute" murrt Quintilius aufsässig ins Handy. "Sie haben mich schon wieder gemahnt, wieder mit Androhung des Rechtsanwalts, diesmal aber per Einschreiben!"
Ich schweige und denke, das hat er jetzt davon, daß er kein Vereins-Mitglied ist, aber bitte, er muß ja mit dem Kopf durch die Wand! - Allein, wenn ich mich richtig erinnere, hat dieser matte Verein sich seiner Geschichte ja schon einmal entschlagen . . .
"Was soll ich tun?" unterbricht er meine vereinsphilosophischen Gedankenwürschte, und ich höre im Hintergrund die Ansagerin, daß sich der Fahrer des Wagens mit dem Kennzeichen W 236 KL bitte zum Informationsschalter begeben solle.
Die Zeit drängt offenbar, denn wenn er seinen Wagen falsch geparkt hat, dann wird er wohl laufen müssen. Also helfe ich ihm und antworte:
"Ich weiß auch nicht, was man da tun kann!" Diese Geschichte mit der Businoxx zieht sich ja schon eine ganze Weile hin, man sollte vielleicht . . .
"Ich habe eine Idee, Quincy, schreib doch die ganze Geschichte auf und schick sie mir per Internet. Dann sehen wir weiter!" Ich höre ihn aufatmen, und er sagt:
"Danke, das werd' ich machen! Aber ich muß nun, mein Auto steht direkt vor der Feuerwehreinfahrt und Apollonias Hutschachtel ist ..."
Rasch unterbreche ich ihn und wünsche einen guten Flug. — Lästiger Kerl!
Einige Tage später, ich schrieb gerade " ...da flog ein kleiner Brocken Straßenkot vom Huf des letzten Rentiers Santa direkt ins Auge, so daß sich seine Tränen mit den Schneeflöckchen... " , da singt mein PC: "You have got an e-Mail!", also schaue ich nach, und siehe da, es war die Geschichte, die mir Quintilius aus dem Urlaub schickte.
Das Schrillen der Hausglocke reißt mich aus dem Schlaf.
7 Uhr 01! Ja Hallo, das gibt's doch nicht! Aber das Kurz-Kurz-Kurz-Lang signalisiert mir, daß es Herr Wawranek, unser Postmann, ist — ein eingefleischter alter Funker, der die offizielle weltweite Einstellung des Morsens (1.7.2000) einfach nicht zur Kenntnis nimmt und mich mit dem (nun ehemaligen) Anrufsignal · · · — aus dem Schlaf reißt.
Er wird es sicher nicht ohne triftigen Grund tun, denke ich alarmiert und erhebe mich ächzend, versuche Apollonia nicht zu wecken. Schlurfe den Gang entlang und mache auf: es ist der Postmann.
"Na, Meister, wie geht's?" fragt er wie immer und hält mir ein Kuvert hin. Ich brumme ihm freundlich-grimmig etwas zu und sehe auf den Absender: die Businoxx Internationalis Machinibus, BIM! —
Ja, spinnen die jetzt komplett? Schicken ihre lästigen, monatlichen Mahnungen jetzt schon per Einschreiben?!
Ich unterschreibe fahrig und nicke Herrn Wawranek zu, dann schlurfe ich wieder zurück ins Schlafzimmer, rolle mich in die warme Decke und versuche wieder einzuschlafen. Das Herzklopfen läßt nach, und Hypnos, der Gott des Schlafes, nimmt sich meiner wieder gnädig an. Denke beim Einschlafen, daß wir heute in den Urlaub fliegen werden und mich diese idiotische Mahnung gerade deswegen nicht, aber so was von Garnicht interessiert, stelle mir lieber das blaue Meer und die Palmen vor, die eisklirrenden Tequilas und das Herumtollen mit Ornella im heißen Sand...
Und dann schrillt die Glocke erneut. · · · — Di-Di-Di-Daaa! Der Wawranek! Was hat er denn schon wieder vergessen, der Trottel, warum muß er mich wieder aus dem Bett klingeln?! Ich springe wütend mit der Eleganz eines Baggers auf und wecke dabei Apollonia, die verschlafen "Na was ist denn, Schatz?" murmelt und sich wieder zur Seite rollt.
"Ich geh' ja schon!" flüstere ich und stapfe finsteren Blickes hinaus. Das auch noch — jetzt wird sie wohl den ganzen Tag schlecht aufgelegt sein! Beim Öffnen scherze ich grimmig: "... und wenn der Postmann zweimal klingelt!"
Herr Wawranek schaut mich mit seinen Dackelaugen treuherzig, aber verständnislos an, hält mir ein Päckchen hin und sagt: "Entschuldigung, das scheint auch für Sie zu sein!".
Ich sehe mir das Ding an, es ist unglaublich schwer. Adressiert an Quintilius T. Faber, Big Boss. Ich sage zum Wawranek, ich sei kein Big Boss, aber er meint, ich wäre der einzige Q.T.Faber im Haus, außer vielleicht noch mein Neffe, aber der heißt ja Q.Q.Faber, Quintilius Quartus.
Achselzuckend unterschreibe ich und gehe wieder ins Schlafzimmer. Unterwegs lege ich das Päckchen auf die Couch, sehe vorher noch nach, wer der Absender ist. Aber es ist unleserlich, ein Sowieso aus San Tacla, U.S. Aha, aus den USA — na, wird irgend so ein Plug in sein, oder so. Ich schleiche ins Schlafzimmer und schwinge gerade Bein Nummer eins über die Bettkante, als die Türglocke erneut schrillt. Klihihihing.
Also, jetzt hau ich dem Wawranek aber eine eine, dammich! Kann er nicht alles auf einmal abliefern?! Erst diese depperte Mahnung von Businoxx, dann das ominöse Päckchen — was wird's wohl diesmal sein? Ich gehe forsch zur Tür und reiße sie auf, erstarre mitten in der Bewegung. Draußen stehen Joshua alias Samuel Jackson, und Vince alias John Travolta.
Nein, ich bin nicht völlig durchgeknallt, wie Sie vielleicht annehmen — ich stehe nur mit offenem Mund da und staune. Da draußen stehen die zwei Superkiller aus dem Film PULP FICTION von Quentin Tarantino, Joshua und Vince. In ihren schwarzen Anzügen, Joshua mit geöltem Kraushaar und Travolta mit schulterlanger Perücke. In den Händen halten sie lässig ihre schallgedämpften Kanonen. [Sollten Sie den Film noch nicht gesehen haben: eine spritzige Gaunerkomödie, bei der Ihnen beim Lachen die Pommes-frittes quer im Hals stecken bleiben werden!]
"Der Herr gibt, der Herr nimmt" sagt Joshua, der ehemalige Prediger und drängt sich an mir vorbei in die Wohnung.
"Wir holen nur das Päckchen, das hier abgegeben wurde!" erklärt Vince, ähh Travolta und stößt mich mit dem Schalldämpfer auf der Brust wieder in die Wohnung, schließt die Türe hinter sich.
Wir gehen — ich rückwärts — bis zum Wohnzimmer, Joshua hebt das Päckchen von der Couch auf und grinst: "Wer suchet, der findet!".
Es ist total paradox, kann nicht wahr sein! Wie kommen diese Figuren zu mir, warum wollen sie dieses Päckchen, was habe ich mit alledem zu tun? Joshua — Mr. Jackson — sieht die Fragezeichen auf meiner Stirn und erklärt: "Wir haben den Auftrag, dem Big Boss einen schönen Gruß vom Little Boss auszurichten — der will jetzt selber Big Boss werden. Es schien uns am einfachsten, das Päckchen per Post zu schicken, das ist heute noch das Zuverlässigste!" Ich schaue zwar immer noch gebannt auf Vince's überlangen Knaller, kann mir aber nicht verkneifen, "Sie sind wohl die Einzigen, die das noch glauben" zu wispern. Vince stubst mir mit dem Lauf auf die Brust und fragt Joshua: "Umlegen?"
Ich bin entsetzt, wie schnell so was gehen kann. Travolta zielt auf mich und wartet nur noch auf das OK von Joshua. Verzweiflung und eine gehörige Portion Ärger lassen es aus mir herausbrechen: "Es ist einfach ungerecht! Erst diese depperte Mahnung von der Businoxx! Dann das Päckchen — und nun Sie beide, die mich so mirnix-dirnix plattmachen wollen!"
Mr. Jackson — Joshua — denkt lange nach, dann nickt er. Travolta legt mit dem Puffer direkt auf mich an, ich kneife die Augen zusammen und höre ein zweifaches Ploff!, höre, wie die Kugeln in den Wandverputz hinter mir klacken. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich Vince ärgerlich am Gerät hantieren, vermutlich Ladehemmung.
Nicht so Joshua. Er greift nach Travoltas Schalldämpfer, der Lauf senkt sich zu Boden. "Ein Wunder! Der Herr hat ein Wunder vollbracht! Höre, mein Bruder, dieses Wunder ist ein Zeichen!"
Perplex höre ich, wie Joshua nun eine Predigt hält, vom Herrn und seinem Wunder spricht, davon, daß Vince noch nie, er wiederholt, noch nie versagt habe! Während sich der irre Joshua immer tiefer in seine Predigt verstrickt und Vince immer betretener zu Boden blickt, schaue ich zur Schlafzimmertür, wo die noch völlig unausgeschlafen wirkende Apollonia steht, in ihrer kurzen Gutenmorgen-Liebling-Toga. Schlagartig wird mir klar, warum Vince danebengeschossen hatte: an diesem Nichts von Toga sieht kein Mann vorbei!
Mit zitternden Knien sinke ich auf die Couch. Joshuas Handy klingelt, unterbricht ihn mitten im Sermon. Er sagt höflich "Entschuldigen Sie bitte!" zu mir, hält das Phon an sein Ohr und hört seinem Gesprächspartner zu. Am Ende sagt er "Okay, Boss!" und steckt das Gerät wieder weg. Zu Vince gewandt meint er lakonisch: "Unser Auftrag hat sich erledigt, den Big Boss hat's heute früh beim Joggen erwischt!" Vince zuckt die Schultern, dann fragt er: "Und was jetzt?" Joshua setzt sich hin, Vince ebenfalls und winkt Apollonia, sie solle sich zu uns setzen, dann fragt mich Joshua nach einer langen Pause: "Wie war das mit dem Ärger, heute morgen?"
Vorsichtig frage ich zurück, ob er denn nicht meine Geschichte im Internet gelesen habe; aber Joshua verneint. Also erzähle ich in groben Zügen, daß wir bei der Businoxx einen Computer geleast hätten. Und seit der ersten Rate erhielten wir (bis heute!) Monat für Monat eine Mahnung, manchmal auch eine forsche mit der Androhung der rechtsanwaltlichen Maßregelung. Heute sei zum ersten Mal eine per Einschreiben gekommen, was darauf hindeutete, daß bei Businoxx nun offenbar auch die letzte Sicherung durchgebrannt sei.
