Prolog

von Lena A. Lien © 2023

Die lächerlich kurze "Gerichtsverhandlung" endete wie vorauszusehen mit dem Todesurteil; ich sollte heute, morgen oder irgendwann liquidiert werden: über das Wann und Wie ließen sich die Darx nie näher aus. Die Darx — so nannten wir unsere unsichtbaren Gegner in Anspielung darauf, daß sie anscheinend auf der Dark Side of the Moon ihren Stützpunkt hatten. Der Krieg dauerte nun schon seit 1969, doch bis heute hatten wir von den Darx selbst nichts außer ihren Maschinen und Stützpunkten gesehen.

Natürlich hatte ich weder einen Verteidiger noch war die Verhandlung öffentlich; im kargen weißgetünchten Raum stand nur ein einfacher Holztisch, auf diesem ein Translator, dessen künstliche Stimme krächzend und kratzend die Gedanken der Darx‐Richter wiedergab. Ich wußte nicht einmal, ob ich mit einem oder mehreren sprach. Jedenfalls waren sie sehr darum bemüht, eine unserer irdischen Gerichtsbarkeit ähnelnde Entsprechung zu simulieren.

Von Lena hatte ich seit meiner Einlieferung ins Gefängnis nichts mehr gehört. Konnte sie weder um Rat fragen noch ihr kleines Händchen halten, mich an ihr festhalten, ausweinen oder mit ihr schlafen. Ich wußte nicht, wo sie war und ob sie überhaupt noch existierte — ich mußte allein durchkommen. Spionage, Aufruhr, Hochverrat und Terrorismus waren nur einige der im Todesurteil verlesenen Anklagepunkte; sie getrauten sich nicht, mich offen als Anführer einer Widerstandsgruppe zu bezeichnen. Sie schienen zu wissen, daß Märtyrer auf Menschen eine besondere Wirkung haben konnten. Ich setzte all meine irrwitzige Hoffnung darauf. Es konnte also noch sehr lange dauern, bis genug Gras über die Geschichte gewachsen war und sie mich still und heimlich entsorgen konnten.

Die mechanische Wache an meiner Zellentür rührte sich nicht, als ich "Hallo! Kann mich jemand hören?" rief. Nach einiger Zeit ertönte aus seinem Lautsprecher die maschinell verzerrte Stimme eines Darx: "Was willst du?"

"Gefangener 348211, Jan Ohnehand. Ich möchte ein Memomail an eine Gefährtin und Verwandte senden, bevor meine Terminierung erfolgt." Lange Zeit war nichts zu hören. Ich kannte das schon, hatte schon erlebt, daß eine einfache Frage erst nach Stunden oder gar Tagen beantwortet wurde. Trotz meiner mißlichen Lage mußte ich manchmal schmunzeln, wenn das "Ja" auf eine einfache Frage erst am nächsten Tag kam und ich erst lange nachdenken mußte, was ich ursprünglich gefragt hatte. Ihre Handelsstationen und die gesamte Logistik waren ja zerstört worden und gestalteten die Kommunikation mit dem verlorenen Posten Erde äußerst schwierig.

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Es ist bei uns Sitte, daß ein Todeskandidat seinen letzten Willen an seine Angehörigen schreiben darf, bevor er terminiert wird", ergänzte ich. Es knackte und knisterte lange im Lautsprecher, der im Brustpanzer des Wächters eingelassen war. Dann kam die Gegenfrage: "Wie ist der Name des Angehörigen und welchen Inhalt soll das Memomail haben?"

Ich mußte schnell und unbeteiligt antworten, denn die Darx werteten Reflexe und Antwortzeiten gewissenhaft aus und zogen ihre oft gänzlich aberwitzigen Schlüsse daraus. "Lena Ohnehand und mein Memomail enthält persönliche Details über die Zeit, seit wir als Kinder getrennt wurden" antwortete ich. Ich wußte, daß sie bei beidem nachfragen mußten und bereitete mich innerlich darauf vor.

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Lena Ohnhehand ist nicht registriert. Vollständigen Namen, Verwandtschaftsgrad und Aufenthaltsort angeben!". Da war sie, die schwerste aller Fragen. Ich zählte bis 8, eine bisher bewährte Zeitspanne, die ich den Darx gegenüber konstant beibehielt, damit sie dies in meinem Persönlichkeitsprofil vermerken konnten und ich ausreichend Zeit zum Nachdenken hatte. "Lena ist eine Halbschwester, wir wuchsen getrennt auf. Aufenthaltsort ist mir derzeit unbekannt. Letzter Kontakt am 11. Oktober in der Nähe des Hauptquartiers. Ich möchte das Memo ins Net‐O‐Net stellen, da wird sie es finden." Die Darx waren klug, hochtechnisiert und bestialisch grausam. Aber sie hatten so ihre Probleme mit abgefeimten, schlauen Lügnern wie mir.

Nach einer Viertelstunde schweigenden Wartens setzte ich mich wieder. Vermutlich würde ich auf eine Antwort bis zum Abend oder gar bis morgen warten müssen; die verlorene Außenstation Erde war in sich ja völlig intakt, aber von der Zentrale nur mehr über immer kläglicher funktionierende Notleitungen zu erreichen. Es war nur mehr eine Frage der Zeit, wann sich die Darx neuen Projekten zuwenden und dieses Alesia vergessen würden.

Ich bestellte Trinkwasser in einer Schnabeltasse und die Wandklappe öffnete sich nach einigen Sekunden. Ich stand auf und nahm die Schnabeltasse mit meinen Zähnen, trank das Wasser. Das war wenigstens etwas, was gut funktionierte: Essen und Trinken, was immer man wollte. Feinste Speisen, fein püriert, weil ich meine Hände ja nicht gebrauchen konnte. Woher es kam und wie es so schnell herbeigeschafft werden konnte, blieb mir ein Rätsel, wie fast alles, was mit den Darx zusammenhing. Aber ich dachte an Edmond Dantes und Abbé Faria, und da hatte ich es doch wohl besser, schätze ich.

