An jenem Sonntagmorgen hatte ich völlig vergessen, daß meine Mutter am Samstag zu ihrer erkrankten Schwester gefahren war und abends dortgeblieben war, um bei deren kleinen Kindern zu sein. Ich erwachte aus einem ziemlich wirren Traum und stand verschlafen auf, um ins Elternschlafzimmer zugehen. Ich klopfte und trat ein, als Alfred brummte. Als ich schon unter die Decke schlüpfen wollte, erkannte ich meinen Irrtum und wollte gleich wieder gehen, aber Alfred brummelte, ich könne mich ruhig hinlegen, er beiße ja nicht. Irgendwie mochte ich den Geruch von Mutters Bett und schlüpfte leise unter ihre Decke.
Alfred schlief sofort weiter, sein langsames Atmen machte mich müde, und bald döste ich auch ein. Ich erwachte erst wieder, als ich ihn seufzen und sich unruhig herumwälzen hörte, denn er hatte im Schlaf wieder einen Steifen bekommen. Schläfrig griff er unter die leichte Decke, unter dem der Steife sich wie ein kleines Bäumchen unter einer Schneedecke steil aufgerichtet abzeichnete, und spielte mit diesem Bäumchen. Er lächelte im Schlaf und spielte ein bißchen, bis er erwachte. Er zog die Decke weg und rieb seinen Schwanz, ganz einfach, so. Ich „schlief“ ja noch und drehte mich weg, als er mich hart mit der Hand packte und mir das Nachthemd bis zum Hals hochzog. Ich erschrak furchtbar, als er eine Hand auf meinen Oberschenkel legte und weiter an seinem Schwanz rieb. Ich überlegte noch, ob ich nicht besser schnell hinauslaufen sollte, aber packte er mich um die Hüfte und zog mich blitzschnell auf sich, drehte mich auf seinen Bauch. Mein Herz stand beinahe still, mein Atem auch.
Ich lag auf seinem nackten Bauch und versuchte mit beiden Händen freizukommen, aber er zog die Knie hoch und grätschte die Beine, so daß ich rittlings auf ihm wie auf dem Rücken eines Pferdes lag, die gespreizten Innenschenkel fest gegen seine Seite gepreßt. Ich spürte seine behaarte Brust mit meinen kleinen Brüsten und hörte mein Herz laut pochen, als er langsam unter meinem Schenkel hindurchgriff und an seinem Schwanz nestelte. Die andere Hand hielt meinen Popo und drückte mich fest gegen seinen wackelnden Bauch, ließ meinen Po kreisen und rieb meine Scham an seinen Bauch. Er schnaufte und rieb, ich wackelte mit dem Wackeln seiner Hand mit und spürte, wie sein Schwanz meine Pospalte flüchtig berührte. Für einige Sekunden blieb es dabei, dann fühlte ich, daß er seine Eichel reibend gegen meinen Popo drückte. Meine Angst mischte sich mit einer langsam ansteigenden Geilheit, ich spürte die Nässe seines Schwanzes und meine eigene, bekam rasendes Herzklopfen vom Reiben meiner Scham an seinem Bauch und weil er seine Eichel rhythmisch dagegen stupste und stupste.
Ich werde nie mehr seinen aggressiven, fast bösen Blick vergessen, als er aufhörte und mir mit einem wilden Ruck das Nachthemd abstreifen wollte; natürlich blieb es bei den Armen hängen, aber er riß daran, bis es seitlich einriß. Achtlos ließ er es hängen und packte meinen nackten Rücken, streichelte mich wild und hielt mich an meinen Oberschenkeln fest. Wie ein Frosch lag ich auf ihm, fühlte seine behaarten Hände überall und seinen Schwanz, der fest gegen meine Pofalte und das Schlitzchen stieß. Alles in mir war in wilder Aufruhr, Geilheit kämpfte gegen Herzklopfen, Angst gegen Neugier und Alfreds Hände, deren Streicheln mich wehrlos und ein bißchen geil werden ließen.