Vince fragt, ob ich mich denn nicht beschwert habe? Und ob, antworte ich, und ob! Ich habe dort schon mindestens ein Dutzend Mal angerufen, man hatte mir gesagt, daß da eben zwei Computersysteme beteiligt seien, eines, das die Einzahlungen empfängt, und ein anderes, das diese in die Buchhaltungskonten sachte einfüge. Die beiden hätten bloß kein gutes Einvernehmen. Und, man habe mir geraten, die Mahnungen einfach wegzuschmeißen, sie seien ja nach ein paar Tagen, wenn Computer Nr. 1 den Computer Nr. 2 benachrichtigt habe, sowieso obsolet. Monat für Monat kommt erst mal eine patzige Mahnung heraus, dann langt meine automatische Zahlung ein, und dann ist wieder drei Wochen Ruhe.
Weiters, sagte ich, vermute ich, daß die Businoxx mit meinem Dauerauftrag ein Problem hat, da man offenbar nur den Bankeinzug sauber ausprogrammiert hätte; aber, und nun blicke ich treuherzig zu den beiden Ganoven, würden Sie einer solchen Firma den automatischen Bankeinzug gewähren, wenn Sie sehen, wie unfähig die bei Businoxx de facto sind?! Als beide den Kopf schütteln, grinse ich und erzähle, daß ich — um dem Ganzen bei einer eventuellen gerichtlichen Auseinandersetzung eine humorvolle Note verleihen zu können — auch noch eine manuelle Überzahlung getätigt habe.
Als Joshua verständnislos dreinschaut, erklärt ihm Vince, daß die Businoxx offenbar überhaupt keine Kontrolle über ihr System hätte, bei einer Überzahlung müßten die Mahnungen eigentlich sofort aufhören — der Kunde hat ja ein Guthaben. Eine Schande sei das, sagt Vince, er habe ja selbst einmal in einer Buchhaltung gearbeitet, damals eben, noch ohne Computer. Doch die Businoxx? Ein so großer Computerhersteller, der mit e-business und Lösungen für einen schmalen Planeten prahle, selbst aber ein derart katastrophales System einsetze, daß Gott erbarm'! Na ja, die Leute haben sie sich eingespart, schwäche ich ab, sonst würde ich ja auch nicht zwischendurch eine Mahnung über " (-,—) ATS" bekommen, Null Schilling, sozusagen. Vince lacht, daß ihm die Tränen über die Schminke herunterlaufen.
"Verstehe," sagt Joshua, "Sie haben also die Maschine gemietet und einen Dauerauftrag eingerichtet; aber, weil die dort nicht klarkommen mit ihren eigenen Computern und Programmen, werden Sie mit Mahnungen bombardiert, Monat für Monat!" Er macht eine lange Pause und läßt den Gedanken in unseren Köpfen reifen, bevor er langsam fortsetzt: "Na, dann bombardieren wir halt zurück!" Ich schaue ihn groß an, und er grinst, klopft mit der Hand auf das Päckchen. "Nun, was dachten Sie, was da wohl drin ist?" feixt er, "ein kleiner Gruß vom Santa Claus!" — Ich verstehe schlagartig, was San Tacla, U.S., heißt.
"Aber, das können Sie doch nicht machen!" protestiere ich, "Sie können doch nicht so einfach ..." Joshua grinst und schnarrt: "Und ob wir können! Also, auf geht's, wir fahren!" Er und Vince erheben sich, und da weder Apollonia noch ich Anstalten machen, ihnen zu folgen, zieht Vince seinen Puffer und zwingt uns, mitzukommen.
Es folgt eine rasante Fahrt im weißen Mercury, über den Ring zum Donaukanal, wo das Hauptgebäude von Businoxx steht. Ich schließe die Augen, bete, daß Joshua nicht über einen Huppel fährt, denn was da passieren kann! Allzu deutlich erinnere ich mich, daß im Film der Wagen über eine Unebenheit, einen Huppel eben, hüpft und sich dabei ein Schuß aus Vince's Kanone löst . . .
Der Wagen hält direkt vor dem Haupteingang. Vince nimmt das Päckchen, beide steigen aus und gehen zum Empfang. Während Joshua den Diensthabenden in ein komplexes Gespräch verwickelt, steigt Vince in den Lift und kommt nach einer Sekunde wieder heraus. Ich drücke die in der Gutenmorgen-Liebling-Toga fröstelnde Apollonia wärmend an meine Brust und bete still, daß heute Feiertag sein möge. Daß die Zu-Früh-Kommer noch nicht und die Zu-Spät-Geher schon nicht mehr drin sein mögen. Aber es ist immer noch 7 Uhr 01 morgens, also keine sonderliche Gefahr.
Joshua und Vince kommen wieder zum Wagen. Joshua sagt: "Merry Christmas, Businoxx!" Vince zündet sich eine Zigarre an und zählt: "Vier, drei, zwo, eins, wumm!" und im selben Augenblick zerreißt eine dumpfe Explosion das Gebäude der Businoxx, und Joshua ergänzt: "... and a Happy New Year!" Das Gebäude wird von innen heraus zerrissen, Schreibpulte, Aktenschränke voller Lochkarten und wahnwitzig lange Bahnen von Computerausdrucken werden in die Morgenstille hinauskatapultiert. Ein solcher Aktenschrank voller Lochkarten fliegt direkt auf unser Auto zu, dreht sich um seine Achse und wird uns im nächsten Moment zermalmen! Während die anderen wie gebannt auf dieses Geschoß starren, reiße ich die Türe auf und werfe mich seitlich hinaus . . .
. . . und krache mit einem Wehlaut auf dem Schlafzimmerteppich auf. Wo bin ich, was ist mit der Explosion? Langsam erkenne ich die vertrauten Umrisse des Schlafzimmers, setze mich benommen auf und reibe mir die Augen. Apollonia erwacht seufzend, beugt sich lächelnd über mich und gibt mir einen Kuß: "Frohe Weihnachten, mein Schatz, heute fliegen wir in den Urlaub!"
Quintilius schluckt dankbar und sagt: "Frohe Weihnachten, mein Schatz!" (Ebenfalls ein Bussi).
Sein Blick fällt auf die Einschreibemahnung, die zerknüllt auf dem Boden liegt.
Und — also gut: "Frohe Weihnachten, Businoxx!" (aber kein Bussi), "...and a Happy New Year!"
Aufgeregt stapft István im Wohnzimmer auf und ab. "Das hab' ich mir ja gleich gedacht", sagt er immer wieder und wedelt mit der Karte, auf der die Einladung steht, wild herum. "Der Andy Ritter, das ist ein Pianist, ich hab's ja immer schon gesagt", das ist der zweite Satz, der immer wiederkehrt. Es sieht ganz so aus, als ob der große Psychologe mit der Tatsache, einen Kollegen vom Computer-Stammtisch völlig falsch eingeschätzt zu haben, nicht so ganz klarkommt. "Aber", doziert er weiter und redet mit seinen Geistern in der Luft, "ich ahnte eh' irgend etwas. Er hat was mit Musik, das hab' ich gleich gespürt, und was wird SCHWEISSTEIBEND schon heißen? In die Tasten wird er hämmern, der Andy, daß es ihm den Schweiß nur so `raustreibt! - Ah, im Plutzerbräu! Da haben sie eine Bühne, manchmal treten ganz kleine Kleinkünstler auf, oder auch mal ein Pianist. Der Andy ist sicher ein Pianist, feingliedrige Hände, raucht wie ein Schlot — Pianist, halt eben."
Zufrieden mit sich und der perfekten Analyse schaut sich István um, reibt siegessicher die Hände und meint: "Na-ja, und wenn ich mich doch irre, dann ist er halt so ein Kleinkünstler, wie der Josef Hader oder der I-Stangl, you know?"
Er wendet sich zu mir, um mir alles ganz-ganz haarklein zum x-ten Male auseinander zu setzen, setzt seine väterliche Miene auf und beginnt: "Also, wir gehen am Sonntag Abend kurz zu diesem Konzert vom Andy Ritter, hören ein wenig hinein, nicken ihm zu und so, und dann gehen wir zu Dir. Nur für twenty minutes, aber wir müssen, er ist beim Computer-Verein!" Ich weiß, sobald diese Worte erklingen, wird er ganz weich und entenmuttrig, so sehr liebt er seinen Computer-Verein.
Sonntag Abend - er hatte mindestens sechs oder sieben Krawatten auf unserem Bett ausgebreitet und sie hin- und hergelegt, dann jedoch beschlossen, doch ganz revolutionär "ohne" zu gehen - also Sonntag Abend gingen wir zu Fuß hinauf zum Gasslwerk rund um den Spittelberg (ich will Ihnen hier ersparen, daß er mir an beinahe jedem Eck sagte, jetzt käme das Plutzerbräu, doch dann war es noch eine Ecke weiter und noch eine...).
István ging gleich auf den Geschäftsführer des Plutzerbräu zu, legte ihm jovial die Hand auf den Unterarm und raunte verschwörerisch: "Wo ist die Bühne?", worauf dieser einen Schritt zurücktrat, uns zweimal rauf und runter taxierte und dann zu mir sagte: "Ono koga ono wanna aisuru", worauf ich zu ihm sagte: "Bitte sprechen Sie deutsch, er versteht kein Japanisch" und dachte im Stillen, verstünde er's, so würde er ihm glatt eine schmieren. Der Geschäftsführer sagte daraufhin gelassen: "Wir haben keine Bühne, aber wenn Sie zu SCHWEISSTREIBEND wollen, dort bitte die Stiege hinunter!"
István sagte noch völlig überflüssigerweise: "Ich habe eine Besucherin aus Japan und zeige ihr ein bißchen etwas von Wien", dann gingen wir langsam hinunter in das Kellergewölbe, während ich István die stark abgeschwächte Übersetzung "Jeder Mann liebt diese Frau" ins Ohr raunte. Wir schienen die ersten Gäste zu sein, doch dann, tatsächlich, ging ein schlanker junger Mann auf István zu und sagte, wie sehr er sich freue, daß er seiner Einladung gefolgt sei.
István stellte mich kurz als Freundin aus Japan und Musikstudentin vor, peinlicherweise flunkerte er mutwillig "und sie spielt, genau wie Sie, Klavier; Ihr seid sozusagen Kollegas!". Andy Ritter nickte nur flüchtig zu der "Kollega" hin und machte dann mit seiner Hand die internationale Geste "hier rundherum ist es", und István blickte sich verblüfft in dem beinahe leeren Raum um. "Wo ist das Klavier?" fragte er Herrn Ritter, der wiederum blickte etwas irritiert hinter seinen Augengläsern zu István und zuckte die Achseln: "Welches Klavier?"
