Der erste Plan

von István Rudas © 2022

Ray lehnte sich nach dem Frühstück zurück. Lin hatte den Tisch abgeräumt, kam mit grazilen Schritten zurück und schenkte ihnen beiden Kaffee nach. Sie nahm die angebotene Zigarette an und setzte sich neben ihn.

"Deine Gedanken nehme ich als Kompliment," sagte sie lächelnd, "ich versuche nur, die gute Frau zu sein, die du dir gewünscht hast!" Ray nahm ihre Hand und küßte ihre Fingerspitzen. Er mochte die gedankliche Kommunikation nicht besonders, er wollte lieber mit ihr sprechen. Sie nickte zustimmendund und kraulte liebevoll seine Nackenhaare.

"Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, was ich in drei Tagen tun kann," sagte er. "Krieg ist in der DNA der Menschen, das ist seit Jahrtausenden so. Ich weiß nicht, ob man dem Menschen einfach so sagen kann, er solle keine Kriege mehr führen." Ray sog an seiner Zigarette und blickte dem Rauch nach. "Ich verstehe einiges von Hypnose, aber es erscheint mir unrealistisch, Menschen mit Hypnose den Krieg vergessen zu lassen."

Lin nickte ernst. "Das haben wir schon vor langer Zeit evaluiert, es funktioniert nicht nachhaltig, es bleibt nicht dauerhaft." Sie schmiegte sich an ihn und ergriff seine Hand. "Es muß anders gehen." Nachdenklich sagte sie: "Wir haben auch schon probiert, den Menschen die Waffen wegzunehmen, das war noch vor dem Trojanischen Krieg. Am Ende der Eisenzeit ließen wir ihre Speere und Schwerter zerspringen wie Glas. 50 Jahre lang ging es ganz gut, sie führten keine Kriege mehr. Sie waren wild entschlossen und erfanden die Bronze. Die Menschen ließen sich keinen einzigen Tag davon abhalten, neue Waffen zu schmieden."

Ray dachte lange darüber nach, was Lin gesagt hatte. Es mußte etwas geben, das man machen konnte. Er zündete die nächste Zigarette an. Er mußte das Feuerzeug mehrmals betätigen, bis die Flamme erschien und die Zigarette anzündete. Er starrte auf das dumme Ding. Ein Gedanke schoß in sein Gehirn und nahm Formen an.

"Und was, wenn die Waffen einfach nicht funktionieren?" Er starrte immer noch auf das dumme Feuerzeug, das nicht immer funktionierte. Lin setzte sich kerzengerade auf. Sie dachte nach und ein ganzer Schwarm Jareel dachte und diskutierte die Idee.

"Es genügt ja, wenn keine Waffe mehr funktioniert," murmelte Ray. "Oder wenn die Munition unbrauchbar wird. Wenn Schußwaffen nicht mehr funktionierten, dann müssen die Menschen ihre Kriege mit Messern, Speeren und Knüppeln führen. Das ist viel zu mühsam, die Kriege wären nur mit Körperkraft zu führen, die Kriege werden kürzer und regional beschränkt."

Ray lehnte sich zurück. "Ginge das denn?" fragte er Lin. Sie schwieg lange und dachte mit dem Schwarm nach. Minuten später ergriff sie seine Hand. "Es wäre möglich, der Munition der meisten Schußwaffen die Fähigkeit zum Explodieren zu nehmen. Auch den meisten anderen Treibsätzen könnte man diese Fähigkeit nehmen. Keine Munition, keine Sprengsätze, keine Raketentreibstoffe." Lin machte eine Pause und sah Ray in die Augen.

"Es würde auch viele Nachteile geben," setzte sie fort. "Man könnte keine Raketen mehr starten, auch nicht für zivile Zwecke wie Satelliten oder Weltraumforschung. Polizei und Militär wären entwaffnet, das wäre fatal. Steinbrüche und Tunnelbauer hätten keinen Sprengstoff. Das sind einige der Probleme."