Er schob wieder eine Hand unten durch, während die andere meine Spalte streichelte. Wieder rieb er seinen Schwanz, drückte ihn fest gegen mein Schlitzchen, das die andere Hand streichelte und knetete. Ich hätte schreien können, aber ich war zugleich wie gelähmt, als er beide Hände auf meine Pobacken legte und mich tiefer schob. Er schob mich langsam, aber fest nach unten und gegen seinen Schwanz. Ich riß den Mund zu einem stummen Schrei auf, als ich einen stechenden Schmerz spürte. Seine Eichel war mit einem Ruck in mich eingedrungen.
Bevor ich irgend etwas hätte unternehmen oder auch nur denken können, packte und zog er mich an den Pobacken tiefer und tiefer und spreizte meine Schenkel dabei weit auseinander. Dumpf und stumpf drang sein Schwanz tief in mich hinein, der Schmerz lähmte mich. Alfred hielt mich an meinen Popacken, riß mich einige Male wie eine Spielzeugpuppe auf und ab und kümmerte sich überhaupt nicht mehr darum, daß ich inzwischen meine Stimme wiedergefunden hatte und aus Leibeskräften schrie. Schrie, weil sein Schwanz mich feucht und glitschig gemacht hatte und eine Geilheit, die mit Angst und Schmerz und Schuld gepaart war, in eine irrwitzige Lust überging. Er hielt inne und starrte mich mit offenem Mund an, ich fühlte seinen Schwanz in mir pochen und zucken und spürte, wie sein Schwanz spritzte, spritzte und spritzte.
Im selben Augenblick stieß er mich von sich, sein Pfahl riß sich mit einem dumpfem Schmatzlaut von mir los, als ich neben ihn fiel. Ich schrie nochmals erschrocken auf, denn meine Innenschenkel waren ein bißchen blutig. Ich verstummte und sah zu Alfred, der seine Hände vor das Gesicht geschlagen hatte und aus dessen immer noch leicht pochendem Schwanz ein dünner Streifen über die Schamhaare rann.
Nach einigen Augenblicken stand Alfred unvermittelt auf, schnappte seine Kleider und begann sich anzuziehen, dann schnaufte er laut und ging schnell hinaus, knöpfte sich beim Hinausgehen zu. Ich hörte ihn den Wagen starten und davonbrausen.
Ich war leer und verzweifelt; konnte ich gerade vorhin so etwas wie aufsteigende Geilheit verspüren? Ächzend zog ich mein zerrissenes Nachthemd, so gut es ging, zurecht und versteckte mich unter Mutters Decke. Gelähmt, starr und stumm dachte ich über die letzten Minuten nach und versuchte, mich nicht schuldig zu fühlen. Er hatte mich gepackt, er hatte mir das Nachthemd heruntergerissen, er hatte mich vergewaltigt. Das Teufelchen in meinem Ohr flüsterte aber, daß ich ihm doch lustvoll beim Wichsen zugeschaut hatte, daß ich doch ein klein bißchen geil geworden war. Ich blieb liegen und weinte vor mich hin, denn so unrecht hatte das Teuferl nicht, auch wenn ich mir einreden wollte, daß er, und nur er, mir Gewalt angetan hatte. Ich weinte den ganzen Vormittag, bis die Tür aufging und die Mutter hereinkam. Hereinstürmte, denn sie war sofort in Panik geraten, als Alfreds Wagen nicht vor dem Haus stand.