Ich gebe es ja zu: ich freue mich jedesmal riesig, wenn István aufläuft. Wie ein schwerer Öltanker fährt er mit traumwandlerischer Sicherheit schnurstracks auf das Riff zu, kracht auf, zerbirst - und dann läuft ihm ganz, ganz langsam das Öl aus. Für dieses allein rentiert sich schon der Hatsch auf den Spittelberg.
István schaute sich nochmals um, sah forschend hinter diese und jene Ecke, und meinte dann vage, aber doch schon etwas unsicher: "Aber die Einladung, Herr Ritter - da soll doch heute Abend was steigen? Ich nahm an..., ich meinte..., Sie sehen doch wie ein Pianist aus, also wo ist das Piano, der Flügel, der Klimperkasten?"
Andreas Ritter lachte, ging mit uns zum Buffet, bot ein Getränk an und erzählte, daß er in seiner Freizeit aus Metallresten Skulpturen anfertige (schweißen und treiben, aha!) und sie im Familien- und Freundeskreis verschenkt habe, bis er dann eines Tages den Mut gefunden habe, eine Ausstellung (in München) zu machen. Als er bei dieser recht gut angekommen wäre, habe er beschlossen, es nun auch in Wien zu versuchen: und voilà, da ist es nun! Er führte uns herum, zeigte uns die Exponate, die teilweise noch zu verkaufen waren, und erzählte zu jedem Stück dessen persönliche Geschichte.
Da ich nichts zum Schreiben dabeihatte, muß ich's jetzt aus dem Gedächtnis kramen, und István brauche ich gar nicht um Hilfe zu bitten, der hat ja doch schon Alzheimer! Ganz rechts, da stand neben dem WäCHTER, einem bedrohlich wirkenden Monster, UAKA TANKA, und Andy erzählte, dies wäre der Große Geist der Indianer. Ein stolzes mannshohes Gebilde, das vor allem durch die Beleuchtung, die Andy selbst gebastelt hatte, ein starkes Gefühl erzeugte. Daneben ein RUNNING MAN, der scheinbar die Kellerstiege hinunterlief. An der Breitseite des Raumes waren zwei einander ähnliche Wandleuchter, der EINARMIGE BANDIT und GOMBKÖTÖ, von dem Andy erzählte, daß er dem Toni (G.) gehöre und nur als Leihgabe ausgestellt wäre. Diese Wandleuchter waren aus Pfannen, Mistgabeln und Sensen zusammengeschweißt und mit Lampen versehen worden. In einer modernen Wohnung machten sie sich bestimmt sehr gut!
FELI und MAUSI schienen zwei Frauengestalten zu sein, aber Andy holte uns inzwischen noch ein Gläschen und überging geflissentlich die Geschichte dieser Figuren. Mein Gefühl sagte mir, daß da noch mehr hinter diesen Figuren steckte, aber wir waren bereits zu DON QUICHOTTE weitergegangen, und der hatte es István angetan: da stand tatsächlich der alte Hispanier, Schild und Speer in der Hand, bereit, gegen alle Windmühlen dieser Welt anzutreten. "Ich will ihn", raunte mir István ins Ohr, also fragte ich Herrn Ritter, ob er verkäuflich wäre. Andy - der sich inzwischen mit István duzte - sagte: "Also, das tut mir aber sehr leid, aber der Don gehört meinem Siebenjährigen, das war sein Geburtstagsgeschenk. Den kannst Du nicht mehr zu haben." István ging scheinbar ungerührt weiter, seine Enttäuschung fiel nur mir auf. Wir kamen zu KAWASABE, dessen Titel, wie Andy erläuterte, einem Song von Laurie Anderson entsprungen wäre. István sah nur kurz hin, sein Blick glitt wieder schmachtend zu Don Quichotte zurück. "Der Quichotte, der würde sich ganz gut in meinem Büro machen, und meine Kunden wüßten auch gleich, wes Geistes Kind ich bin" sagte er zu Andy, irgendwie noch hoffend, daß dieser darauf reagierte.
Aber Andy Ritter zeigte weiter seine Exponate: HÄLTA SCHIFFTA, so erklärte er, sei dem Helter-Skelter-Song der Beatles vom Titel her nachempfunden. Ich sah einen lustigen Kerl, der seinen überdimensionierten Halbschlaffen eindeutig zwecks Urinierens in der Hand hielt. István ging weiter, denn zu diesem Thema zog ihn nichts, und betrachtete schweigend die letzten beiden Exponate, deren eine wohl Mickey Mouse, die andere einem Giraffen nachempfunden und wohl auch für Andys Nachwuchs bestimmt war.
Andy ging inzwischen zu anderen Gästen, István und ich entdeckten ebenfalls eine alte Bekannte, Birgit, ein Fotomodell. Wir tratschten und smalltalkten, und es wurde mir bald klar, daß István heftig fore-checkend seine Chancen für ein Shooting auslotete. Leise schlich ich mich weg, zur Gruppe um Andy, denn es hatte sich eine Menschentraube um ihn und eine Besucherin gebildet, und sie feilschten um den Preis einer Figur. Nach einigem Hin- und Her hatte es Andy endlich geschafft, die Skulptur ohne Preisnachlaß zu verkaufen! Alle lachten durcheinander und waren sehr laut (was mir - wie immer - sehr unschicklich vorkam), während die Dame den Scheck ausfertigte und ihn feierlich Andy überreichte. Die erste Gratulantin war Andys Mutter, die sehr stolz auf ihren tüchtigen Sohn sein konnte.
Am Büffet nahm ich mir ein paar Brötchen, bewunderte Andy, der mit zwei Händen ein Achterl Wein, eine Gulaschsuppe, ein Brot und einen Löffel balancieren und trotzdem weder essen noch trinken konnte, und ließ mich durch den dichtbevölkerten Raum wieder langsam Richtung István treiben. Der war von einem Pulk junger Mädchen umgeben, denen er großartig gestikulierend HÄLTA SCHIFFTA in allen Details genüßlich erklärte und sich an deren lustvoll geweiteten Augen weidete; zudem ärgerte er sich gerade mit einem hinzugekommenen Besserwisser herum, der ihn für den Künstler hielt und beharrlich wissen wollte, wieviel denn das schmiedeeiserne Stiegengeländer, der zum Kellergewölbe führte, kosten würde und sich nicht und nicht abwimmeln ließ.
Meine Einmischung mittels Wangenkuß rettete István vor einem Tobsuchts- oder Schlaganfall, dem er sichtlich nahe war. Wir sahen uns nochmals die wirklich tollen und gelungenen Exponate an, blieben lang, fast zu lang vor dem Don Quichotte stehen und verabschiedeten uns dann von Andreas Ritter sehr herzlich. Während wir schweigend nach Hause gingen, unterbrach István nur ein Mal sein verärgert grübelndes Schweigen: "...und er spielt doch Klavier! ...Aber, daß Du ja niemandem vom Klavier erzählst!" forderte er, und ich versprach es ihm.
Hoch und heilig.
Michiko,
Fotomodell
An einem der Tiefpunkte meines Lebens fuhr ich beinahe wöchentlich mit dem Nachtzug die 700km, um meine erkrankten Eltern zu besuchen. Nachtfahrten dauern Ewigkeiten, das hämmernde Schlagen der Räder geht durch Matratze und Kopfkissen direkt ins Hirn, läßt mich die abstrusesten Geschichten ausdenken. Ein zufälliger Blick auf dem Schlafwagenkorridor, die Begegnung zweier Leben in einer Zehntelsekunde läßt mich stundenlang in quälende Phantastereien versinken.
Ich glaubte immer, ich hätte kein Problem mit dem Älterwerden. Als sich aber kleine Anzüglichkeiten, versteckte Bisse und winzige Seitenhiebe gegenüber mir beinahe Fünfzigjährigen häuften, geriet ich heftig ins Grübeln. Ich begann bereits Dinge zu hören, die keiner gesagt hatte; begann mich genauer zu beobachten und entdeckte bald dies und das, was einem nur auffällt, wenn man sich kritisch und mißtrauisch zu beobachten beginnt.
Am Schmerzlichsten fiel mir auf, daß die jungen und hübschen Mädchen, denen ich wie immer in der Straßenbahn bewundernd begegnete, auf mein Augenspiel mit Verwunderung oder Befremden reagierten und es immer seltener erwiderten. Tick. Die Feststellung, nicht mehr der unwiderstehliche Eroberer (straßenbahnfahrender Schönheiten) zu sein, wenn auch nur für die Dauer der Fahrt von Station A nach Station B, ließ Selbstzweifel aufkommen. Tick. Das Zahnrad der Selbstverfremdung drehte sich einen Tick weiter, die Selbstzweifel sanken tiefer und legten sich bleischwer auf die lahmer werdenden Lenden, Tick. Ich werde alt, suggerierten die Lenden, es ist bald vorbei! Tick. Verdammt, was erwartest du denn eigentlich?! Tick.
Ein zufälliger Blick auf dem Schlafwagenkorridor, die Begegnung zweier Leben in einer Zehntelsekunde, läßt mich stundenlang in quälende Phantastereien versinken.
"Das Hirn ist im Arsch," zitierte Jack, "wenn der Himmel voller Geigen hängt!" Ich linste vorsichtig aus den Augenwinkeln zu der hübschen blonden Frau hinüber, die — wie ich — im Gang des Schlafwagens stand und rauchte. Rasch trank ich mein Bier aus und ging, innerlich völlig unsinnigerweise zitternd, vor zum Schaffner, um mir noch eine Flasche zu holen. "Quatsch' nicht", vernahm ich Jacks Stimme, "du willst nur an ihr vorbeigehen und sie ansprechen!" Daß dies niemals sein könnte, wußte Jack ebenso wie ich.
Nein, ich bin keineswegs schizo, doch Jack ist so was wie die Personifizierung meines Eltern-Über-Ichs, wie es Freudianer wahrscheinlich bezeichnen würden. Seit meiner Jugend begleitet er mich, korrigiert, kritisiert und ärgert mich mit seiner kalten und klaren Logik. Daß er es ist, der auf die Tachonadel starrt und "130!" knurrt, oder der die vernünftigen und logischen Sätze vorkaut, die ich dann nur nachplappern muß, um logisch und vernünftig aufzutreten, mag ja angehen. Daß er mit Leib und Seele Logiker und Mathematiker ist und Computer über alles liebt, ja geradezu mit Röntgenblicken in sie hineinsehen kann, das ist die Basis meines beruflichen Erfolgs. Aber ich war wild entschlossen, Jack heute, hier und jetzt gänzlich zu ignorieren. Als ob's um mein Leben ginge.