"Okay," sagte Ray, "gehen wir die Punkte einzeln durch. Raketen: die meisten dienen für den Krieg, also weg damit! Man könnte für die zivile Raumfahrt eine einzige Fabrik für Raketentreibstoff funktionell erhalten und die Abgabe strikt überwachen. Polizei und Militär: hunderte Jahre lang waren die Polizisten in England unbewaffnet, es geht also. Außerdem haben schon viele Polizisten Taserwaffen, die könnten sie nach wie vor einsetzen. Natürlich ist das sehr heikel, aber die positive Wirkung überwiegt bei Weitem. Steinbrüche gab es schon tausende Jahre vor Alfred Nobel, man muß die Produktion verändern, das ist kein hoher Preis. Tunnel konnte man schon in der Antike graben. Hochhäuser kann man auch ohne Sprengstoff abreißen. Alles in allem sehe ich gewaltige Vorteile und bewältigbare Nachteile."

"Atomwaffen stellen immer noch ein Problem dar," sagte Lin, "sie aus der Ferne zu entschärfen ist sehr, sehr schwierig bis unmöglich, darüber haben wir schon viel geforscht."

Ray überlegte nur kurz. "Berichtige mich, wenn ich etwas Falsches sage" sagte er zu ihr. "Es wird keine Raketen mehr geben, um eine Atomwaffe zu transportieren. Es wird keinen Sprengstoff mehr geben, um die Atomwaffen zu zünden. Es wird immer noch möglich sein, die Atombombe aus einem Flugzeug abzuwerfen, aber sie würde nur geringen Schaden anrichten. Eine kleine, lokal wirkende schmutzige Bombe ist zwar Scheiße, aber so führt man keinen richtigen Krieg. Ähnliches gilt für biologische und chemische Waffen, man kann sie abwerfen, aber so ein Krieg wäre nur lokal möglich. Genauso ist es mit dem Militär, man kann sie mit Knüppeln und Macheten auf den Feind loslassen, aber einen Krieg auf die altmodische Art zu führen wird schwierig sein. Und die Gewalt, die wird man wohl nie abschaffen können."

Ray blickte Lin in die Augen. "Keine Atomwaffen, keine Raketenwaffen, keine Artillerie und keine Handfeuerwaffen mehr. Das wäre als Anfang gar nicht so schlecht. Ich finde, das sollten wir tun. Das wäre ein Riesenschritt in eine bessere Zukunft. Und ja, Gewalt läßt sich nicht aus dem Menschen entfernen."

Lin zündete zwei Zigaretten an und gab ihm eine. "Heute vor dem Abendessen kann ich dir sagen, ob die Jareel das technisch hinbekommen." Sie rauchten schweigend.

"Komm," sagte Lin, schauen wir uns dein Raumschiff an, deine Wohnung ist schon fertig!" Sie ließen sich von der Kamera in das Raumschiff bringen und inspizierten die neue Wohnung. Er war begeistert. Sie lag direkt hinter der Kommandozentrale, war exquisit eingerichtet und sehr geräumig. Die Decken glitzerten und funkelten mit ihren Edelsteinen. Das Badezimmer war riesig, die Badewanne rund und raffiniert mit Massagedüsen ausgestattet. Funktionale Dusche und zwei Waschtische und ein spezieller Kasten. Lin erklärte ihm, daß es mit einer Waschmaschine vergleichbar sei, oben lagen Hand‐ und Badetücher, die man nach dem Gebrauch unten hineinsteckte. Anderntags lagen sie wieder oben, sauber und gebügelt.

Auch das Schlafzimmer war überwältigend. Auch hier eine funkelnde und glitzernde Decke, die sich abschalten ließ. Ein riesiges Bett. Die verglasten Wände reichten bis zum Boden und ließen ihn auf einen Sandstrand und das Meer hinausblicken. Lin ließ ihn staunen und sagte dann, man könne könne auf den Sandstrand hinausgehen und im Meer baden. Er blickte sie ungläubig an, doch sie ging ihm einfach voraus, ging über den Sand und bis zu den Knien ins Meer. Er folgte ihr und ergriff ihre Hand. Er fragte sie, wie das möglich sei, doch sie lachte glockenhell und meinte, das sei ein Jareel‐Hokuspokus, die er wahrscheinlich nicht verstehen würde. Sein Raumschiff hatte einen Durchmesser von 1.500 Metern, da war genügend Platz für Hokuspokus, sagte sie lächelnd zum staunenden Ray. Das Meer reichte bis zum Horizont, winzige felsige Inselchen bildeten einen natürlichen Wellenbrecher. Der Sandstrand links und rechts ging in einen lichten Palmenbestand über, wie auf einer Südseeinsel. Er konnte es nicht fassen. Sie gingen wieder zurück und der verwirrte Ray wusch sich den Sand von den Füßen. Es war echter Sand, kein Zweifel. Lin lachte glucksend, als sie nach ihm ihre Füße im Bidet wusch. "Daß es für etwas anderes gedacht ist, weißt du schon?" und lachte süß, als er den Kopf schüttelte und rote Ohren bekam, als sie es ihm ins Ohr flüsterte.