Ich glaube, sie hat alles im Bruchteil einer Sekunde begriffen. Sie sah mein verheultes Gesicht, das zerrissene Nachhemd und die Blutspuren auf dem Leintuch. Bleich und tonlos setzte sie sich auf den Bettrand und strich die Decke mit einer automatischen Geste und abwesendem Blick zurecht. Ich begann sofort wieder zu weinen und umklammerte sie voller Verzweiflung; wie sollte ich ihr erklären, daß nicht er allein schuldig war, sondern daß ich es ein bißchen auch war, daß sich das schon seit Monaten anbahnte? Daß er mich „dabei“ erwischt hatte, immer wieder geblieben war und sich ungeniert benahm? Daß ich ihn aber auch provoziert hatte, mit den herausgestreckten nackten Beinen oder wenn ich meine Hand unter der Decke auf meine Scham legte? Daß ich ihnen beiden ungeniert zugeschaut hatte, Sonntag für Sonntag?
Mutter hielt mich schweigend umarmt. Ich fühlte, wie sie tränenlos schluchzte, wie sich ihr Körper verhärtete. Ich schluchzte und heulte, denn es tat mir alles weh, am meisten aber hatte ich Angst, ihr alles zu erzählen. Nach einiger Zeit richtete sich Mutter auf, legte mir beide Hände auf die Schultern und sah mir ins Gesicht. „Ich bringe ihn um!“ sagte sie, und das war das Einzige, was sie an diesem Tag sagte. Wortlos nahm sie mich bei der Hand und ging mit mir ins Bad, wusch mich sorgsam und weinte stumm, als sie mich abtrocknete. Ich weinte auch und haßte Alfred, denn er hatte mich gepackt, er hatte mir das Nachthemd heruntergerissen, er hatte mich vergewaltigt. Mutter hielt mich lange umarmt und weinte mit mir, dann verkroch ich mich bald ins Bett und wälzte mich unruhig, während Mutter stumm in der Küche saß und wartete.
Alfred kam erst am Abend wieder. Ich wurde wach, als ich lautes Schreien aus der Küche hörte. Ich konnte keinen zusammenhängenden Satz verstehen, weil sie sich dauernd schreiend unterbrachen. Ich wußte aber genau, worum es ging und schnappte einzelne Worte auf. Mutters Drohungen mit der Polizei ignorierte er offenbar völlig, verteidigte sich mit lautem Brüllen, daß die kleine Hure ständig halbnackt herumliefe oder sogar in ihrem Bett liege. Nach und nach spuckte er brüllend Brocken um Brocken alle Geheimnisse heraus, doch meine Mutter schien ihm nicht zuzuhören. Sie werde ihn anzeigen und er werde nicht glimpflich davonkommen, dafür würde sie schon sorgen! Auch meine Mutter konnte laut werden, aber ich habe sie noch nie dermaßen laut schreien gehört.
Anfangs hätte ich am liebsten sterben mögen, ich war noch völlig durcheinander und alles tat mir weh. Mutter schrie ihn nochmals an, daß er seine Sachen packen und verschwinden solle, sofort, dann knallte sie die Türe zu und ging in den Keller hinunter. Alfred verstummte und ich hörte, wie er mit der Kaffeemaschine hantierte. Irgendwie war er schon ein eiskalter Klotz, wie konnte er jetzt bloß an Kaffee denken! Ich schloß leise meine Zimmertür und warf mich aufs Bett, heulte vor Schmerz und vor Wut über diesen Kerl.
Nach einiger Zeit hörte ich, wie er laut schimpfte, aber Mutter hörte ich nicht. Nur einmal, da schrie sie: „Nun geh, geh doch endlich!“ Dann knallte er die Tür hinter sich zu und fuhr davon. Ich hörte es nur mit halbem Ohr, dann schlief ich wieder ein.
Am nächsten Morgen erwachte ich von lauten Stimmen und fremden Schritten in unserem Haus. Ich zog mir rasch etwas über und ging in die Küche. Die Polizei war gekommen und hatte meiner Mutter mitgeteilt, der Alfred Newrkla sei gestern Nacht im Nehringer Wald in einer Kurve hinausgeflogen und in den Lemmerbach gestürzt. Er sei sofort tot gewesen. Mutter saß mit versteinertem Gesicht am Küchentisch und nickte nur. Dann gingen die Polizisten wieder.