Mit der neuen Flasche in der Hand ging ich im schwankenden Zug langsam wieder zu meinem Abteil zurück. Als ich bei ihr vorbeikam, sah sie mich an, und dieser Blick brachte mich völlig aus der Fassung.
In Wahrheit blieb ich stehen, weil mir die Luft wegblieb und ich nicht einen Schritt weitergehen konnte. Der Schweiß brach mir aus, und vermutlich sah sie trotz des Halbdämmers meine Gesichtsfarbe wechseln.
Ich sprach sie an.
Sie lächelte mich an, strahlend ihr Blick, einladend ihr ganzes Wesen. Plötzlich wich meine Benommenheit, und wir plauderten, was Reisende in solchen Situationen wohl plaudern — wohin man fährt, was man tut, wen man besucht. Evi, so hieß sie, arbeitete als Therapeutin und kam gerade von einem Elternbesuch zurück. Ich erzählte, daß ich gerade meine Eltern besuchen wolle, und ich lenkte das Gespräch auf die Erkrankung meiner betagten Mutter, da dies genau mit der Tätigkeit Evi's zusammenfiel. Weiß nicht, vielleicht ging ich ihr damit auf die Nerven, aber dies beschäftigte mich schon, seit ich die Fahrkarte gekauft hatte.
Jack zog sich murrend zurück, von Ferne hörte ich ihn manchmal "er wagt es nicht!" murmeln, und trotzig dachte ich "doch!". Während Evi und ich uns angeregt unterhielten, öffnete sich hinter uns eine Abteiltüre, und ein schlaftrunkener Gast kam auf den Gang. Seinen Blick richtig deutend fragte ich besorgt, ob wir seinen Schlaf störten, und er nickte grimmig. Ich blickte Evi an, gab mir einen Ruck (und, Leute, Bungee-jumping ist nix dagegen!) und bot mein Abteil an, um dort weiterzuplaudern. Meine Knie zitterten, und ich erwartete das Aus, möge es nur schnell und schmerzlos sein.
Sie fragte nochmals, ob ich allein im Abteil sei, und als ich sagte, ich hätte es reserviert, um allein reisen zu können, sagte sie: Ja. Ich konnte geradezu sehen, wie Jack's Gesicht grün anlief, und er sagte: "Du wirst es nicht wagen!". Doch, flüsterte ich zurück und ging erstaunlich ruhig mit Evi in mein Abteil.
Ich sah sie an, während wir uns unterhielten, und ich fühlte, wie ich von Minute zu Minute für sie entbrannte. Anfangs begann ich von meinen Berufserfolgen zu berichten, dachte dann aber, daß das eigentlich eine Scheißmasche sei und kam - irgendwie - auf Sex, Liebe und Beziehungen zu sprechen. Vielleicht war sie vom Schwenk überrumpelt, vielleicht war es aber für sie auch ganz okay, darüber zu reden, und wir wurden ernster und kamen einander näher.
Nähe. Sie bot mir das Du-Wort an, ich begann mich immer mehr ihr gegenüber zu öffnen, ein seliger Rausch des Sich-Öffnens begann von mir Besitz zu ergreifen.
Ergreifen. Ich bemerkte, daß ich in den letzten Minuten immer öfter ihre Hand ergriff, wenn ich Dinge aussprach, die jahrelang unter Verschluß gelegen waren.
Es ist eigentlich ganz egal, was wir gesprochen haben, lieber Jack; wichtig war, daß sie ein liebenswürdiges, offenes Wesen hatte und weder zickige Großstadtnudel noch dümmlich-naive Provinztante war. Sie war einfach Evi, die von ihren Vorstellungen zu Beziehungen erzählte, von ihrer Arbeit, den Eltern in Wien und ihrer Wohnung. Jack ergänzt, es war Evi, die mich lange, fast zu lange sich aussprechen ließ.
Aussprechen. Als ob ich ein Leben lang zum Schweigen verurteilt worden wäre (was gar nicht stimmte!) hielt ich mich an ihr fest und erzählte von meiner Einsamkeit, meiner Trauer um die verlorenen Dinge meines Lebens, aber auch von Dingen, die mich gar nicht in ein so tolles Licht stellten. Es erschien mir mit einemmal wichtig, ganz offen, ehrlich und nackt dazustehen und den ganzen gesellschaftlichen Firlefanz beiseite zu lassen. Ich bekam zeitweise richtig Angst vor meiner eigenen Courage, Evi würde von meiner Direktheit und meinem Verzicht, mich als großartigen Zampano darzustellen, abgestoßen sein und gehen.
Gehen. Sie stand unvermittelt auf, sagte, sie müsse mal für kleine Mädchen, und wenn sie wiederkäme, so wüßte sie jetzt noch nicht, ob sie dann mit mir schlafen wolle; sie sei vielleicht nicht so verliebt wie ich, aber sie habe mich sehr gern. Ich umarmte sie sitzend, während sie vor mir stand, und ich sagte nichts und dachte nur bei mir, das sei nicht wichtig, ich will Dir nahe sein, Dich umarmen - komm wieder! Nachdem sie gegangen war, sah ich, daß sie ihre Handtasche liegengelassen hatte - war das Vertrauen? Keine andere, die ich kannte, würde je ihre Handtasche im Abteil eines Fremden liegenlassen.
Als sie wiederkam, löschten wir das Abteillicht, und setzten uns ganz eng zueinander. Küßten und herzten uns, flüsterten und waren glücklich. Aus Küssen und Umarmen wurde Streicheln, meine Hand suchte, unter ihren Pulli zu kommen. "Es ist ein Body," flüsterte sie, aber ich wußte damals noch nicht, was das war. Ich gestand ihr mein Problem, aber sie lachte nur leise und zog sich schnell und unkompliziert aus. Ich entledigte mich schnellstens meiner Kleider und wir legten uns nebeneinander.
Ich kann mich an jede noch so kleine Kleinigkeit erinnern, so wichtig war diese Nacht für mich. Jack und die schlechte Klimaanlage sorgten dafür, daß sich meine sowieso schon pensionierte Männlichkeit im Hintergrund hielt; ich hatte viel zu viel Angst, mit ihr zu schlafen, denn wir hatten beide nichts zur Verhütung mit - es war ja ein überraschendes, völlig ungeplantes Ereignis. (Ich müßte mich ja selbst auslachen, würde ich ständig mit einem Kondom in der Tasche herumlaufen...).
Ich schenkte ihr meine ganze Aufmerksamkeit, meine Zärtlichkeit und ließ alle Sanftheit, die ich ihr gegenüber fühlte, durch meine Hände auf ihren wunderschönen Körper gleiten. Sie liebte es, gestreichelt und liebkost zu werden, überließ sich ganz ihren Gefühlen und ich versuchte, ihr all die Liebe und Zärtlichkeit, die ich für sie empfand, zu schenken — immer wieder ertappte ich mich dabei, zu flüchtig und unsensibel zu sein, aber ich war furchtbar nervös, irritiert von der Umgebung und dachte viel zu oft an das Morgen. Nur einmal, da steigerten wir uns beide beinahe zu sehr hinein, doch Jack, der Verläßliche, war schon zur Stelle und riß uns gerade noch rechtzeitig auseinander.
Die Stunden vergingen in Lust und Zärtlichkeit, in Sanftheit und Erregung, in Nähe und Besorgtsein. Irgendwann aber wurden wir müde, wisperten miteinander und rauchten, hörten dem Geratter der Räder zu und schwiegen. Evi sagte, sie wolle vielleicht noch eine oder zwei Stunden schlafen, bevor sie ausstiege. Ich verabschiedete mich mit vielen, vielen kleinen Küssen von ihrem Körper, küßte jede erreichbare Stelle und weinte stumm in meinem Kummer.
Dann zog sie sich an, und als sie den Body anzog, sah Jack sich genau an, wie dieser konstruiert war...
Ich gab Evi meine Karte, kritzelte noch meine persönliche Telefonnummer auf die Rückseite, bat sie, sich bei mir zu melden und mir Zeit zu geben, einige Dinge zu regeln. Wir waren an einem sehr bedrückenden Punkt angelangt. Ich ahnte, daß sie jetzt, müde, abgekämpft und schläfrig, vielleicht nicht an eine Fortsetzung dachte. Ich sagte, sie solle sich melden, bitte, aber ich sagte zugleich (oder war es Jack?), daß sie die Wahl habe. Sie solle sich von mir nicht dazu gedrängt fühlen; ich wäre jetzt lichterloh entbrannt, aber ich wüßte, daß ich ihr gegenüber nie drängend, nie fordernd sein wolle. Ich höre noch, wie sie dasselbe sagte. Daß sie spüre, wie verliebt ich sei, sie selbst jedoch wäre nicht so verliebt wie ich. Sie versorgte meine Karte in ihrem Portemonnaie und meinte, vielleicht würde sie sich melden, doch sei sie sich nicht sicher. Tschau, sagte Jack.
An den Moment, da sie ging, erinnere ich mich nicht mehr; nur, daß ich ihr noch lange nachsah, nachdem sie nach vorne gegangen war. Meine Augen füllten sich mit Tränen, die mich ganz tief im Hals würgten, und ich blieb im dunklen Abteil zurück. Ich stellte meinen Wecker, um wach zu sein, wenn Evi ausstiege, legte mich hin und versuchte einzuschlafen.
Ich schlief nicht. Jack hatte beschlossen, mich mit seinen Anmerkungen wachzuhalten. Alles, was er zu bieten hatte, war Spott und Bitterkeit. Und klare Logik, welche Bedeutung die jeweilige Position der Figuren auf dem Spielbrett hatten - Jack und sein Spielbrett!
Jack führte aus: nach dem ersten Sich-Ausschlafen würde Evi erwachen, und es gab mehrere Möglichkeiten, was dann geschah. Erstens, wenn dies nicht ihr erstes Schlafwagenabenteuer war, würde sie vielleicht denken, daß es ganz nett war, und sich dann dem Tagesgeschäft zuwenden, ohne viel Aufhebens um diese Nacht zu machen. Tschau, sagte Jack.
Zweitens: war es ihr erstes solches Abenteuer, dann würde sie vielleicht beschämt sein, sich Vorwürfe machen oder im Nachhinein erschrecken über unsere Direktheit oder auch denken, ich könnte sie als "leichtes Mädchen" abqualifizieren; dann würde sie kaum Kontakt zu mir suchen. Instinktiv wollte ich Jack eine aufs Maul geben, aber er sorgte sich nur um mich - und deswegen konnte ich ihm nicht wirklich böse sein.