Er warf nur einen Blick in die winzige Küche, das war nicht interessant. Lin sagte ihm, daß die Küche hauptsächlich für das Geschirr da war, das Essen bestellte man und es wurde "Hokuspokus" gekocht und serviert. Sie erklärte ihm breit grinsend, gekocht würde es natürlich auf der Erde, die Jareel teleportierten das Mahl in einem Wimpernschlag zum Raumschiff. Er nickte bejahend, denn es war ihm klar, daß der Koch vergessen mußte, daß er gekocht hatte. Lin grinste von einem Ohr zum anderen. "Ich bestelle beim Koch, stiebitze das Mahl blitzschnell, bezahle ihn gut und lasse es ihn vergessen. So wird hier gekocht, mein Lieber!"

Das Esszimmer war groß und hell, dahinter lagen zwei gemütlich eingerichtete Zimmer. Dort konnte er lesen und Musik hören. Er brauchte nur ein Musikstück aufrufen und es erklang aus unsichtbaren Lautsprechern. Es gab auch einen Schreibtisch mit einem großen Bildschirm, wo er auf das Internet zugreifen konnte. Auch hier zeigten die Wände den Sandstrand und das Meer, auf der anderen Seite eine Wiese und einen Wald. "Da kann man auch hingehen," fragte er, "Hokuspokus?" Lin lächelte und nickte bestätigend. Ihr Lächeln war so bezaubernd, daß er zu ihr trat. "Der Kuss ist für die liebste Frau, die ich je kennengelernt habe!"

Er setzte sich zum Bildschirm und sagte, er wolle die New York Times sehen. Prompt erschien die Titelseite und sein Blick fiel auf das Datum. Er war schon eine Woche hier, sagte er zu Lin, die Zeit fliegt nur so dahin! Er blätterte zwei Minuten und las die Schlagzeilen, die Probleme der Welt waren unverändert. Er schaltete aus und setzte sich in einen der bequemen Fauteuils. Lin setzte sich zu ihm.

"Etwas beschäftigt dich sehr" sagte sie, "ich lese deine Gedanken nicht, weil du es nicht magst. Sagst du mir, was es ist?"

Er nickte und dachte nach, sie nahm zwei Zigaretten aus dem Holzkistchen, die überall in der Wohnung verteilt waren. Sie rauchten schweigend und Ray ordnete seine Gedanken.

"Es ist typisch für uns Menschen, daß wir bei jedem Zusammentreffen den anderen in Sekundenbruchteilen einschätzen. Das ist so, das ist in unserer DNA. Wenn beispielsweise ein Lehrer vor eine Schulklasse tritt und er ist einen Kopf kleiner als die Schüler, vielleicht noch unauffällig gekleidet, dann wird er es schwer haben, und sei er noch so gut als Lehrer." Lin nickte zustimmend.

"Und nun schau mich an. Schmal und schlank, mittelgroß, unauffälliges Gesicht, bartlos. Wenn ich einen Anzug trage, einen beeindruckend guten Anzug, dann kann ich als Anwalt auftreten. Aber niemals als Gangsterboss." Er machte eine Pause und gestikulierte in der Luft. "Wie soll ich vor die mächtigsten Menschen der Welt treten, etwa im Anwaltsanzug!?" Er starrte bekümmert aufs Meer hinaus, die Wellen beruhigten ihn ein bißchen.

Lin griff auf seinen Hinterkopf und kraulte seine Haare. Es war eine sehr liebevolle Geste. "Die Jareel können alles. Das wird keine schwierige Aufgabe. Am einfachsten wäre es, dich bei einem Treffen oder einer Fernsehansprache in jedweder Gestalt und Kleidung erscheinen zu lassen. Du mußt mir nur sagen, was du dir wünschst!"