Mutter sprach kein Wort. In mir war ein Sturm unterschiedlichster Gefühle, mein Peiniger tot und recht geschieht ihm, aber der Alfred, Mutters lieber Alfred, war nicht mehr! Ich wußte noch nicht, was das ist, der Tod, und fürchtete mich sehr, wenn jemand starb; wo war er jetzt? Und: wie war er? Ich hatte früher oft darüber nachgedacht, ob der alte Herr Müller, nachdem er gestorben war, immer noch der griesgrämige alte Kinderhasser oder zu einem freundlichen Engerl geworden war? Ich machte den Mund auf und wollte gerade etwas sagen, da sah mich meine Mutter schweigend an und sagte tonlos: „Ich habe ihn umgebracht!“
Ich schrie vor Entsetzen auf, die Gedanken purzelten in meinem Kopf – das durfte nicht wahr sein! Wie hatte sie nur - ? Und wie? Vor allem – hatte nicht ich Alfred umgebracht? War es nicht wegen mir geschehen? War nicht ich es, die das ganze Unheil heraufbeschworen und die Gewalttat provoziert hatte? Ich zitterte, weil ich zum ersten Mal darüber nachdachte, und mir das Angst machte. „Am besten fährst du für ein paar Tage zur Tante Martha, sie kann sich um dich kümmern, wenn sie mich holen. Und sie werden mich holen, ganz bestimmt!“ Ich sträubte mich, bat und bettelte, bleiben zu dürfen, aber meine Mutter blieb fest, erhob sich und begann, meine Sachen in ihren alten, braunen Pappkoffer zu packen. Dann ging sie zu den Mosers hinüber und telefonierte mit Tante Martha. Als sie zurückkam, sagte sie, daß mich Theresa, meine Kusine, abholen werde. Sie freuten sich alle, daß ich für ein paar Tage bei ihnen wohnen würde. Als ich daran denken mußte, daß mein Vater erst in einigen Wochen von der Auslandsbaustelle zurückkäme, mußte ich wieder verzweifelt weinen.
Dann saßen wir schweigend in der Küche, schauten stumm auf das gemusterte Tischtuch. Zum ersten Mal sah ich meine Mutter rauchen. Ich wollte ihr alles erzählen, das mit dem Masturbieren und dem Alfred, der an meinem Bett gesessen hatte und auch das, daß ich am Sonntagmorgen mich immer nur schlafend gestellt und alles mitbekommen hatte, aber ich hatte einen dicken, würgenden Knödel im Hals und bekam keinen Ton heraus. Ich schwieg, obwohl ich ihr hätte alles erzählen sollen. Aber wir saßen schweigend am Küchentisch, und ich sah meine Mutter zu ersten Mal rauchen.
Ich heulte und wollte meine Mutter gar nicht mehr loslassen, als Theresa mich abholen kam. Dann saß ich schweigend neben ihr im Auto und sah die Bäume und Felder vorbeiflitzen. Theresa hatte überhaupt keine Ahnung vom Drama und plapperte drauflos, daß es mit dem Peter schon aus sei und der jetzige Franz hieße, Bäckergeselle sei er und ganz, ganz lieb. Sie wohnten im Dachgeschoß und ich bekäme das kleine Zimmer neben ihr, aber diesmal würde ich allein schlafen müssen, kicherte sie und stieß mich augenzwinkernd mit dem Ellenbogen. Dann erst sah sie, daß ich noch immer kein Wort sagte und traurig hinausblickte. Aber ich sagte nichts, obwohl sie eindringlich fragte. Wir fuhren schweigend weiter.