Evi könnte aber auch klug sein und wissen, daß Amors Pfeile jederzeit jedermann treffen können. Daß in der gegebenen Situation weder sie noch ich eine andere Chance hatten. Der übliche Beginn einer Beziehung, sich langsam kennenzulernen und sich langsam mit dem Anderen vertraut zu machen: das war nicht möglich, in dieser Situation! Sollte aber deshalb schon alles verloren sein? Andererseits - was erwartete ich? Konnte ich, nahe 50, jemals wieder hoffen, eine so schöne und um soviel jüngere Frau kennen lernen zu können und von ihr wiedergeliebt zu werden? Würde ich es zustande bringen, mein derzeit rastloses und stressiges Leben in den Griff zu bekommen, um mit einem lieben Menschen wie Evi ganz von vorne, ganz neu anzufangen? Ganz von vorne? Daß ich sagen könnte: "ohne wenn und aber"?
Was, durchzuckte mich ein Gedanke, wenn Evi mich für einen durchtriebenen dirty old man hielt? Was, wenn sie überzeugt war, daß ich Woche für Woche Schlafwagen fuhr, nur um junge Mädchen in mein Abteil zu locken? Ich bat Jack, mich in Frieden zu lassen — hierüber wollte ich nicht mal nachdenken, denn in diesem Fall wäre ich völlig draußen, völlig abgemeldet; sie würde froh sein, dem alten Schwein entkommen zu sein. Tschau, sagte Jack.
Im Halbdämmer murmelte Jack etwas von einem Anderen, meinte, daß Evi sicher einen Liebhaber hat, ein Beziehung, gegen die unser Zusammentreffen kein Gewicht habe, und daß Evi diese Nacht schnell vergessen und sich wieder ihrer Beziehung zuwenden werde. Verzweifelt kämpfte ich gegen diesen Gedanken an, hielt ihre Wärme, ihren Geruch, ihr Frausein, ihre Nähe mit allen Sinnen fest und redete kein Wort mehr mit Jack.
Den Wecker stellte ich ab, bevor er alle aufschrecken konnte und zog mich schnell an. Sah, daß wir bald da waren und ging vor; Evi stand ganz einsam, ernst und schweigend bei der Türe. Ich war sehr gehemmt und brachte keinen ganzen Satz heraus, vielleicht merkte sie es, vielleicht ärgerte sie sich, wie ungeschickt ich war — ich wurde ganz verrückt bei dem Gedanken, jetzt, in letzter Sekunde, noch einen schweren Fehler zu machen. Wir schwiegen mehr, als wir so still nebeneinander standen und in den letzten nebeligen Novembermorgen hinaussahen. Vielleicht haben wir auch miteinander gesprochen, ich weiß es nicht mehr.
Ich sah die ersten Häuser und die Bahnanlagen nur durch eine langsam verschwimmende Tränenwand, gegen die ich ebenso wie den Kloß in meinem Hals ankämpfte. Der Zug wurde langsamer und hielt dann. Als sie ausstieg, beugte sich Jack automatisch über ihr Gepäck, hob es hoch und reichte es ihr hinaus.
Jack sah, daß obendrauf eine verwelkende, langstielige rote Rose lag.
Quintilius Tertius Faber grüßt seine Leser aufs Herzlichste.
Lange, sehr lange habe ich darüber nachgedacht, ob und wie man etwas schreiben darf, das einige (mir gut bekannte) Leser als blasphemisch, respektlos oder schlichtweg geschmacklos finden könnten, andere — der Großteil, meine ich, der mich nicht kennenden Leser — jedoch sehr wohl als vergnüglichen Lesestoff einordnen würden. Je mehr ich über dieses Veröffentlichungsproblem nach dachte, um so klarer wurde mir, warum eine derartige, jedoch nur scheinbare Diskrepanz vorlag.
Erstens, nach einem Todesfall gehört es sich für Hinterbliebene einfach nicht, lustig zu sein; ein Poet in Trauer hat den Federkiel gefälligst beiseitezulegen. Paradox, denn was soll ein trauernder Poet tun, wenn ihm dionysischer Humor entgegenlacht? - Alles andere als herzhaftes Lachen wäre sauertöpfisch.
Zweitens, eine Story sagt immer etwas über den Autor aus. Nehmen Sie einmal an, der Autor meinte, der logische Schluß A + B = C sei gegeben. Vielleicht aber sehen Sie das anders, A ist für Sie kein A, sondern ein F oder so, dann würden Sie sich doch sicher denken, "Aha! So also denkt der alte Lateiner, daß A und B zusammenhängen!" Üblicherweise verdecke ich meine Gedankengänge gerne, doch in diesem Fall gebe ich ausnahmsweise der Schreiblust nach. Es sei.
Drittens, eine Story sagt etwas über die handelnden Personen aus. Die hier, Gott sei Dank, alle erfunden sind. Denn ich wüßte nicht, wie ich mich gegen deren entrüstete Telephonate aus Vindobona, Ostia oder Lutetia wappnen könnte, wären diese Personen alle echt und lebendig.
Quintilius Secundus, mein Vater, ist zu seinen Ahnen gegangen. Als er noch lebte, schrieb er furchtlos gegen Cäsaren, Konsuln und Auguren an, eifrig spitzte er seinen Gänsekiel und dachte oft lange nach, bevor er damit tief und heftig in giftige Geschwüre und papistischen Filz hineinstach. Aber er liebte es auch, wenn es etwas zu Lachen gab; dann riß sein ernstes Gesicht in tausend Lachfältchen auf und er konnte manchmal lachen, bis er japsend rief: "Hör' auf, hör' auf, ich kann nicht mehr!"
Ich schreibe diese Geschichte für ihn, bin in Gedanken bei ihm und hoffe, daß er sie liest und lacht, bis ihm die Tränen über die Wangen laufen.
Die Blasphemie kann beginnen. Sit venia verbo.
"Telephon für Dich" schnarrt Istváns Stimme ärgerlich aus der Gegensprechanlage. Seit Tagen arbeitet er schon an der Darstellung seines Stammbaumes, die er anzufertigen seinem Vater versprochen hatte, da er ein Graphikprogramm auf seinem Abacus Electronicus besitzt. In solchen Produktionsphasen stört man ihn am besten gar nicht, denn jede Unterbrechung nimmt er einem persönlich übel. Insbesondere, weil dieses Programm von der Firma Microproxx des Giulielmus Gattus stammt, den István inzwischen für einen ausgemachten Kretin hält, da sich dessen Programme jeglicher kontinuierlichen Produktivität widersetzen und in schöner Unregelmäßigkeit automatisch exitieren. In diesen Phasen ist das Telephon nicht mehr das notwendige Übel, um die Kommunikation mit der Umwelt aufrechtzuerhalten, sondern ein hinterhältiger Gegner, dessen Läuten ein feindseliger Eingriff in die Produktivität des Genies ist.
"Danke, und entschuldige bitte!" antworte ich schnell und hebe den Hörer ab. "Quintilius, ja, hallus?" melde ich mich und achte mit einem Auge auf meine beiden Enkel, die Zwillinge Tiberius Primus und Tiberius Secundus, mit denen ich gerade gespielt hatte.
Am anderen Ende der Leitung meldet sich meine Halbtante Agrippina aus Nova Scotia. Ich freue mich über ihren Anruf, denn auch sie ist noch vom Tod unseres Vaters sehr betroffen, wir sprechen über all das, was Verwandte in solchen Zeiten miteinander reden. Nach einiger Zeit kommt Agrippina auf den Punkt.
"Sag, weißt Du etwas über einen Diamanten? Hat Dir Vater vielleicht einen Diamanten übergeben?" Ich höre es ihrer Stimme an, daß sie sich für den materialistischen Inhalt ihrer Frage ein wenig geniert. Wahrheitsgemäß antworte ich: "Nein, ich weiß nichts darüber, und gegeben hat er mir nichts derartiges." Ich sehe sie vor mir, wie sich eine halb-und-halb erwartete Enttäuschung auf ihrem Gesicht ausbreitet.
"Nun, war nur so eine Frage. Es hätte ja sein können" sagt sie und lenkt das Gespräch wieder in andere Bahnen. Apollonia, meine Ehefrau und Eigentümerin der A. Faber Grabstein Consulting GmbH, (das muß hier wieder erwähnt werden), hat einige Wortfetzen nebenbei mitgehört und wedelt nun mit ihren Armen, als wolle sie mir ganz dringend etwas sagen, aber ich konzentriere mich weiter auf das Telefonat. Agrippina und ich verabschieden uns, dann lege ich den Hörer auf.
Was denn so dringend gewesen sei, knurre ich etwas unwirsch in Richtung Apollonia und nehme Tiberius Secundus den Schukostecker aus dem Mund: "Das ist malus, kleiner Secundus, sehr sehr malus! Das-da ist electricus, Stromus electricus, der kann den kleinen Secundus aber ganz ganz malus zwicken!"
Apollonias akutes Mitteilungsbedürfnis siegt über ihre Standardkritik, meine Erziehungsmethoden und vor allem meine Kindersprache — singular masculinus chauvinisticus — seien einfach trottelhaft. "Der Diamant, Omas Diamant!"
Ich steh' auf der Leitung (nein, jetzt nicht Stromus electricus). Welcher Diamant? Welche Oma? Apollonia strahlt mich an wie ein Quizmaster sein Gegenüber bei der Fünftausend-Sesterzen-Frage; es ist dieses typische "Na, sag's schon!" — Gesicht. Wenn ich sonst nichts hasse, dann doch Apollonias einfältige Quizshows im Televisionium. Exempla trahunt.
István, der sich in unser Haus zurückgezogen hat, weil er endlich dieses Projekt beenden will, steht auf und geht unruhig auf und ab. Ich frage ihn, was ihn denn bedrücke. Er murmelt etwas über Microproxx und daß das Javascriptum nicht immer so tue, wie verlangt. Dann rennt er weiter im Kreis herum und will sich gedankenlos sein Tabaccum anzünden, aber ich grunze und deute auf Primus und Secundus; das muß doch nicht sein, die Benzedrine aus dem Tabaccum!