Ray sagte, das wolle er sich gerne überlegen. Er schloß die Augen und dachte nach. Das erste, was ihm einfiel, war der Moses von Michelangelo in Rom. Einer der beeindruckendsten Männergestalten, die er jemals gesehen hatte. Doch die Hörner, die der großartige Bildhauer sicher mit Bedacht geformt hatte, stießen ihn ab. Er verwarf den Gedanken. Als zweites fiel ihm die imposante Zeus‐Statue des Bildhauers Phidias in Olympia ein. Er sprach es aus und Lin konnte seinem Gedankengang folgen. Sie sagte, das sei mit Leichtigkeit machbar. Er vertiefte den Gedanken. Wenn ein lebendiger Gott bei den Menschen erschien, dann wäre das richtig beeindruckend, selbst für ein ungebildetes Staatsoberhaupt. "Kreuze die Statuen von Moses und Zeus als muskulösen Riesen von 2 oder besser zweieinhalb Metern, lange weiße Haarlocken und langer Bart wie der Moses. Eine weiße, goldbesetzte Tunika und ein goldener Stab mit Blitz obendrauf. So in etwa." Ray sah unsicher zu Lin.

Sie lächelte und blickte ihm in die Augen. "Das ist eine leichte Aufgabe, das ist wirklich leicht machbar." Sie dachte einen Augenblick nach. "Für einen Fernsehauftritt genügt es ja, dein Bild bei der Sendung zu verändern. Aber ich kann dir das Aussehen auch dann verleihen, wenn du ein persönliches Treffen hast. Es ist nur eine Frage, ob du nur temporär oder für immer verändert werden willst!"

"Nur temporär!" antwortete Ray wie aus der Pistole geschossen. "Ich bin mit meinem Aussehen absolut zufrieden, es ist ja nur, um die Welt zu beeindrucken. Und so ein lebendiger Gott ist beeindruckend, da bin ich ganz sicher!"

Lin sagte, sie würden morgen einen Probelauf machen und dann entscheiden, wie Zeus aussehen sollte. Ray nickte zufrieden, das war ein guter Plan.

Sie gingen in die Kommandozentrale und besahen sich alles, sie war inzwischen fertig geworden. Er ging zum Schluß nochmals in den Thronsaal, er war wirklich umwerfend. Er ließ die Beleuchtung auf und abdrehen, ging durch die riesige Halle und besah sich alles ganz genau. Er bat Lin, sich auf den Thron zu setzen. Sie gurrte, ließ grinsend ihr Sommerkleid fallen und setzte sich nackt auf den Thron. Er pfiff schrill und lachte, ob nicht sie die Fernsehansprache halten wolle?

Sie verließen das Raumschiff und tranken einen Aperitif vor dem Abendessen. Lin kuschelte sich an ihn und stieß den Rauch durch die Nase aus. "Es wird gehen," sagte sie unvermittelt und Ray wußte nicht, was sie meinte. "Die Jareel können alles, sie können jede Art Munition unbrauchbar machen, Sprengstoffe und Raketentreibstoffe auch." Ray blinzelte und nickte, das war eine sehr gute Nachricht. Sie setzte fort, "sie brauchen insgesamt zwei Erdentage, um alles vorzubereiten. Der Einsatz wird keinen halben Tag dauern. Du kannst dich auf diese Angaben verlassen!"

Ray hakte nach und erfuhr von Lin, daß die Jareel alles schon auf der Erde in der Praxis ausprobiert hatten. Die Munition der Handfeuerwaffen konnte ebenso einfach lahmgelegt werden wie die Munition der Artillerie. Sie legten einige Raketen der USA und China lahm und zündeten sie. Es gab nur einen höllischen Brand in den Abschußrampen, sonst entstand kein Schaden. Ebenso gab es einige Brände in den Atomraketensilos, und damit war es möglich, die Menschheit großteils zu entwaffnen. Aber nicht in einem Wimpernschlag, es würde einen halben Tag dauern.

Ray umarmte Lin. "Das sind wunderbare Nachrichten," sagte er, "damit können wir arbeiten!"

Sie unterhielten sich noch den ganzen Abend nach dem Abendessen und feilten an dem Plan. Lin hatte gute Ideen, sie brauchten eine sorgfältige Choreografie. Fanfaren und Theaternebel am Anfang, Lin würde um den Thron schreiten und Blütenblätter streuen. Er würde seine kurze Ansprache über alle Fernsehkanäle der Welt halten, dann wieder Theaternebel und Fanfaren. Sie feilten und formulierten an seinem Text, den er zwar auswendig lernte, zur Sicherheit aber auch von einer Projektion ablesen konnte. Einige Espressos und ein Dutzend Zigaretten später gingen sie zu Bett.