Ich blieb ein paar Tage daheim, Tante Martha hatte eine Verständigung an die Schule geschickt, ich sei erkrankt. Sie wußte Bescheid, aber sie ließ mich in Ruhe und fragte nicht. Nach zwei oder drei Tagen kam sie in mein Zimmer und setzte sich bleich auf meinen Bettrand. „Sie haben deine Mutter mitgenommen“ sagte sie leise, „sie sagen, sie hätte ihn mit Schlaftabletten betäubt, deswegen der Unfall.“ Tante Martha schwieg lange. Dann gab sie sich einen Ruck und meinte: „Wie immer es gewesen sein mag, es ist ihm Recht geschehen, dem Sauhund!“
Ich weinte und sagte nichts. Mutter im Gefängnis! Wegen mir, denn ich war an alldem Schuld. In meinem Kopf hämmerte es immer wieder: Schuld, Schuld, Schuld!
Das Fieber kam in der Nacht, ich lag tagelang im Bett, ohne meine Umwelt wahrzunehmen. Tante Martha war verzweifelt, weil ich weder aß noch trank. Ich schrie, wenn sich die Teufelsfratzen im Traum über mich beugten oder ich in einem makabren Totentanz mit Alfred, meiner Mutter oder Bello, dem Hofhund bei Monika herumgewirbelt wurde. Vage erinnere ich mich an den Dorfarzt, der mich mit kühlen, schmalen Fingern betastete und mir eine Spritze gab. Ich spürte den Einstich überhaupt nicht, lachte wie eine Irre und schlief sofort wieder ein.
Irgendwann, einige Tage später, sank das Fieber. Ich war mager, schmal und kraftlos geworden, konnte kaum aufstehen. Tante Martha sorgte sich liebevoll um mich und schwatzte über dies und das und jenes. Als ich mich kräftiger fühlte, fragte ich, wie es Mutter gehe. Tante Martha wurde sofort wieder ernst und erzählte, der Onkel (ihr Mann) hätte sie besuchen dürfen, sie sei sehr gefaßt. Der Onkel habe den besten Anwalt im Bezirk beauftragt, Mutter zu helfen, über die Kosten wolle man später reden. Ich fragte sie, ob ich meine Mutter auch besuchen dürfe. Tante Martha wußte es nicht, aber sie versprach, zu fragen. Natürlich durfte ich nicht. Außerdem sei ich noch viel zu geschwächt, sagte sie. Ich nickte nur, denn genau das hatte ich erwartet. Aber während des langen Liegens hatte ich viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Der Plan war lange gereift, nun wollte ich ihn ausführen. Ich war zwar noch keine 14, aber ich mußte jetzt wie eine Erwachsene handeln.
Am nächsten Vormittag, während Tante Martha zum Einkaufen in den Ort gefahren war, schlich ich die Treppe hinunter, zum Telefon, das auf der Wand im Vorzimmer hing. Ich wählte und wartete lange, bis sich jemand meldete. Dann wollte ich den Beamten sprechen, der für den Fall Alfred N. zuständig sei. Ich mußte nochmals meinen Namen sagen, dann meldete sich eine tiefe, kratzende Männerstimme, die wissen wollte, was ich denn wolle. Eine Aussage machen, sagte ich. Aha, meinte er, und welche? Ich schluckte und würgte, denn es fiel mir nicht leicht, aber endlich stammelte ich: „Ich war es! Ich habe es getan!“
Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Ja, ob das alles sei, fragte er und ich hörte sein Feuerzeug schnippen, offenbar zündete er sich gerade eine Zigarette an. „Nein,“ sagte ich, „bitte hören Sie doch zu: ich war es, ich habe das mit dem Alfred gemacht, meine Mutter hatte damit gar nichts zu tun! Sie ist unschuldig!“
Wieder war es unheimlich still, ich war das Telefonieren auch nicht gewöhnt und fand die Pausen verwirrend. „Meine Mutter war es nicht, ich war es!“ schrie ich wieder in den Hörer, „können Sie das verstehen? Sie müssen sie freilassen, sie hat nichts davon gewußt!“ Er unterbrach: „Wart mal, wart einen Moment“, dann wieder diese völlig lähmende Stille. Ich wartete und zitterte vor Angst. Ich konnte hören, wie er mit jemandem im Hintergrund sprach.