Apollonia kann's nicht mehr abwarten und platzt heraus: "Erinnere dich doch, als Oma Constantia verstarb, da suchten doch alle nach ihrem Diamanten!" Nun durchfuhr es mich wie ein Schlag. Diese Geschichte war so ärgerlich, daß ich noch heute aus der Haut fahren könnte. Und das kam so:
Die gute alte Constantia lebte in jenem Teil des Reiches, der von bösen Ostvölkern okkupiert war und deren friedfertige Bewohner viel unter ihrer Herrschaft zu leiden hatten — vor allem, was die Pekunia, ihre Besitztümer also, anging. Wer ehedem ein reicher Patrizier war, war nun ein armer Habenichts, die Geldentwertung und die Enteignungen taten das ihrige. Constantia hatte von ihrem Gemahl (Quintilius Primus) ein kleines Säckchen Sesterzen geerbt, und als sie ihr Ende nahen fühlte, rief sie mich, ihren pekuniär interessiertesten Enkel an und fragte, ob denn das wahr sei, daß man sein Geld am besten in Diamanten anlege und diese dann verstecke. Ich bejahte, denn das machen wir ja alle so, schon seit jeher. Nur, als ich Constantia fragte, um wie viele Sesterzen es sich handele, mußte ich ihr zu meinem Leidwesen mitteilen, daß es sich bei dieser Summe leider nicht rentiere, den doch etwas beschwerlichen Umweg über Diamanten zu gehen. Höflich und rücksichtsvoll verschwieg ich ihr, daß sie mit ihren Sesterzen kaum mehr als eine einzige Orgie für Zwei im "Drago Imperialis Pekinensis" hätte bezahlen können.
Als ich einige Zeit später erfuhr, daß Grußmutter Constantias letztes Stündlein geschlagen hatte, ritt ich sofort mit Apollonia los und besuchte sie im Hospizium. Als wir eintrafen, war sie schon halb bei den Göttern und sprach mit ihren Ahnen, bemerkte unsere irdische Anwesenheit vermutlich gar nicht mehr. Manchmal sah sie durch mich hindurch ihren Quintilius Primus und redete ihn an, stammelte selige Liebesworte, bis mir die Tränen über die Wangen liefen. Apollonia und ich verhielten uns still und ritten schweigend wieder heim.
Kaum, daß sie aber in ihrem ärmlichen Mausoleum lag und die Grabblumen zu verwelken begannen, rief mich meine Tante Olivia aus Baleum Mallorquiniae an und fragte, ob die liebe Oma Constantia wohl und glücklich entschlafen sei. Ich freue mich über ihren Anruf, denn auch sie war vom Tod unserer Oma sehr betroffen; wir sprechen über all das, was man halt in solchen Zeiten miteinander redet. Nach einiger Zeit kommt Olivia auf den Punkt.
"Sag, weißt Du etwas über einen Diamanten? Hat Dir Oma vielleicht einen Diamanten übergeben?" Ich höre es ihrer Stimme an, daß sie sich für den materialistischen Inhalt ihrer Frage ein wenig geniert. Wahrheitsgemäß antworte ich: "Nein, ich weiß nichts darüber, und gegeben hat sie mir nichts derartiges." Ich sehe sie vor mir, wie sich eine halb-und-halb erwartete Enttäuschung auf ihrem Gesicht ausbreitet.
"Olivia", sage ich, "Großmutter Constantia war arm wie eine Kirchenmaus. Sie wußte es nur nicht, denn die Sesterzen wiegen heute nicht mehr so viel wie damals, zu ihrer Zeit. Sie hat mich nach einer Anlage in Diamanten gefragt, aber ich habe ihr davon abgeraten."
"Aber ich dachte — wir dachten eigentlich alle, sie hätte einen Diamanten gehabt und da dachten wir, sie hätte ihn vielleicht dir anvertraut." Olivia war eine stolze Patrizierin, bevor sie eine verarmte stolze Patrizierin wurde, und es fiel ihr schwer, zuzugeben, daß sie einem Gerücht nachgelaufen war. Ich erklärte noch einmal hoch und heilig, daß ich keinen Diamanten von Oma Constantia erhalten hätte, denn woher sollte die verarmte Oma Constantia auch einen solchen herhaben, und damit war die Angelegenheit für mich erledigt.
War sie nicht. Denn Jahre später ging auch meine Mutter zu ihren Ahnen, ich besuchte sie oft am Krankenlager und unterhielt mich mit ihr, bis sie schon halb bei den Göttern war und mit ihren Ahnen zu sprechen begann. Da blieb ich weg und trauerte, bis auch sie in ihrem ärmlichen kleinen Mausoleum lag und die Grabblumen langsam zu verwelken begannen.
Einige Tage später meldet sich Tante Cassiope aus Lugdunum. Ich freue mich über ihren Anruf, denn auch sie ist noch vom Tod unserer Mutter — ihrer Schwester — sehr betroffen, wir sprechen über all das, was Verwandte in solchen Zeiten miteinander reden. Nach einiger Zeit kommt Cassiope auf den Punkt.
"Sag, weißt Du etwas über einen Diamanten? Hat Dir Mutter vielleicht einen Diamanten übergeben?" Ich höre es ihrer Stimme an, daß sie sich für den materialistischen Inhalt ihrer Frage ein wenig geniert. "Du meinst doch sicher den Diamanten von Oma Constantia, nicht?" frage ich vorsichtig und sie bejaht.
Wahrheitsgemäß antworte ich: "Nein, ich weiß nichts darüber, gegeben hat sie mir nichts derartiges und soweit ich weiß, gibt es diesen überhaupt nicht." Ich sehe sie vor mir, wie sich eine halb und-halb erwartete Enttäuschung auf ihrem Gesicht ausbreitet.
"Nun, war nur so eine Frage. Es hätte ja sein können" sagt sie resignierend und lenkt das Gespräch wieder in andere Bahnen. Ich kehre nochmals zum Diamanten zurück und erläutere Tante Cassiope, daß sich das seit Oma Constantias Tod in lockerer Folge bei jedem Todesfall wiederholt und mir allmählich gehörig auf meine Sandalenschnürsenkel geht. Es gibt keinen Constantia-Diamanten, und damit basta!
István, der immer noch unruhig auf und ab wanderte, blieb plötzlich stehen und unterbrach meinen Gedankengang. "Ich laß das mit dem Programm mal liegen" sprach er gegen die Wand, "und mache vielleicht bei den ältesten Ahnen weiter, das ist ergiebiger. Ich habe einen interessanten Familienzweig entdeckt, die Familie Weiß aus Budapest." Und setzt nach einiger Zeit belehrend hinzu, als ob wir Römer ungebildete Barbaren wären: "Budapest, die Residenzhauptstadt Pannoniae". Fragend sieht er mich an. "Machst mit?"
Ich hatte eigentlich schon genug mit den Enkeln gespielt und überließ sie nun Apollonia, die sich mit ihnen auf die Marmorbank zurückzog und ihnen Mices beizubringen versuchte, obwohl ich ihr immer wieder erklärt hatte, daß sie für dieses Würfelspiel noch viel zu jung seien.
Dann saß ich neben István und gemeinsam hetzten wir durch die alten Datenbestände, versuchten seine Ahnen der Reihe nach einzuordnen. Bloß bei dem allerältesten Weiß, da kamen wir nicht weiter. "Die sind vielleicht nach Amerika ausgewandert!" brummte ich nach einger Zeit vor mich hin, ohne mir viel dabei zu denken. István aber nahm den Faden begierig auf.
"Amerika! Aah! Da sollten wir doch gleich mal nachschauen!" und flugs flogen seine Finger über die Tasten. Ja, da war einer aus Budapest ausgewandert, ein Dr. Samuel Weiß samt Familie, 1878. Schweigend lasen wir die Namenslisten, die das k.u.k. Staatsarchiv penibelst aufgelistet hatte.
István räusperte sich und sagte: "Nein, nicht was du denkst, lieber Quincy! Da ist sicher noch ein Haken dran, genauso wie bei jener Großmutter, die zwar denselben Namen wie die ungarischen Könige trug, sich dann aber als Gar-nicht-meine-Großmutter herausstellte!" Ich erinnerte mich, jener Großvater war ein gewiegter Bigamist gewesen und hatte neben vielen gebrochenen Herzen auch einige Großmütter hinterlassen ... Ein halblautes "Das scheint bei Euch im Blut zu liegen" konnte ich mir aber dennoch nicht verkneifen.
Wir druckten aus, was wir gefunden hatten und ordneten die Blätter. Es war eine erstaunliche und spannende Story, die sich vor uns auftat. Mittendrin fragte er mich, was ich über Houdini wüßte, ich kramte also alles aus meinem Gedächtnis zusammen: amerikanischer Entfesselungskünstler, waghalsige Stunts und berühmte Auftritte, wo er sich von den Ketten unter Wasser befreit, bis eines Tages seine eifersüchtige Frau den Schlüssel vertauscht und er im eiskalten Wasser elendiglich ersäuft, ...
"Sachte, Römer, sachte!" unterbricht István meinen Redefluß, "an alldem ist kein Wörtchen wahr!" Dann lehnt er sich zurück, pafft nochmals tief an seinem Tabaccum und beginnt dann zu erzählen.
Am 24. März 1874 kam Ehrich Weisz in Budapest als drittes von 5 Kindern des Rabbi Dr. Samuel Mayer Weisz und seiner Frau Cäcilia Steiner Weisz zur Welt. Vier Jahre später wanderten die Weisz nach Amerika aus, wo die Immigrationsbehörden den Namen auf Weiss änderten. Weiss ließ sich in Appleton, Wisconsin nieder und wurde zum geistigen Betreuer einer neuen, deutschsprachigen Zionismusbewegung, da er neben ungarisch und jiddisch auch fließend deutsch sprach.
Der junge Ehrich amerikanisierte seinen Namen recht bald in Erik, trug mit 7 bereits Zeitungen aus und nahm bis zum 13. Lebensjahr die unterschiedlichsten Gelegenheitsarbeiten an, um der immer noch sehr arm lebenden Familie auszuhelfen. Sein Interesse aber galt der Magie und den Zaubertricks, er bewunderte erst den Wandermagier Dr. Lynn, später den Franzosen Jean Robert Houdin. Den Ausschlag gab erst eine — später abgebrochene — Lehre bei einem Schmied (einem locksmith, der also auch Schlösser und Schlüssel herstellte). Klein Erik lernte rasch, wie man Schlösser knackt. Seinen ersten Auftritt hatte der Neunjährige am 28. Oktober 1883 als Seil- und Trapezkünstler "Ehrich, Prince of the Air". Noch nicht mal 13, trat Erik als "Erik der Große" auf Kleinbühnen auf und rannte von zuhause fort, folgte dem fahrenden Volk (Zirkus) und kehrte erst ein Jahr später wieder zur Familie zurück, die mittlerweile in New York lebte.
Nach dem Tod des Vaters (5. Oktober 1892) arbeitet Erik als Laufbursche, Elektriker, Zuschneider und "Mädchen für alles" beim Krawattenhersteller Richter & Sons, wird Photograph und erneut Lehrling bei einem Schlosser. Zugleich hält er sich für seine artistischen Auftritte körperlich fit und gewinnt mehrere Sportmedaillen im Laufen und Schwimmen. Mit 15 liest er die Autobiografie von Jean Robert Houdin: schlagartig ändert sich sein Leben. Voller Begeisterung für den damaligen Entfesselungsweltmeister nennt er sich ab da Houdini, Harry Houdini.