"Prost, Admiral von Schneider!" sagte ich zum Wächter, denn in den vergangenen zwei Wochen, die wir schon gemeinsam diese Zelle teilten, hatte ich ihm einige irdische Unsinnigkeiten beigebracht. "Cheers, Miss Sophie!" fiepte der Stahlkoloß und hob die Hand mit einem imaginären Becher. "Braver Junge!", lobte ich ihn und kicherte; dann wartete ich weiter geduldig auf die Antwort seiner Vorgesetzten, die in vielen Lichtjahren Entfernung vorsichtige Schadensbegrenzung und hektisches Krisenmanagement betrieben. Lästige Bittsteller wie ich mit meinem Memomail wurden vermutlich von überforderten Untergebenen zögerlich und ängstlich abgefertigt; man hatte Wichtigeres zu tun. Der Koloß blinkte und zwinkerte mit all seinen Lichtern, während er mir noch eine Zeitlang zuprostete; dann erstarrte er wieder wie ein Spielzeug, dessen Federantrieb abgelaufen war.

In den wenigen Jahren, in denen ich das selbständige Denken erlernt hatte, fielen mir solche Seltsamkeiten auf, obwohl sie jedermann von Kind auf gelernt zu haben schien: man prostete sich bei besonderen Gelegenheiten zu, nicht aber beim einfachen Wassertrinken. Nur wußte das der Programmierer dieses primitiven Waffenträgers nicht. Wie so vieles andere auch nicht — und bescherte mir manchmal prompt eine längere, völlig sinnlose Debatte mit seinem Vorgesetzten. In Kriegszeiten ist es manchmal ganz gut, über die Reaktionen und die Denkfähigkeit des jeweiligen Gegners Bescheid zu wissen, oder wie in diesem Fall, über die Grenzen dieser Maschine.

Lena konnten sie natürlich nicht finden, sie war nirgends registriert, existierte für die Darx eigentlich gar nicht. Garantissimo. Aber schon diese Diskrepanz würde ausreichen, ihren Namen (war das überhaupt ihr Name?) ganz oben auf die Fahndungsliste zu bringen. Mich brauchten sie ja nicht erneut zu befragen, da ich doch alles bereitwillig gesagt hatte. Ich wurde im Hauptquartier verhaftet und konnte daher völlig ehrlich lügen, sie kurz davor zuletzt gesehen zu haben. Ob Lena meine Halbschwester war, wie sollten sie das überprüfen? Wann und wo ich sie zuletzt gesehen hatte, hatte ich ja plausibel angegeben, denn ich konnte davon ausgehen, daß "einige Tage vor meiner Verhaftung" ein plausibler Zeitpunkt war und sie trotzdem genau über diese Zeit keine verläßlichen Daten ermitteln konnten. Welche privaten Dinge ich ihr anvertrauen wollte, interessierte sie vermutlich nur insofern, ob neue verwertbare militärische Fakten (Verzeihung, terroristische natürlich) enthalten waren. Und da durften sie ruhig auswerten, bis sie schwarz wurden.

Lena wußte sicher alles über mich, sonst wäre sie nicht Lena. Wenn sie noch existierte (woran ich größte Zweifel hatte), würde sie sicher sofort begreifen, daß das Memomail natürlich nicht nur für sie, sondern eigentlich für mich selbst bestimmt war. Sie durchschaute sicher, was ich bezweckte: einmal mein ganzes Leben jemandem erzählen, so, wie wenn zwei Freunde unter dem Sternenhimmel beim Lagerfeuer sitzen, Cognac trinken und sich gegenseitig Verborgenes, Geheimes und Intimes erzählen. Die Nähe des anderen spüren, wenn man sich all der Dinge erinnert, die wesentlich im Leben waren. Dieser Jemand, dieser Andere wäre — ich. Und wenn ich nach meiner Terminierung noch einmal in die Lage kam, dieses Memomail zu lesen, dann wollte ich über Jan Ohnehand, Gefangener 348211, der ich einmal gewesen war, genauestens Bescheid wissen. Meine verkrüppelte Jugend, das lange Einsamsein, die Fixierung auf einige wenige Dinge des Lebens wie den Sex, die völlige Isolation und Unwissenheit über das aktuelle Zeitgeschehen; die Zeit des Denkens‐Lernens mit Lena, meine Lehrzeit bei ihr und unsere Freundschaft, die uns im Widerstand zusammenschweißte. Ich würde später wissen wollen, wer dieser kleine Jan war, wie er dachte und wie er sprach, wie er die Dinge langsam und in kleinen Schritten zu begreifen begann, aber auch...

Der Lautsprecher unterbrach meine Gedanken und knackte erneut. Nachdem die Störungen vorbei waren, ertönte die blecherne Stimme: "Genehmigung erteilt. Fahndung nach Lena Ohnehand an alle Dienststellen mit oberster Priorität. Halte dich kurz und bündig; der Inhalt des Memomails wird vor der Freigabe mit Sicherheitsstufe 5 geprüft!". Einen Sekundenbruchteil später materialisierte auf dem Tisch ein Diktiergerät. Die rote Aufnahmelampe blinkte.

Ich rückte etwas näher und begann, meine Geschichte zu erzählen.

"Gefangener 348211, Jan Ohnehand, Memomail an Lena Ohnehand, zur permanenten Speicherung im Net‐O‐Net. Vater verließ uns, als ich etwa 6 Jahre alt war..."