Dann war die Stimme wieder da. „Wo wohnst du jetzt?“ Ich sagte ihm Tante Marthas Adresse. „In Ordnung. In einer Viertelstunde kommt eine Beamtin zu dir. Gehe nicht weg, bleib daheim! Kann ich mich darauf verlassen?“ Ja, wisperte ich und legte den Hörer wieder auf die Gabel. Ich blieb barfuß und im Hemd neben dem Telephon stehen. Endlich, endlich hatte ich meine Mutter gerettet! Ich stand da und ließ die Gedanken durch meinen Kopf wirbeln, daß die Mutter endlich frei sei und daß ich jetzt die Schuld eingestehen konnte.
Die Türklingel summte. Ich sah eine schlanke Frauengestalt durch die Glasscheibe und öffnete. Die junge Frau sah mich forschend an, dann sagte sie, sie hieße Frau Ehmer und arbeite bei der Polizei. Ob ich dort gerade angerufen habe? Ja, nickte ich und ließ sie eintreten. „Ich muß gleich mit, nichtwahr?“ fragte ich und ärgerte mich ein wenig, weil mir schon während dieser Frage die Tränen hochstiegen und die Kehle zuschnürten. „Ach, das hat noch Zeit“, sagte Frau Ehmer, „vielleicht setzen wir uns mal hin und du erzählst mir einfach alles, in Ordnung?“ Ich nickte, sah dann an mir herunter. „Ich bin noch im Nachthemd,“ sagte ich völlig überflüssigerweise. Frau Ehmer lächelte. „Dann ziehen wir uns etwas an, gut?“ Ich nickte und stieg die Treppe hoch, Frau Ehmer dicht hinter mir. „Ist das dein Zimmer?“ fragte sie, nachdem sie sich kurz umgesehen hatte. „Ja,“ antwortete ich und verbesserte schnell: „nein, das ist nur, solange meine Mutter nicht da ist, ich habe daheim mein eigenes Zimmer.“ Verflucht, ich weine schon wieder! „Na, dann warte ich mal draußen, bis du mit Anziehen fertig bist“ sagte Frau Ehmer und ging vor die Tür, die sie aber offenließ. „Und laß mich nicht allzulang warten!“ meinte sie und lächelte schelmisch, „ich muß bald weiter!“ Rasch zog ich mich an und fuhr mit einer Bürste durch mein Haar. „Fertig!“ sagte ich zu Frau Ehmer, die erstaunt auf den braunen Pappkoffer in meiner Hand blickte.