Ende 1892 tritt er mit seinem Bruder Theo "Dash" (der später unter dem Künstlernamen Hardeen Berühmtheit erlangte) zusammen in einer Show auf, der "Metamorphosis Illusion — The Houdini Brothers"; sie tingeln sich langsam hoch und treten 1893 bei der Weltausstellung in Chicago auf, ebenso im Museumszirkus P. T. Barnum und im Welch Brothers Circus. Im Lauf seines Lebens wird es Houdini auf 11.000 "Metamorphosis"-Auftritte bringen.
Im Juni 1894 tritt er in Coney Island auf, wo er sich in eine der Künstlerinnen von den Floral Sisters, Bess, verliebt. Zwei Wochen später heiratet er die 18jährige Wilhelmina Beatrice Rahner (22.6.1894). Bess ersetzt bald Theo bei den Auftritten, der eine Solokarriere als Hardeen, der Eiserne Mann, beginnt.
Ab 1898 entwickelt Houdini unglaubliche Nummern mit Zwangsjacken und Handschellen, bekommt bald den Beinamen "Der Handschellen-König". Kein einziges Mal kommt es dabei zu einem Versagen. Seine Bekanntschaft mit dem Vaudeville-Agenten Martin Beck bringt ihn bald aus dem Vorstadtmief heraus, Beck vermittelt ihn mit groß angelegten Zeitungsmeldungen, bis hin zu waghalsigen Gefängnisausbrüchen vor den Augen der Staatspolizei und vor zahlendem Publikum, versteht sich. Sein Honorar schnellt auf 125 Dollar die Woche, bald überschwemmt sein Ruhm nicht nur die USA, so daß er 1900 seine erste Europatournee (in London) beginnt. Sein Wochenhonorar pendelt sich bei 1.200 Dollar ein, nachdem er — in Handschellen gelegt — aus dem Gewahrsam von Scotland Yard entwischt. In Paris springt er gefesselt von einer Seinebrücke und foppt die entsetzten Zuschauer, indem er sich minutenlang hinter einem Brückenpfeiler versteckt. Er läßt sich danach nicht mehr nur Handschellen anlegen, sondern wird in einer Zwangsjacke an einen Stuhl gekettet und von der Brücke gestoßen — sein Honorar steigt auf 2.000 Dollar. Houdini kauft gemeinsam mit Bess ein wunderschönes Haus in New York.
1906 läßt er sich kunstvoll verschnürt und mit Ketten gefesselt in die Todeszelle von Charles Guiteau, dem Mörder von US-Präsident Garfield, sperren und entkommt: ganz Amerika rast vor Begeisterung. Springt, in Ketten gelegt, mit Handschellen gefesselt und mit einer 75 Pfund schweren Eisenkugel beschwert von der Golden Gate Bridge in San Francisco. Als er am 27 Januar 1908 in St. Louis das Kunststück zeigt, wie man trotz Ketten, Zwangsjacke und Handschellen kopfüber in einer mit Wasser gefüllten Riesenkanne hängend entkommt, ertrinkt ein Nachahmer. Betroffen schreibt Houdini Artikel um Artikel in den Fachzeitschriften und beginnt seine Autobiografie zu schreiben, wo er auch einige seiner Tricks genauestens beschreibt. Er wendet sich zugleich in der Öffentlichkeit gegen jeglichen Okkultismus und der damit betriebenen Bauernfängerei; dieses Interesse begleitet ihn bis zu seinem Lebensende. Mehrmals entlarvt Houdini Betrüger, was ihm ebenfalls weltweite Aufmerksamkeit beschert.
Er kauft in Hamburg für 5.000 Dollar ein Flugzeug und fliegt 1910 während einer mehrmonatigen Tournee in Australien den ersten australischen Flugrekord (in Diggers Rest) — den 17. Flugrekord der Geschichte. Warum auch immer, danach fliegt Houdini nie mehr.
Er erfindet immer schwindelerregendere Stunts, entkommt aus Wassertanks bei Nacht oder aus dem Rohr einer gewaltigen Kanone, nur Bruchteile von Sekunden, bevor diese abgefeuert wird. Nicht unerheblich für seinen Ruhm ist das waghalsige Spiel mit dem Tod, einem recht realistischen Tod. Seine spektakulärste Erfindung wird die Chinesische Wasserfolter (Chinese Water Torture Cell), die er dermaßen nervenzerfetzend in die Länge zu ziehen weiß, daß bald und recht hartnäckig das Gerücht, er wäre dabei umgekommen, entsteht und sich mancherorts heute noch hält. Immer waghalsigere Kombinationen von zwischen Wolkenkratzern gespannten Seilen oder von den höchsten Gebäuden der Welt herabbaumelnden Seilen, an denen Meister Houdini hing und sich von Ketten, Handschellen und Zwangsjacken befreite, brachten ihm ständig neue Schlagzeilen in den Zeitungen und ein ansehnliches Einkommen. 1918 ließ er die Elefantendame Jenny im Hippodrom von New York City vor Tausenden von Zuschauern verschwinden.
1919 entdeckte ihn Hollywood, er spielt mehrere kleine Rollen und dreht dann selbst zwei Filme, mit sich als Hauptdarsteller; die Filme werden ein finanzieller Erfolg. Houdini ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere und unbestritten der bekannteste Zauberkünstler seiner Zeit.
Am 22 Oktober 1926 tritt Houdini in Montreal auf. Während er sich für die Show in der Umkleidekabine vorbereitet, plaudert er mit einigen Studenten der McGill Universität, wo er am Nachmittag einen Vortrag gehalten hatte. Einer der Studenten, J. Gordon Whitehead, fragt ihn, ob es wahr sei, daß er jeden Schlag auf den Magen vertrage (wie sein Bruder Hardeen, der Eiserne Mann). Noch bevor er antworten kann, treffen ihn völlig unvorbereitet 3 Boxhiebe in den Magen. Neun Tage später, am 31. Oktober 1926, erliegt Houdini in Detroit den inneren Verletzungen (einer Peritonitis, um genau zu sein).
Ich schwieg ergriffen, denn was István da an Geschichtlichem ausgegraben hatte, ausgehend von einem bislang unentdeckten Vorfahr namens Weiss in Budapest, da war schon ein Ding! Zwar keine eifersüchtig mordende Ehefrau und ein im Todeskampf Zappelnder in den eisigen Niagarafällen, aber . . .
"Bleib cool, Römer!" mahnte mich István, meine Gedanken erratend. "Unsere Weiss' haben ganz sicher nichts mit den amerikanischen Weiss zu tun, believe me! Da wird es wohl noch mehrere Weiss in Budapest gegeben haben!" Es folgte eine lange Pause, in der ich nachdenklich schwieg und er seinen Tabaccumrauch vor sich hinblies.
Mit einem Mal schlägt er sich auf die Schenkel, sieht grinsend zu mir und beginnt laut schallend zu lachen. "Das ist es!", japst er zwischendurch, "das ist es!" Und während ich ihn beunruhigt und fragend ansehe, kommt es langsam und von dröhnendem Lachen unterbrochen über seine Lippen: "Das ist es: der Houdini-Diamant! Er ist da, er ist nicht da! Verschwunden — wieder aufgetaucht — verschwunden!" Ich bin sonst eher von schneller Auffassungsgabe, aber nun dauert es eine Weile, bis ich seinen Gedankenbogen von Harry Houdini bis hin zu Tante Agrippinas Anruf von vorhin nachvollziehen kann.
Dann lache ich auch.
So weit der Beitrag vom guten alten Quintilius, liebe Leser. Wie sollte er auch wissen, daß ich manchmal des nachts, wenn alle schon schlafen, zu meinem Safe schleiche und den schönen, großen Diamanten aus dem Lederbeutel nehme, um sein Funkeln im Mondlicht zu bewundern ...
Das Manuskript war eigentlich schon fertig. Eigentlich, denn unseligerweise fehlte das Wichtigste: der Titel. Ich erwog nur kurz, den bisherigen Titel "Mein buntes Fell" aus dem Internet beizubehalten und beriet mich im Familien- und Freundeskreis, doch auch der geniale Arbeitstitel "Ich wollt', ich könnt' wie Kishon schreiben" fiel nach der Erstbesprechung mit dem Hausjuristen durch. Ich zermarterte mein Hirn weiter, und der Urlaubstermin rückte immer näher...
Ich hatte schon Monate vorher beschlossen, mit meiner jüngsten Tochter Julia für einige Tage nach Venedig zu fahren. Ach, allzu rasch werden diese Kinder in unserer schnellebigen Welt erwachsen und da muß man als Vater rechtzeitig alle versäumten Urlaube nachholen, denn eines Tages wird auch sie das heimische Nest verlassen und ihre Urlaube lieber mit Altersgenossen als mit ihren Altvorderen verbringen. Julias Volljährigkeit täuscht, denn immer noch kralle ich mich erfolgreich am letzten Stück der eigenen Jugend fest...
Venedig. Tief atme ich den Geruch der wunderbaren Lagunenstadt ein, freue mich über den Herbstnebel und fahre mit Julia stundenlang im vaporetto, so heißen die Schiffe des öffentlichen Verkehrs, durch die Kanäle. Mit etwas Glück ergattern wir die besten Plätze im Bug, lassen uns den Wind um die Nase wehen und schauen, schauen. Manches Mal taucht etwas auf, das uns beiden etwas sagt, dann unterbrechen wir die Stille und unterhalten uns halblaut. Ja, schau, da drüben: der kleine Palazzo mit dem grünbewachsenen Dachgarten, das würde der Mutter sicher gut gefallen!
Wir malen uns gerade aus, wie wir die noch zu gewinnenden Lottomillionen in Palazzi, grünende Dachgärten und schnelle, wendige Boote umsetzen würden, da neigt sich ein Fahrgast in seinem Sessel vor und sagt halblaut: "Der Stimme nach könnte das der István sein!"
Erstaunt mustere ich ihn — das kurze, ergraute Haar, die kantigen Gesichtszüge, scharf blitzende Augen hinter den Augengläsern — Himmel, das ist doch ...! "Und du bist der Christian N.N.!" sage ich, obwohl ich am Satzanfang den Namen noch nicht wußte und ihn erst aus der verstaubten Kartei in meinem Hirnkastl heraussuchen mußte.