Etwas unsicher sagte ich: „Ich komme ja mit!“ Sie schwieg immer noch, und Pausen hasse ich, wirklich. „Ich habe alles fürs Gefängnis, es war ja sowieso noch alles eingepackt“ stotterte ich und wollte hinuntergehen, aber Frau Ehmer meinte: „Also, zuerst mußt du mir alles genau erzählen, dann sehen wir weiter!“ Freundlich, aber bestimmt nahm sie mir den Koffer aus der Hand und stellte ihn neben die Türe, dann nahm sie mich sachte bei der Hand und führte mich zum Bett. Ich setzte mich, Frau Ehmer setzte sich an den Tisch und sah mich an. „Deiner Mutter geht es ganz gut, unter diesen Umständen“ begann sie und sah mir gerade in die Augen, „sie ist sehr stark und erträgt es mit Stolz. Daß sie den Mann, der dich vergewaltigt hat, mit Schlaftablette betäubt hat, wird nur schwer zu beweisen sein, außerdem wird das Gericht in diesem Fall Milde walten lassen. Es ist kaum zu erwarten, daß sie verurteilt wird, und wenn, dann höchstens für ein paar Monate. Weißt du, da gibt es wichtige Unterschiede zwischen Mord und Totschlag oder Tötung im Affekt.“ Frau Ehmer machte eine Pause, dann ergänzte sie: „Der Anwalt wird sich sicher ordentlich ins Zeug legen, da bin ich mir ganz sicher.“
Wir schwiegen, und ich versuchte den Sinn ihrer Worte genau zu verstehen. Frau Ehmer zappelte auf ihrem Stuhl, dann fragte sie, ob sie rauchen dürfe. Geistesabwesend nickte ich, denn ich dachte darüber nach, was sie mir eigentlich sagen wollte. Ich raffte meinen ganzen Mut auf und fragte: „Was bedeutet das alles?“
Sie lächelte. Angriffslustig blies sie den Rauch aus dem Fenster, bevor sie antwortete: „Das bedeutet, daß du dir keine Geschichte ausdenken mußt, um die Schuld an Alfreds Tod auf dich zu nehmen. Die Polizei weiß ganz genau, daß er Schlaftabletten in seinem letzten Kaffee getrunken hatte und dann beim Fahren ohnmächtig wurde. Was sie nicht genau weiß, wer sie in den Kaffee getan hat. Genausogut kann er sie selbst genommen haben, alkoholisiert war er ja außerdem. Aber die Tabletten gehörten deiner Mutter, das ist erwiesen. Und ihr beharrliches Schweigen macht uns die Sache nicht leichter.“ Sie machte eine kleine Pause und beobachtete mich scharf. „Was wir aber gar nicht brauchen können, ist eine Lügengeschichte, die du uns auftischt. Das kann unter Umständen deiner Mutter sogar schaden.“
Ich erschrak. Ich wollte meiner Mutter doch nicht schaden! Mein Plan schrumpfte in einer Sekunde zu einem winzigen, unbedeutenden Punkt zusammen. Frau Ehmer ließ mich ausweinen, legte ihre Hand um meine Schulter und beruhigte mich mit freundlichen, verständnisvollen Worten. Behutsam fragte sie mich, ob ich über alles sprechen könne und machte sich kleine Notizen, während ich stockend und holprig über die ganze Alfred-Geschichte berichtete. Manchmal sagte sie, ich brauche nicht alles so detailliert zu schildern, wenn es mir schwer falle, denn sie würde nur die für die Ermittlung relevanten Dinge weitergeben, auf keinen Fall alles.
Als Tante Martha wiederkam, fragte Frau Ehmer, ob sie mich zu Mutter mitnehmen könne. Ich jauchzte und durfte meine Mutter besuchen, die mich lieb anlächelte und dann streng sagte, ich solle keine solchen dummen Sachen erzählen, daß ich es gewesen sei und so weiter. Und die gute Nachricht sei, daß der Anwalt meine, sie bald herauszubekommen. Dann überlegte sie kurz und setzte hinzu: „Auch, wenn wir beide die Wahrheit wissen.“
Es kam auch so, aber nur in etwa. Vater kam und sorgte sich rührend um mich, im Herbst kam ich in die Oberstufe und Frau Ehmer war gar keine richtige Polizistin, sondern eine Psychologin, die mich danach viele Monate lang betreute. Das Gericht verurteilte meine Mutter zu fünf Jahren, ließ sie aber nach drei Jahren frei. Mein Vater und ich besuchten sie, so oft es ging, und an meinem 17 Geburtstag erfüllten sie mir den einzigen Wunsch, den ich hatte: daß wir alle drei gemeinsam und vor allem daheim feierten. Sie brauchten noch ein Jahr, um wieder zueinander zu finden.
Ich brauchte aber noch einige Jahre, bis ich diese Katastrophe verarbeitet hatte. Und noch länger sollte es dauern, bis ich darüber schreiben konnte.