Wiedersehensfreude mit einem Zimmerkollegen aus dem Internat nach 33 Jahren. Die allzu schnell nahende Endstation erzwingt eine schnelle Entscheidung: wir würden uns dann und dann zum gemeinsamen Abendessen treffen, dann entschwindet er samt Familie in der Menschenmenge des Markusplatzes, Julia und ich setzen unseren Weg zu den Laguneninseln fort. Es wird mir warm ums Herz, diesen Freund wiedergesehen zu haben, mein Mund fließt über und ich erzähle Julia immer wieder über unsere gemeinsame Zeit im Internat. Bald schon spreche ich nur von Winnetou, denn das war Christians "Kriegsname" im Freundeskreis. Und rufe mich gleich wieder zur Ordnung, denn Christians Frau und Tochter hatten schon sehr komisch gekuckt, als ich das erste Mal (wieder) Winnetou zu ihm sagte. Nein, wir waren keine Kinder mehr: ich würde wohl auf Christian umstellen müssen!
Insgesamt wurden es zwei Abende, denn der erste reichte nicht aus, um 33 Jahre nachzuholen. Sie können sich sicher vorstellen, daß sich die Tischordnung unausgesprochen und vollautomatisch ergab: wir zwei Grauköpfe steckten zusammen, uns gegenüber versuchten sich Julia, Winnetous Frau und ihre Tochter in gemeinsamen Themen, wenn sie unserem Schwelgen einfach nicht mehr folgen konnten. Erst gegen Ende des zweiten Abends war die erste Neugier so weit befriedigt, daß wir uns beide aus der Abkapselung befreiten und endlich alle gemeinsam unterhielten.
Julia hatte in aller Unschuld und Ehrlichkeit die Frage der Damen, womit sich ihr Vater denn "sonst noch" beschäftige, das Segeln und Bücherschreiben erwähnt. Ich hatte zwar nur mit halbem Ohr zugehört, aber die Unterhaltung drohte in Richtung "Bücher" zu gehen, und da hab ich was dagegen: es bringt doch Unglück, über ein Buch zu reden, das noch nicht einmal gedruckt ist! Also suchte ich wie die Maus ein Loch, um hindurchzuschlüpfen.
Nicht zum ersten Mal in meinem Leben erweist es sich als Fehler, noch einmal von Vergangenem anzufangen, üblicherweise mit "ach ja, was ich dich noch fragen wollte ...". Aber da ich noch nicht das Alter erreicht habe, wo die Unterlassung von Fehlern als Weisheit eingestuft wird, hub ich an: "Ach ja, was ich dich noch fragen wollte, Winnie, was machst du in deiner Freizeit, was ist dein Hobby?"
Winnetous Antwort war zunächst unverfänglich, denn daß er die väterliche Jagd übernommen und zum Jäger geworden war, erschien mir durchaus legitim, zumal mein Nachfragen ergab, daß er sich hochprofessionell und gewissenhaft mit dem Wild und dem Wildbestand beschäftigte. "Nicht so wie früher," grinste Winnetou und seine Frau blickte aufmerksam auf, "als wir noch Fasane fingen, gell?" Seine Tochter und Julia verstummten augenblicklich und sahen uns ebenfalls erwartungsvoll an.
"Ach?", sagte seine Frau gedehnt.
"Ja, und, was war mit dem Fasan?" fragte ihre Tochter.
Julia sah mich verwundert an: "Fasan?" und ihre Augenbrauen zuckten fragend nach oben.
"Also, ich weiß von nichts, war nicht dabei und habe ein unumstößliches Alibi" würgte ich hervor und versuchte das Unabwendbare abzuwenden, obwohl ich schmerzhaft genau wußte, daß ich die Lawine nicht mehr aufhalten konnte. Winnetou deutete meinen leichten Tritt gegen sein Schienbein gänzlich falsch und sagte leichthin: "Ach was, das ist doch schon längst verjährt!"
Sie kennen ja meine Lawinentheorie: verschwitzt raucht man — endlich! — die Gipfelzigarette, schnippt die Asche hinunter, die in den Schnee fällt und ein kleines, schmutzig-graues Klümpchen bildet, das kleine Klümpchen rollt talwärts und wird rasend größer und größer, reißt bald riesige Schneebretter vom Hang und unten entgleist dann der Arlbergexpress, Dutzende Tote — so oder so ähnlich, jedenfalls.
Nun gibt's kein Halten mehr, die Damen bitten erst, dann fordern sie vehement die Geschichte mit dem Fasan. Winnetou erzählt sie (wie ich finde, ein wenig zu sachlich und auf jeden Fall zu trocken) und knufft mich abschließend in die Rippen: "Na, so war es doch, nicht?"
Ich nicke schweigend und denke an den Arlbergexpress.
Jahrelang habe ich meine Geschichten geschrieben und ließ meine Kinder alles lesen — es war ja schließlich und endlich alles wahr, vielleicht da oder dort ein bißchen aufgepeppt, aber das ist nun mal so mit der dichterischen Freiheit — aber natürlich habe ich nicht über alles geschrieben, was im Laufe der Zeit so alles passiert ist, man hat doch noch seine kleinen Geheimnisse! Und nun sieht mich Julia stumm und mit großen, geweiteten Augen an, in denen ich die Überschrift lesen kann: "MEIN VATER, DER WILDERER!"
Winnetou blickt von Julia zu mir, dann räuspert er sich und meint: "Was, das hast du ihr noch nicht erzählt?" Ich verneine, schüttle unglücklich meinen Kopf und denke, daß ich nichts mehr hasse als ein Buch, das so endet: Fortsetzung folgt!
Der Autor sollte vermutlich als erstes darauf hinweisen, daß alle Personen, Handlungen und Ereignisse überall dort, wo sie nicht tatsächlich passiert oder dem Autor widerfahren sind, frei erfunden und daher fiktiv sind. Ähnlichkeiten mit lebenden, toten oder untoten Personen wären damit rein zufällig und im letzten Fall sogar höchst erstaunlich.
Nicht erstaunen sollte, daß die Personen aller autobiografischen Texte tatsächlich leben oder gelebt haben — selbst wenn aus guten oder weniger guten Gründen hie und da eine Namensänderung erfolgt ist. Vermutlich sollte man im selben Atemzug darauf hinweisen, daß einige dieser tatsächlichen oder erfundenen Ereignisse im Nachhinein betrachtet — und dies nicht selten unter Einwirkung von Alkohol, was der Autor zerknirscht zugibt und seine evtl. jugendliche Leserschaft zur Nichtnachahmung ermahnt — geringfügig bis ernsthaft verfälscht wurden, was der Vergeßlichkeit, der Schwadronierlust oder einfach nur der poetischen Freiheit des Dichtens zuzuschreiben ist.
Keinesfalls jedoch war beabsichtigt, den geschätzten Leser oder die noch geschätztere Leserin in irgendeiner Weise in die Irre zu führen oder gar den Autor als besonderen Helden oder Lebenskünstler hinzustellen, obwohl derselbe sich gerne als besonderen Helden und/oder als Lebenskünstler sähe. Wäre da nicht das irritierende Faktum, daß Erstere in aller Regel in schönen Marmorgräbern liegen und Zweitere recht häufig im Häfen sitzen.
Als drittes sollte der Autor erwähnen, daß dieses Buch eine Sammlung von Texten ist, die teilweise bereits auf seinen Internet-Seiten sowie in Computer-Fachzeitschriften publiziert wurden, was dem treuen Leser und der nicht minder treuen Leserin einen gewissen Frust bereiten wird. So paradox es auch klingen mag, dieser Druck vermittelt dem untreuen, also neuen Leser mehr Vergnügen als dem treuen, der die Texte schon aus der Zeitung oder dem Internet kennt.
Es darf gehofft werden, daß dereinst ein Psychologiestudent dieses Phänomen des leserpsychologischen Paradoxons und seine Auswirkung auf die Autorenschaft des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts (samt Propädeutik und Wirtschaftlichkeitsnachweis für das Verlagswesen) wissenschaftlich abhandelt und damit seine Magister- oder gar Doktorwürde erringt.
Und wenn hier schon der Verlag erwähnt ist, dann sollte der Autor viertens auch erwähnen, daß ihm das Klinkenputzen bei guten oder weniger guten Verlagen schon im Ansatz auf den Geist gegangen ist und er daher den — vermutlich gar nicht so — unkonventionellen Weg des Selbstverlegens beschritt; trotz lendenlahmer PC-Software und widerspenstigem Laserdrucker hat er den Text bis zur geistigen und elektronischen Erschöpfung immer wieder in Angriff genommen, bis er gesetzt war und dank der Mithilfe eines befreundeten Verlegers gedruckt und zum Buchbinder gegeben werden konnte.
Gedankt muß auch werden, ganz unzweifelhaft. Dem Autor selbst ein andermal, zunächst aber seinen Kindern und den Frauen, die sein Leben mit ihm teilten (und er ihres mit ihnen, auch).
Sein Leben, das hieß auch seine Texte zu lesen.
Herzhaft zu loben.
Vorsichtig zu kritisieren.
Ganz vorsichtig.
Besonders hart traf es die Kinder, ganz unzweifelhaft. Meist dann, wenn gerade eine spannende Fernsehserie lief oder die Kameraden zum Chatten im Internet einluden, tauchte der Autor mit schweißperlenbeschlagener Brille und wehendem Haupthaar (dieses schütter, allerdings) unter der Tür auf, um seine lieben Kinderchen um den unaufschiebbaren Dienst des Probelesens zu bitten. Dringend zu bitten. Es muß daher naturgemäß auch dem Videorekorder gedankt werden, der die spannenden Fernsehserien gleichzeitig mitschnitt, während die Kinderchen den Dienst am Vater verrichteten.
Dank aber auch an alle, die dem Autor (zumindest bis zu jenem Zeitpunkt) freundschaftlich verbunden waren und seine Texte lasen, diese mit ihrer Meinungsäußerung zu gestalten halfen. Jedem einzelnen besonders zu danken wäre richtig, aber der Autor bekennt sich zu seinen Fehlern und unterläßt es ganz einfach. Die, die immer noch seine Freunde sind, kennen das ja sowieso, und die anderen soll der Kuckuck holen.
Unkonventionellermaßen wird der Autor jetzt auch den Personen der Handlung danken (selbst, wenn sie nur erfunden sind), ganz einfach deswegen, weil er noch von keinem Autor gehört hat, der seinen Protagonisten gedankt hat (was allerdings auch an der Schwerhörigkeit unseres Autors liegen kann, zugegeben). Oder haben etwa William Shakespeare seinem Mercutio oder Agatha Christie ihrem alten Hercule Poirot auch nur ein einziges Dankeswort ins Buch geschrieben, hä!?
Na also!
Schlußendlich bleibt dem Autor die Ehre, all jenen zu danken, die ihm auf seinem Lebensweg begegnet und mit diesem oder jenem kleinen oder großen Ereignis in Erinnerung geblieben sind (oder aber ihn auf den einen oder anderen kauzigen Gedanken oder gar der Idee zu einer lustigen, skurrilen oder auch ernsten Geschichte gebracht haben).